Manch einer denkt, ökologische Landwirtschaft und gutes Essen seien Luxusthemen für gut situierte Ökobürger. In schwierigen Zeiten müsse man sich in der Politik um Wichtigeres kümmern. Aber bei der Agrarwende geht es nicht um Gourmet-Essen und Lifestyle-Fragen. Es geht um die nachhaltige Nutzung der begrenzten Ressourcen unseres Planeten. Es geht um die Zukunft unserer Nahrung, der Lebens-Mittel - im buchstäblichen Sinne. Ob uns die Welt auch künftig noch ernähren kann.
Die Frage, wie wir heute und in Zukunft Landwirtschaft betreiben, ist eine der zentralen Menschheitsfragen. Es geht darum, unsere elementaren Lebensgrundlagen zu erhalten: unser Klima, unsere Tier- und Pflanzenarten, unsere fruchtbaren Böden, unser Wasser. Wenn wir so weitermachen wie bisher, zerstören wir diese Lebensgrundlagen. Wasser wird knapp, Böden werden unfruchtbar, immer mehr Regionen leiden unter Dürre. Auch als Folge der industriellen Landwirtschaft von heute. Das wird in Zukunft noch viel mehr Menschen dazu bringen, ihre Heimat zu verlassen.
Es gibt in Deutschland viele Leute, die meinen, ökologisch seien wir schon auf einem guten Weg. Ja, es wurde Wichtiges erreicht. Beim Thema Waldsterben, beim Atomausstieg, bei der Energiewende. Aber von einer ökologisch nachhaltigen und gerechten Entwicklung sind wir auch hier bei uns weit entfernt. Wir Menschen verursachen zurzeit die größte Aussterbekatastrophe seit dem Verschwinden der Dinosaurier.
Artensterben - das klingt für viele erst mal nach einem Problem, das es hier in Deutschland gar nicht so gibt. Man denkt vielleicht eher an die letzten überlebenden Breitmaulnashörner. Oder an Wilderei und Jagd auf seltene Tiere wie den Löwen Cecil, der auf einer sinnlosen Safari getötet wurde. Man denkt an die japanischen Walfangflotten, an hungernde Eisbären, die wegen des Klimawandels ihren Lebensraum verlieren und kaum noch Futter finden.
Doch auch hier vor Ort geht das Artensterben voran - nur auf den ersten Blick weniger sichtbar. Der Kiebitz oder der Feldhamster taugen nicht so gut als Kampagnensymbole. Aber sie sind genauso wichtig für die Stabilität unserer Natur.
Im letzten Jahr wurde erstmalig ein offizieller Artenschutz-Bericht für Deutschland vorgestellt. Die Zahlen sind alarmierend: Jede dritte Tier-, Pilz- und Pflanzenart ist in Deutschland gefährdet. Und das hier, vor unserer Haustür. Hauptursache für das Artensterben ist die industrielle Landwirtschaft mit ihren Pestiziden, Monokulturen und ihrer Überdüngung.
Die zunehmend industrialisierte Landwirtschaft beansprucht enorme Areale auf diesem Planeten, weltweit mehr als ein Drittel der gesamten Landfläche. In Deutschland wird sogar auf mehr als der Hälfte des Landes Landwirtschaft betrieben. Die Industrialisierung der Landwirtschaft verändert die Landschaftsstruktur. Sie zerstört wichtige Lebensräume für Tiere und Pflanzen. In Monokulturlandschaften finden Wildtiere keine Möglichkeiten zum Rückzug mehr. Überdüngung schadet den Lebensräumen im Wasser und auf Wiesen. Und der Einsatz von mehr als 100 000 Tonnen Ackergiften jährlich tut sein Übriges.
Auch bei der Klimakrise sind wir national ebenso wie international meilenweit davon entfernt, diese existenzielle Bedrohung für uns Menschen abzuwenden. Durch den enormen Ausstoß klimaschädlicher Gase wie CO2, Methan und Lachgas heizen wir unser Klima an. Momentan sind wir voll auf Kurs zu einer Erderwärmung von durchschnittlich vier Grad Celsius bis 2100.
Schon heute jagt ein Hitze-Rekord den nächsten. Die Folgen von Extremwetterlagen spüren wir auch hier. Wir brauchen uns nur an die beiden Jahrhundertfluten 2002 und 2013 zu erinnern. Ich habe im Juni 2013 in Deggendorf an der Donau selbst gesehen, wie verzweifelt die Menschen waren, als die Dämme brachen, die Wassermassen ganze Landstriche verwüstet haben.
Der Klimawandel ist eben nicht nur ein Problem, das andere betrifft. Er findet auch direkt vor unserer Haustür statt. Die Landwirtschaft spielt beim Kampf gegen den Klimawandel eine Schlüsselrolle. Bis zu einem Drittel der weltweiten Treibhausgase stammen aus diesem Sektor. Besonders klimaschädlich ist die Tierhaltung, die rund 15 Prozent der globalen Treibhausgase verursacht. Fleisch ist damit um ein vielfaches klimaschädlicher als andere Lebensmittel. Wer Klimaschutz in der Landwirtschaft ernst meint, muss die Tierhaltung ökologischer gestalten und die Dumping-Fleischproduktion beenden.
