Helmut Kohl ist tot – Deutschland um einen großen Politiker ärmer. „Was aber bleibt?“, lautet die Frage nach einer derart prallen Karriere erst im geteilten, dann im vereinten Deutschland. Vor allem dies: Der Ludwigshafener hat Geschichte geschrieben. Nicht indem er den Umsturz in der DDR ausgelöst hätte. Daran hat der damalige Kremlführer Michail Gorbatschow größeren Anteil. Ausgerechnet der Mann, den Kohl 1986 mit dem Nazi-Hetzer Joseph Goebbels verglichen hatte. Was für eine Fehleinschätzung!
Nein, Kohls Umgang mit einer historisch einzigartigen Chance war aller Ehren wert. Mit seinem Zehn-Punkte-Plan zur stufenweisen Vereinigung arbeitete der „Kanzler der Einheit“ diplomatisch ebenso energisch wie geschickt auf die schnelle Umsetzung hin. Denn vor allem die labile Sowjetunion drohte zum „Njet“-Sager zu werden. Daher wird die deutsche Einheit für immer mit dem Pfälzer verbunden bleiben. Dass Kohl dabei die finanzielle Dimension unterschätzte, steht auf einem anderen Blatt. Der vom Krieg geprägte promovierte Historiker musste ein geeintes Deutschland als alternativlos einstufen – koste es, was es wolle. Warnungen vor einem zu großzügigen Umtauschkurs von Ost- zu D-Mark ließ er nicht gelten: Kohl entschied politisch, nicht ökonomisch. Und für die Erfüllung eines jahrzehntelang beschworenen nationalen Ziels.
Angetreten war Kohl 1982 mit dem Anspruch auf eine „geistig-moralische Wende“. Ein leerer Begriff, wie sich zeigte. Etwa als seine Koalition aus Union und FDP eine Amnestie für Parteispender durchpauken wollte. Oder als Kohl 1985 mit US-Präsident Ronald Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg besuchte, auf dem auch SS-Leute beigesetzt waren. Die Geste der Versöhnung ging daneben.
Dagegen hat Kohl die Europäische Union und den Euro entschieden vorangetrieben. Dahinter steckten seine Bedenken, die „bösen Geister in Europa seien noch nicht auf alle Zeit besiegt“. Wer an Griechenland, Flüchtlingspolitik oder Brexit denkt, wird Kohls Vision bestätigt sehen. Behutsam baute er Beziehungen zu Staaten auf, deren durch den Nationalsozialismus zugefügte Wunden noch nicht verheilt waren.
Rekordkanzler, ein Vierteljahrhundert CDU-Chef: Kohl erteilte allen Spöttern eine Lehre, die seine feste Verwurzelung in der Kurpfälzer Heimat mit Hinterweltlertum verwechselten. Auch wenn er kaum charismatisch daherkam, war Kohl eben nicht der tumbe Tor, als den ihn seine Gegner verleumdeten. Zudem steckte in ihm ein ungeheurer Machtwille. Der Mann war nicht zu bremsen, weder von CSU-Chef Franz Josef Strauß noch von CDU-internen Gegenspielern wie Heiner Geißler oder Lothar Späth. Was man heute bestens vernetzt nennen würde, erledigte Kohl in der analogen Zeit durch Telefonkontakte zur Funktionärsebene der CDU. Welche Machtposition er in seiner Hochphase besaß, geriet allzu leicht in Vergessenheit, weil Kohl seit seinem Sturz 2008 nicht mehr laufen und nur schwer verständlich sprechen konnte.
Der glänzenden Karriere fehlt aber der krönende Abschluss. Dass Kohl 1998 die Wahl verlor, beruht auf den typischen Fehlern eines Mannes, der sich für unschlagbar hielt, zu keinen Reformen mehr aufraffte und es verpasste, einem Jüngeren Platz zu machen. Wolfgang Schäuble wäre der bessere Kanzlerkandidat gewesen.
Die CDU war Kohls Familie, er über Jahrzehnte ihr Übervater. Die von ihm mit der Spenden-Affäre verursachte Distanz zur CDU hat ihn getroffen. Für einen Staatsmann seiner Größe unpassend, hat er sich in dem Skandal dennoch beharrlich über Recht und Gesetz hinweggesetzt. Darüber steht jedoch die Leistung eines Politikers, der Deutschland und Europa entscheidend geprägt hat.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Großer Staatsmann
Stephan Töngi bewertet die politische Lebensleistungdes verstorbenen Altbundeskanzlers Helmut Kohl.