Übertherapie heißt unser Grundproblem. Eigentlich könnten wir sehr moderate Krankenkassenbeiträge haben, wenn ausschließlich Behandlungen mit nachgewiesenem Patientennutzen erfolgen würden. Zunehmend unbezahlbar werden die Prämien nur durch eine Epidemie überflüssiger Therapien. Keine der endlosen Abfolgen von Reformen und Reförmchen kann die Gesundheit der Bevölkerung verbessern und die Kostensteigerungen einbremsen, solange nicht Mechanismen installiert werden, die unnötige Behandlungen und überhöhte Kosten verhindern. Das beginnt schon damit, dass derzeit dieselben Leistungen stationär höher als ambulant vergütet werden.
Die überflüssige Medizin kostet nicht nur sehr viel Geld, sondern beschädigt häufig die Gesundheit. Dadurch generiert das System der Übertherapie immer mehr Krankheiten und Patienten. Überall, wo es mehr Therapeuten gibt und damit auch die Therapien zunehmen, steigen die Zahlen der Patienten, aber nicht die der Geheilten.
Seit es Schmerztherapeuten gibt haben wir eine Schmerzepidemie, und mit der massenhaften Verschreibung von Antidepressiva werden die Depressiven nicht weniger. Wer sich Teile der Wirbelsäule versteifen oder die Mandeln entfernen lässt, wird Folgekrankheiten bekommen, die ihm sonst vermutlich erspart geblieben wären. Viele Behandlungen be- oder verhindern die Selbstheilung.
Das Schadenspotential wird von Ärzten, Patienten und Kostenträgern aber sträflich unterschätzt. Das erkennt man schon daran, dass heute Krankheiten durch Arzneimittel und Operationen hinter Bezeichnungen wie „unerwünschte Nebenwirkungen“ und „Komplikationen“ versteckt werden.
In den 1950er Jahren hatte der damalige Ordinarius für Innere Medizin an der Universität Frankfurt am Main, Ferdinand Hoff, schon festgestellt, dass „Therapieschäden“ die häufigsten Todesursachen sind. Das gilt unverändert. Würde nur jede zehnte Behandlung neue Krankheitssymptome hervorrufen, dann hätten wir 100 Millionen Therapieschäden pro Jahr. Tatsächlich sind schädliche Effekte aber häufiger.
Lobbyisten im Gewand von Experten, Politikern und Ministerialbeamten versuchen allerdings täglich, dies wegzureden als wären behandlungsbedingte Krankheiten in unserer heutigen Medizin Raritäten. Die Bundesärztekammer gesteht um die 100 Todesfälle durch Therapien pro Jahr zu. Tatsächlich sind jedoch bei einer operativen Sterblichkeit von 2,5 Prozent nicht weniger als 200 000 Todesfälle jährlich anzunehmen, da über acht Millionen Operationen erfolgen. Etwa 100 000 Menschen sterben durch Medikamentenwirkungen und Klinikinfektionen. Weniger Medizin würde nicht nur die Kosten im Gesundheitswesen senken – auch die Lebenserwartung würde steigen.
Entgegen der allgemeinen Wahrnehmung hat die Medizin mit dem Anstieg der Lebenserwartung nichts zu tun. Und die Beschwerdejahre vor dem Lebensende sind auch nicht weniger geworden. Das Gesundheitssystem erzeugt heute mehr Krankheit als es beseitigt und braucht damit immer mehr Bruttosozialprodukt auf. Dies mag überraschen, da zahlreiche Mengenbegrenzungen bestehen: Fallpauschalen, gedeckelte Budgets oder Fixbeträge. Nur beseitigen all diese Beschränkungen nicht das Kernproblem: Ein Behandlungsverzicht und das Abwarten der Selbstheilung lohnen sich für die Leistungserbringer weniger als Behandlungen – so unsinnig diese auch sein mögen.
Was wäre zu tun? Zunächst einmal sollte sich jeder über das hohe Schadenspotential der meisten Therapien im Klaren sein; denn Behandlungen bedürfen der Zustimmung durch den Patienten. Es geht darum, dieses überlebensnotwenige kritische Bewusstsein zu wecken.
Viele Menschen haben heute den Eindruck, dass die Ablehnung einer Behandlung durch Ärzte oder Krankenkassen ihnen böswillig Leistungsansprüche vorenthalten würde. Bei früheren Generationen gehörte es dagegen zum selbstverständlichen Wissen, dass fast jede Behandlung auch neue Symptome erzeugt und man dann von zwei Krankheiten genesen muss. Anreize für einen Verzicht auf Leistungsentnahmen durch Beitragsrückvergütungen könnten so manchem dabei auf die Sprünge helfen.