Die industrielle Massentierhaltung wirkt sich auch auf unser Trinkwasser aus. Wasser ist das Lebensmittel Nummer eins. Ohne Wasser kein Leben. Jeder, der schon einmal in Regionen gereist ist, wo sauberes Trinkwasser nicht überall verfügbar ist und man teilweise aufwendig filtern oder aus Plastikflaschen trinken muss, weiß, wie wertvoll gutes Wasser sein kann. Schon lange schlagen Umweltverbände, Wasserwerke und Bundesbehörden bei uns Alarm. Unser gutes Wasser wird schlecht, weil zu viel Pestizide und Dünger - vor allem Gülle - auf unsere Felder gekippt werden. Die rund 830 Millionen Tiere, die in der Fleischfabrik Deutschland jedes Jahr gemästet und geschlachtet werden, verursachen eine gigantische Gülleflut von 160 Millionen Kubikmeter pro Jahr. Würde man diese Menge in einen Güterzug verladen, würde dieser mehr als einmal den ganzen Globus umspannen.
Viele industrielle Mastbetriebe besitzen längst nicht mehr die notwendigen Böden, um die ganze Gülle nachhaltig auszubringen. Der übermäßige Stickstoff aus der Gülle gerät in Form von Nitrat in unser Wasser. Das Grundwasser in Deutschland ist mittlerweile so stark mit Nitrat belastet, dass Umweltexperten in diesem Zusammenhang von einem der großen ungelösten Umweltprobleme sprechen, vor denen wir stehen. Deutschland hat - mit Ausnahme von Malta - die höchste Nitratkonzentration in ganz Europa.
Die Hälfte aller Messstellen in Deutschland zeigt erhöhte Nitratkonzentrationen im Grundwasser. Regionen wie Niedersachsen und Teile Nordrhein-Westfalens, in denen viele Tiere gehalten werden, sind stark belastet. In der Ostsee gibt es aufgrund der Nährstoffüberschüsse riesige tote Zonen, insgesamt so groß wie Bayern, in denen kaum noch Lebewesen existieren.
Wir dürfen die Grenzen unseres Planeten nicht weiter strapazieren. Intakte Ökosysteme sind für uns Menschen existenziell. Funktionierende Ökosysteme sind die Voraussetzung für den Anbau von Lebensmitteln, intakte Bäche und Auen reinigen das Wasser und schützen uns vor Hochwasser, intakte Wälder schützen den Boden vor Erosion, bauen Nitrate ab und binden Kohlenstoff. Als Biologe vergleiche ich die komplexen Ökosysteme häufig mit einem dichten Netz. Ein Netz, das uns und unsere Zivilisation trägt. Ein Netz, in dem jede Art ein einzelner Knoten ist und jeweils mit anderen verknüpft ist. Doch mit jeder Art, die verschwindet, die wir von diesem Planeten ausradieren, verlieren wir einen Knoten. Maschen hängen nur noch in der Luft. Das Netz, das uns trägt, wird schwächer - bis es irgendwann zu reißen droht. Wir Menschen brauchen dieses Netz und müssen es schützen, um uns zu schützen.
Anders als zum Beispiel bei der Energiepolitik gibt es bei der Landwirtschaft keinen Trend zum Besseren. Seit die CSU das Landwirtschaftsministerium besetzt, treten unfähige Politiker und Lobbyisten der Agrarindustrie bei drängenden Fragen immer wieder auf die Bremse und verhindern Verbesserungen. Stattdessen setzen sie auf ein weiteres Wachsen der Fleischfabrik Deutschland. Die Bäuerinnen und Bauern haben jedoch nichts davon. Das rasante Höfesterben, das wir seit Jahren erleben, geht weiter.
Wir brauchen einen neuen Wertekompass für unsere Lebensmittelproduktion. Eine Landwirtschaft, die mit der Natur arbeitet und nicht gegen sie. Eine Agrarwende hin zu einer Landwirtschaft, von der Verbraucherinnen und Verbraucher ebenso wie Bäuerinnen und Bauern profitieren. Das funktioniert durch einen Dreiklang aus klaren Gesetzen, kluger Förderung und transparenter Kennzeichnung von Lebensmitteln. Sie sind nötig, damit es den Tieren besser geht, damit unsere Landwirtschaft ökologischer und gerechter wird und Lebensmittel bezahlbar bleiben. Eine Agrarwende ist möglich. Und sie ist nötig. Hier in Deutschland können wir zeigen, wie es geht.
Anton Hofreiter
Anton "Toni" Hofreiter (Bündnis 90/Die Grünen) ist seit der Wahl im September 2005 Mitglied des Deutschen Bundestags.
Er wurde am 2. Februar 1970 in München geboren. Schon als Jugendlicher engagierte er sich für den Naturschutz.
Während seiner Forschungstätigkeit hat sich der promovierte Biologe mit der Artenvielfalt in den südamerikanischen Anden befasst.
Im Deutschen Bundestag ist der Biodiversitäts-Forscher Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung sowie stellvertretender Sprecher des Fraktions-Arbeitskreises II "Umwelt & Energie, Verbraucher & Agrar, Verkehr & Bau, Tourismus & Sport".
Seit Oktober 2013 ist er Vorsitzender der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag.
Im Juni erschien sein Buch "Fleischfabrik Deutschland" im Riemann Verlag. ls
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