Der Krieg in der Ukraine scheint sich einem so einschneidenden wie entscheidenden Moment zu nähern. Kiew erwartet eine russische Frühjahrsoffensive und die Sorgen darüber sind offenbar so groß, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nach dem Trip in die USA Ende vergangenen Jahres eine weitere Auslandsreise riskierte – oder eher riskieren musste. Denn die Aussichten sind düster ohne die weitere Unterstützung der europäischen Verbündeten.
Während des zweitägigen Besuchs in London, Paris und zuletzt Brüssel war seine Botschaft klar: Die Europäer und die kriegsgebeutelten Ukrainer bilden eine Schicksalsgemeinschaft. Deshalb beschreibt Selenskyj den Kampf gegen den Feind im Kreml nicht nur als eine Frage des Überlebens der eigenen Bevölkerung. Er knüpft Sieg oder Niederlage der Ukraine an die Existenz der freien Welt. Das macht er geschickt. Der Ukrainer hat die Fähigkeit, an die Psyche der Gemeinschaft zu appellieren, indem er emotionale Worte wählt, die Solidarität beschwört und sowohl den Politikern als auch den Bürgern auf bewegende Weise für ihre Unterstützung dankt.
Zwar blieben wie erwartet neue Zusagen aus – hier ging es um Symbolpolitik. Aber auch die hat ihren Wert. Denn Selenskyj weiß um die Gefahr einer Kriegsfatigue im Westen. Während die Ukrainer den düsteren Alltag leben und durchleiden, buhlen in den europäischen Hauptstädten Innenpolitik, Fußball, gestiegene Energiepreise und Erdbeben-Folgen um die Nachrichtenagenda. Die Aufmerksamkeit der Welt lässt nach, die Abstumpfung nimmt zu. Und so versucht der Kommunikationsmeister Selenskyj mit eindrücklicher Rhetorik, die Schrecken des Kriegs ein Jahr nach der Invasion in den Köpfen der Bevölkerungen von Berlin über Dublin und Madrid bis nach Valletta präsent zu halten. Führung durch Sichtbarkeit.
Auch wenn es an neuen Zusagen mangelte, die Bilder sind mächtig. Sie tragen eine Botschaft, die er hoffentlich auch als Aufmunterung an seine Bevölkerung und insbesondere die Soldaten mitnehmen kann: Die Ukraine hat schon jetzt im Kreis der Gemeinschaft ihren Platz gefunden. Gleichwohl redete er auch dieses Mal von einem Sieg, ohne genau zu definieren, welche geografischen Grenzen ein solcher umfassen würde. Konkreter wurde er bei dem Wunsch, noch dieses Jahr die EU-Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Der Traum ist nachvollziehbar. Die Ukrainer verteidigen die Freiheit, Demokratie und die europäischen Werte im russischen Bombenhagel.
Doch Mitgefühl ist in der Frage nach einem EU-Beitritt kein guter Ratgeber. Dass sich die Mitgliedstaaten mit Versprechen von konkreten Zeitplänen zurückhalten, ist richtig. Besser wäre noch, nicht ständig allzu hohe Erwartungen in Kiew zu schüren, die die EU nicht erfüllen kann – und auch nicht erfüllen darf. Obwohl es sich um eine Sondersituation handelt, sollte sich die Union nicht von den strengen Beitrittskriterien verabschieden. Es gibt einen guten Grund, warum das Verfahren so kompliziert und langwierig ist.
Zu den Kriterien gehören unter anderem Rechtsstaatlichkeit und Wirtschaftsreformen, die für eine Anpassung an den Binnenmarkt sorgen sollen. Hinzu kommt, dass Korruption, Oligarchie und teils mafiöse Strukturen bislang zum Alltag gehörten. Die Ukraine mag auf beeindruckende Weise Fortschritte erzielt haben, auch noch unter Kriegsbedingungen. Aber es liegt ein langer Weg vor dem Land, bis es den Ansprüchen einer EU-Mitgliedschaft gerecht wird.
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Für die Ukraine liegt ein langer Weg vor der EU-Mitgliedschaft
Katrin Pribyl hält es für richtig, dass die EU trotz des Krieges auch bei der Ukraine an ihren strengen Beitrittskriterien festhält