Für die Kliniken und Ärzte dürfen sich Behandlungen nicht mehr lohnen als Abwarten und Behandlungsverzicht. Das funktioniert in staatlichen Gesundheitssystemen in den Niederlanden oder Skandinavien sehr gut. Ärzte verdienen das gleiche Geld – unabhängig, ob und wie sie behandeln. Auch die Polikliniken der DDR haben dies erfolgreich praktiziert. Es ist also gar nicht so realitätsfern, Ärzte für Gesundheit statt Krankenbehandlung zu bezahlen wie das etwa auch im alten China oder Griechenland der Fall war.
Die Zahl der Maßnahmen würde schon drastisch abnehmen, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss als Entscheidungsgremium für die Bezahlung von Leistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung nur Maßnahmen und Behandlungen mit nachgewiesenem Patientennutzen billigen würde. Und natürlich bräuchte es eine Positivliste für Medikamente – also ein Verzeichnis der Substanzen, die wirklich dem Patienten nützen. Von den etwa 100 000 im Handel befindlichen Arzneimittelprodukten erachtet selbst die nicht gerade industriefeindliche Weltgesundheitsorganisation (WHO) nur 433 als essenziell. Wenn heute die Sterblichkeit an einer Lungenentzündung etwa drei bis acht Prozent beträgt, sollte man wissen, dass um 1850 mit Abwarten und Wassersuppe auch nur sieben Prozent starben.
Zur Eindämmung überflüssiger Behandlungen ist eine Koppelung der Vergütung an den Behandlungserfolg notwendig. Mein Vorschlag: Eine Vergütungspauschale gibt es nur in voller Höhe, wenn die Patienten wenigstens so zufrieden wie eine Vergleichsgruppe sind. Jede Komplikationen der Behandlung muss vom Behandler im Rahmen der Fallpauschale selbst oder in einer anderen Klinik behoben werden. Derzeit bringen in Deutschland Behandlungsschäden absurderweise Zusatzerlöse.
Die Krankenversicherung muss wie eine Kfz-Versicherung oder ein berufsständisches Versorgungswerk nach versicherungsmathematischen Grundsätzen geführt werden. Eine höhere Inanspruchnahme von Leistungen führt zu höheren Beiträgen. Der Tarif muss personenbezogen sein und kann nicht die kostenlose Mitversicherung weiterer Personen beinhalten. Eine soziale Komponente kann man über Steuergeld, zum Beispiel das Kindergeld regeln. Ansonsten wird das gesamte Versicherungsprinzip gefährdet. Das darf aber nicht passieren. Bei einer Kostendeckung für Krankheit als Steuer hätte man anders als bei einer Versicherung grundsätzlich keinen Anspruch auf eine Gegenleistung.
Und dann sollte natürlich jeder Euro eines Krankenversicherungsbeitrages tatsächlich nur für Krankenversorgungsleistungen ausgegeben werden und nicht für die Anwerbung von Neukunden und unnötig hohe Betriebskosten der 110 gesetzlichen Krankenkassen. Diese Pseudokonkurrenz nahezu gleicher Angebote treibt nur die Kosten, ohne die Qualität zu verbessern. Gesetzliche Krankenkassen dürfen auch keine rendite-orientierten Unternehmen sein.
All diese Vorschläge werden nur seit Jahrzehnten von Lobbyisten als unsozial und nicht realisierbar verunglimpft, obwohl sie in anderen Ländern funktionieren. Gesundheit als „Schweigen des Körpers“ ist kein Geschäft. Nur Kranksein bringt hohe Umsätze. Solange die Nutznießer der jetzigen Zustände staatliche Stellen und Aufsichtsbehörden kontrollieren, wird es keine Reform zum Nutzen der Gesundheit möglichst vieler Menschen geben. Das Ausbleiben von Krankheit und die unterschätzten Selbstheilungsmechanismen müssten sich lohnen – dann wäre Besserung in Sicht. Dafür bräuchte es eine Beschränkung medizinischer Behandlungen auf das notwendige und gesicherte Minimum, um die Lawine von Überdiagnose und -therapien zu stoppen. Gesundheit muss wieder vom Problem zur Normalität werden.
Gerd Reuther
Univ.-Doz. (Wien) Dr. med. Gerd Reuther, Facharzt für Radiologie, hat nach 30 Berufsjahren mit leitenden Positionen in mehreren Kliniken in Deutschland und Österreich seine ärztliche Tätigkeit aufgegeben.
Er veröffentlichte 2017 mit „Der betrogene Patient“ eine Fundamentalkritik an der heutigen Medizin. In zahlreichen Artikeln greift er immer wieder die Diskrepanzen zwischen gesichertem Wissen und dem ärztlichen Tun auf.
Im September erscheint sein neues Buch „Die Kunst, möglichst lange zu leben“, das Christoph Wilhelm Hufelands Bestseller von 1797 „Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“ auf unsere Zeit zu übertragen versucht.
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