"MM"-Debatte

Woran scheitert Integration in Deutschland, Herr Merey?

Der Journalist Can Merey ist überzeugt: Viele Deutschtürken wählen Erdogan, weil sie sich in der Bundesrepublik nicht anerkannt fühlen. So hat das auch sein Vater erlebt. Ein Gastbeitrag.

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Can Merey
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Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan, hier bei einer Demonstration in Köln. © dpa/Tolga Bozog˘lu

Kürzlich meldete sich Joachim Gauck in der „Bild“-Zeitung zum Dauerthema Integration zu Wort. Der Alt-Bundespräsident nannte es „nicht hinnehmbar“, dass Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, die Sprache nicht sprechen. Und Gauck sagte: „Wir erwarten von denen, die zu uns kommen, dass sie bereit sind, das Land, wie es gewachsen ist, und seine Werte zu akzeptieren. Es darf da keine falsche Rücksichtnahme geben, weil man fürchtet, als Fremdenfeind zu gelten.“

Natürlich gibt es Ausländer, die sich nicht integrieren wollen. Gauck hat aber nur eine Seite der Integrationsproblematik beleuchtet. Auf den zweiten Aspekt, der aus meiner Sicht eine ebenso große Rolle spielt, ist er nicht eingegangen: Dass die Mehrheitsgesellschaft sich schwer damit tut, Menschen mit fremdländischen Wurzeln als gleichwertig anzuerkennen – und zwar auch dann, wenn diese Menschen alles tun, sich in Deutschland zu integrieren. Zu diesen Menschen gehört mein Vater Tosun Merey (78), der einst aus der Türkei kam.

Tosun stammt aus einer Istanbuler Fabrikantenfamilie, jahrzehntelang hat er versucht, in Deutschland heimisch zu werden. Im Herbst 1958 kam er das erste Mal nach Deutschland – noch vor den Gastarbeitern. Tosun studierte in München und heiratete Maria, eine geborene Obergrußberger, die von einem bayerischen Bauernhof stammt. Die beiden gründeten eine Familie, in der nur Deutsch gesprochen wurde. Tosun wurde Manager in einer deutschen Firma und deutscher Staatsbürger. Er begann, auf Deutsch zu träumen, sogar sein Gaumen passte sich deutschen Gepflogenheiten an: Er entwickelte eine Vorliebe für Schweinebraten und Weißbier.

Die vielen Anforderungen, die heute an Ausländer gestellt werden, damit sie sich in die Gesellschaft integrieren, hat Tosun schon vor Jahrzehnten übererfüllt. Dennoch steht mein Vater an seinem Lebensabend vor der bitteren Erkenntnis: Sein Versuch, in Deutschland eine neue Heimat zu finden, ist gescheitert. „Das Schlimme ist, immer wieder vermittelt zu bekommen, als Mensch weniger wert zu sein“, sagt er. Mit dem Gefühl, nur Bürger zweiter Klasse zu sein, ist Tosun unter den Zuwanderern aus der Türkei nicht alleine. In einer Erhebung aus dem Jahr 2016 stimmten 54 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Egal, wie sehr ich mich anstrenge, ich werde nicht als Teil der deutschen Gesellschaft anerkannt.“

Ein ähnliches Gefühl hat bei vielen Deutschtürken die Debatte um Mesut Özil, Ilkay Gündogan und deren Foto mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ausgelöst. Irritiert waren über diese extrem hitzig geführte Diskussion auch Deutschtürken, die nichts für Erdogan übrig haben. Der SPD-Bezirksverordnete Orkan Özdemir aus Berlin-Schöneberg schrieb in einem frustrierten Facebook-Post: „,Deutsch-Sein’ ist ein Privileg, welches uns stets und jederzeit entrissen werden kann. Ganz egal, ob wir Fehler gemacht oder einfach eine andere Meinung haben. Das Zeichen in die deutschen Diaspora-Communities ist verheerend. Die Message: Ihr gehört nur dazu, solange ihr uns nützt, nichts fordert und der deutschen Nation dient.“

Von der von Gauck beschworenen „falschen Rücksichtnahme“ aus Angst davor, als Fremdenfeind gelten zu können, merke ich in diesen Tagen wenig. Ganz besonders gilt das für die AfD, die das Gefühl der Ausgrenzung bei Deutschtürken verstärkt, wo immer sie eine Chance sieht. So sagte etwa der AfD-Politiker André Poggenburg im Februar: „Diese Kameltreiber sollen sich dorthin scheren, wo sie hingehören, weit, weit, weit, hinter den Bosporus, zu ihren Lehmhütten und Vielweibern. Hier haben sie nichts zu suchen und zu melden.“

Tosun hat in seinem Berufsleben bei einer deutschen Firma erlebt, dass Kollegen nicht unter ihm arbeiten wollten, weil er aus der Türkei stammt. Meinem Bruder wurde einst ein Kindergartenplatz verwehrt, weil er nicht „reinrassig“ ist. Das ist lange her, aber auch heute noch gibt es Diskriminierung: Menschen mit türkischen Namen haben statistisch nachweisbar schlechtere Chancen, eine Ausbildungsstelle, einen Job oder eine Wohnung zu finden. Ich selbst wurde mehrfach für mein Deutsch gelobt. In der Tat spreche ich sehr gut Deutsch: Es ist meine Muttersprache, mit der ich als Journalist noch dazu meinen Lebensunterhalt verdiene.

