Man kennt das noch aus den Zeiten der Sowjetunion: Politische Abweichler, auch Dissidenten genannt, wurden in der offiziellen Propaganda gern als geistig minderbemittelt, ja unzurechnungsfähig dargestellt, um sie zu diskreditieren und deren Bedeutung herunterzuspielen. Gegen Alexej Nawalny, der im August mit dem in Russland entwickelten chemischen Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet werden sollte, funktioniert dieser Reflex bis heute. Der Oppositionelle gilt dem Kreml als „kranker“ Mann, als ein Mensch mit „Verfolgungswahn“.
Dabei mutet das jüngst bekannt gewordene Video von einem Telefonat Nawalnys mit einem mutmaßlichen Agenten des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB im ersten Moment tatsächlich wie eine Räuberpistole an. Nur machte der angerufene, angebliche FSB-Mann dabei keine gute Figur. Spätestens nach diesem Vorgang hätte Kreml-Chef Wladimir Putin eine akribische Untersuchung zur Aufklärung des Anschlags einleiten müssen.
Stattdessen verhängt Moskau nun Einreisesperren für deutsche Regierungsvertreter und Politiker aus anderen EU-Staaten, die schon im November als Reaktion auf europäische Sanktionen angekündigt worden waren. Ein sehr durchsichtiges Spiel, das von der jüngsten Entwicklung im Fall Nawalny ablenken soll. Nach wie vor bestreitet Putin jegliche Verbindung seines Landes zu dem Attentat. Das freilich ist nun noch unglaubwürdiger geworden. Der Einsatz von Nowitschok ist ein klarer Verstoß gegen die UN-Chemiewaffenkonvention. Auch darüber kann Russlands aktuelle Reaktion nicht hinwegtäuschen.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Durchsichtiges Spiel
Stefan Vetter zu Russlands Verhalten im Fall Nawalny