Zum Journal „Früher war mehr Sombrero“ vom 17. Mai:
Werte Frau Ball, Ihr Artikel lässt einen vor ungläubigem Erstaunen fast die Tasse Kaffee am Morgen aus den Händen fallen. Um es kurz zu machen, vielleicht können Sie mir erklären, was die Problematik von sogenannten „klischeehaften Kostümen“ sein soll. Ich weiß es jedenfalls nicht. Glauben Sie allen Ernstes, dass sich irgendwer auf dieser Welt beleidigt fühlt, weil hier bei uns „klischeehafte“ Kleidungstücke zur allgemeinen Unterhaltung verwendet werden?
Glauben Sie tatsächlich, dass sich Mexikaner durch das Tragen eines Sombreros in seiner Ehre angegriffen sieht? Glauben Sie echt, dass sich die Jamaikaner durch das Nachspielen der Reggae-Musik durch weiße Musiker beleidigt fühlen? Und so weiter und so fort.
Wie beurteilen Sie eigentlich die ungefragte Übernahme der europäischen Klassik (Bach, Beethoven und so weiter) durch die Asiaten? Da vornehmlich durch die Japaner. Die das nach allgemeiner Meinung der Klassikliebhaber sehr gut und gekonnt machen. Müssen wir Europäer uns jetzt dadurch beleidigt fühlen? Von der Pop- und Rockmusik mit ihrer vielfältigen gegenseitigen Befruchtungen ganz abgesehen.
Dieser „Cancel Culture“ ist ausgemachter Quatsch. Auf sowas kommen doch nur Leute, die sonst keine Sorgen haben. Zum Schluss noch eine kleine Randbemerkung: Achtung, Achtung, auf Ihrer Strecke kommt Ihnen ein Geisterfahrer entgegen. Einer? Nee, hunderte! Auf wen das wohl zutreffen mag? Dreimal dürfen Sie raten.
Da ist er schon wieder, der belehrende, erziehende, pädagogisierende– der kränkende? – Journalismus. Frau Ball macht mit Großbuchstaben deutlich, sie ist sich sicher, auf der rechten Sache zu stehen. Offenbar sieht sie sich als Teil einer neuen aufgeklärten, wissenden, erleuchteten Gruppe von Menschen, die anderen den Vorwurf machen darf, immer nur das Falsche gemacht zu haben und zu tun. Leider unterscheidet Frau Ball nicht zwischen Verwerflichkeit aus sachlichen Gründen oder aus ideologischem Wollen heraus.
Ja, es wurde zu viel akzeptiert und zu oft weggesehen und Hierarchien zu selten hinterfragt und diese Hierarchien von den Aufsichtsinstanzen viel zu oft gestützt und am Leben erhalten. Aber das macht heute weder den Sarotti-Mohr, noch die Kostümierung einer Tanzgruppe von Seniorinnen zum Wahrzeichen einer beharrenden Intoleranz. Man kann auch ohne das ständige Herausholen und Anwenden von Moralkeulen und Gendersternchen liberal und tolerant sein.
Und, ja, die Frage muss in der, Zitat: „Diskurs-Kultur“ erlaubt sein, ob eine Generation von selbst ernannten Tugendwächtern aus jeder Mücke einen Elefanten machen muss und darf und ob sie, nur weil sie meint, auf der richtigen Seite zu stehen, vorschreiben darf, was andere in bestimmten Situationen zu tun und zu denken haben.
Die Moralkeulen sind fast schon ein neuer Katechismus einer neuen Religion und haben langsam aber sicher den Charakter der Zehn Gebote. Und nicht von ungefähr geistern in grünen Zirkeln schon Begriffe wie beispielsweise „Klima-Dirigismus“! Verbote und Denkgebote sind Züge einer autokratisch orientierten Gesellschaft und nicht der einer demokratischen. Etwas mehr Dialektik würde die geforderte und sicherlich auch notwendige Diskurs-Kultur wohltuend bereichern.
Ein Problem liegt meines Erachtens in einer politischen Wirklichkeit, die selbst ausgrenzt und nicht in der Lage ist, die Vielfalt der Meinungen zu akzeptieren. Wenn ich darauf hinweise, dass eine gewählte AfD regelrecht ausgegrenzt wird, könnte ich schon in den Verdacht kommen, AfD-Wähler zu sein und mir damit einen Makel attestieren, der mich selbst ausgrenzt.
Im Zuge des Politikwandels, im politischen Tagesgeschäft und zunehmend in den Institutionen, wurden Ausgrenzung und Unsagbarkeit in die Gesellschaft getragen, um eigene politische Positionen zu verdeutlichen und die andere Meinung möglichst zu neutralisieren. Die postmoderne „Cancel Culture“ bot Starthilfe, da sie alles Abweichende als abwegig deklariert und damit den Startschuss gab, Andersdenkende auszugrenzen. Bildung von Meinungsblasen wurde so gefördert. Jetzt die Bürger zu markieren, die vielleicht nicht das ausreichend sprachliche Rüstzeug haben, ihr Anliegen widerspruchsfrei zu erklären, greift eindeutig zu kurz. Ein Blickwinkel ist zu eng, wenn er nicht ausreichend die geringen Mitwirkungsmöglichkeiten der Menschen im Alltag berücksichtigt. Frustrationen sind oft die Folgen.
Zudem hat das Beharrungsvermögen vieler Bürger, das offensichtlich negativ bewertet wird, in der Demokratie eine wichtige stabilisierende Wirkung, da es eine geordnete, entschleunigte Veränderung erst ermöglicht. Der Ukas von Robert Habeck, was die Heizung anbelangt, zeigt allein in diesem technischen Bereich, woran es in der Politik fehlt: Der Bürger ist, mit seinen Alltagsmöglichkeiten, absolut aus dem Blickfeld geraten.
Als Betroffene können wir feststellen, dass mit dem ausgegrenzten Politgegner auch der Bürger selbst, wieder einmal, zu einer Gruppe erklärt wird, die, auf dem Weg zu dem einzig richtigen Leben, im Wege steht. Demokratie muss sich dem Wandel stellen. Wer entscheidet aber, dass Meinungsvielfalt und ihre Grenzen erhalten bleiben und nicht Tabuisierung überhandnimmt, die zu weiteren Ausgrenzungen führt?
Info: Originalartikel unter https://bit.ly/43fAJWK