Diese von vielen Deutschtürken so empfundene Ausgrenzung führt zu einem Teufelskreis: Sie trägt dazu bei, dass Erdogan bei Wahlen in der Bundesrepublik so gut abschneidet – was wiederum zu der Debatte führt, ob Türken, die für Erdogan stimmen, überhaupt zu Deutschland gehören können. Bei der Präsidentenwahl am vergangenen Sonntag kam Erdogan auf fast zwei Drittel der Stimmen in Deutschland – und damit auf ein viel besseres Ergebnis als in der Türkei selbst.

Bei diesem Wahlergebnis lohnt es sich allerdings, genauer hinzuschauen. Knapp drei Millionen Menschen mit türkischem Hintergrund leben in der Bundesrepublik, viele davon haben nur die deutsche Staatsbürgerschaft. 1,44 Millionen Türken in Deutschland waren wahlberechtigt, davon stimmte nur etwa die Hälfte ab. In absoluten Zahlen entfielen auf Erdogan etwas mehr als 420 000 Stimmen. Das ist zwar eine beachtliche Zahl. Dass fast zwei Drittel der Deutschtürken Erdogan-Anhänger sind, wie es oft verkürzt dargestellt wird, gibt das Ergebnis allerdings nicht her.

Ich bin davon überzeugt, dass viele dieser Stimmen für Erdogan ein Votum gegen die Zustände in Deutschland, gegen die Ausgrenzung sind. Eine Protestwahl also, womöglich unterscheiden sich Erdogan-Wähler in diesem Punkt gar nicht so sehr von Unterstützern der AfD. Auch mein Vater Tosun wählte lange Zeit Erdogan. Und auch bei ihm spielte das Gefühl, in Deutschland nicht als gleichwertig akzeptiert worden zu sein, dabei eine Rolle. Als ich im Juni 2013 als Korrespondent der Deutschen Presse-Agentur (dpa) nach Istanbul kam, begannen die Diskussionen mit meinem Vater über Erdogan, die schnell in Streit ausarteten – und die dazu führten, dass ich später ein Buch über Tosuns Geschichte schrieb. Ich konnte nicht verstehen, dass jemand wie er, der in Deutschland Grüne oder SPD wählt, in der Türkei für Erdogan stimmen kann. In einem unserer Gespräche für das Buch sagte mein Vater den bezeichnenden Satz: „Erdogan hat mir meinen Stolz zurückgegeben.“ Ich glaube, dass vielen Deutschen das Verständnis dafür fehlt, wie lädiert das Selbstwertgefühl der Deutschtürken ist.

Mein Vater hat inzwischen mit Erdogan gebrochen, weil er ihm zu autoritär geworden ist. Tosun hat allerdings auch die Hoffnung aufgegeben, sich jemals als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft in Deutschland zu fühlen, selbst wenn er immer noch oft dort ist: Er und meine Mutter Maria pendeln zwischen Bayern und Istanbul. Tosun nennt Deutschland heute seine „enttäuschte Liebe“. Und er sagt, er sei Türke, nicht Deutscher, wenn man ihn danach fragt. Ganz anders verhält sich das bei Tosuns Schwester, die vor ihm zum Studium in die USA ging und dort blieb: Sie sieht sich schon lange als Amerikanerin.

Die USA waren schon immer ein Einwanderungsland, Deutschland ist zu einem geworden. Ich glaube, das sollte als Chance, nicht als Bedrohung begriffen werden: Fähigkeiten, die Menschen wie mein Vater mitbringen, können Deutschland bereichern. Um allerdings auch das klar zu sagen: Wer als Ausländer die freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnt, wer schwere Straftaten begeht, während er gleichzeitig die Vorzüge der Bundesrepublik genießt, der hat aus meiner Sicht hier nichts verloren. Und wer sich nicht selber um seine Integration bemüht, der muss sich nicht wundern, wenn er seinen Platz in der Gesellschaft nicht findet.

Ziel muss aus meiner Sicht sein, dass Deutschtürken sich in erster Linie als Deutsche und erst danach als Türken fühlen, dass sie Frank-Walter Steinmeier und nicht Recep Tayyip Erdogan als ihren Präsidenten sehen. Voraussetzung dafür ist, dass ihnen das Gefühl vermittelt wird, gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft zu sein. Dabei ist einerseits die Politik gefragt: Dass nicht nur kein einziges Kabinettsmitglied, sondern nicht einmal die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung einen Migrationshintergrund hat, ist kein Signal in diese Richtung. Vor allem aber muss es zu einem Umdenken in der Mehrheitsgesellschaft kommen. Wenn Deutsche mit türkischen Namen die gleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, wenn sie bei der Wohnungssuche nicht mehr diskriminiert werden, kurz: Wenn die Herkunft ihrer Vorfahren irgendwann keine Rolle mehr spielt, dann ist dieses Ziel erreicht.

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Can Merey

  • Can Merey wurde 1972 in Frankfurt als Sohn eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren. Der Job des Vaters führte die Familie unter anderem nach Teheran, Singapur und Kairo.
  • Nach dem Studium der Sozialarbeit in Aachen wechselte Can Merey in den Journalismus. Von 2003 bis 2013 war er Südasien-Büroleiter der Deutschen Presse-Agentur (dpa) mit Sitz in Neu Delhi. Im Zentrum der Berichterstattung stand der eskalierende Konflikt in Afghanistan.
  • Pünktlich zu den Gezi-Protesten und dem Beginn der deutsch-türkischen Spannungen wechselte er 2013 nach Istanbul, dort war er bis Ende Juni dpa-Büroleiter für den Nahen Osten mit Schwerpunkt Türkei-Berichterstattung. Vom 1. Juli an ist er Büroleiter der dpa für Nordamerika mit Sitz in Washington DC.
  • Vor kurzem ist sein Buch „Der ewige Gast. Wie mein türkischer Vater versuchte, Deutscher zu werden“ bei Blessing erschienen.

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