MM-Debatte

Wo steht die Türkei heute, Frau Önsöz?

Wer die aktuelle Lage im Land verstehen will, muss einen Blick auf seine Vergangenheit werfen. Die ist nach Meinung der Filmemacherin Eren Önsöz westlich geprägt - weshalb von einer blinden Anhängerschaft Erdogans nicht die Rede sein könne. Ein Gastbeitrag.

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Eren Önsöz
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Gerechtigkeitsmarsch in der Türkei: Unterstützer des türkischen Oppositionsführers Kemal Kilicdaroglu kommen am 9. Juli in Istanbul zusammen - friedlich.

© dpa

Nur für Premier Recep Tayyip Erdogan sind die Putschfolgen ein "Geschenk Gottes". Die Nacht vom 15. Juli 2016 hat eine beispiellose Welle von Verhaftungen und Entlassungen nach sich gezogen. Geschenke sehen anders aus. Feiertage ebenso.

Die Freuden der AKP über ihren selbsternannten "Feiertag der Demokratie" teilt nicht jeder. Es ist sogar die beachtliche Hälfte des türkischen Volkes, die die verkehrte Welt der AKP ablehnt. Die Menschen haben längst einen anderen Feiertag auserkoren.

Regimegegner aus allen Lagern werden nächstes Jahr an ihren beeindruckenden "Marsch für Gerechtigkeit" erinnern. An die machtvolle Demonstration, die wie ein gewaltiger Fluss immer mehr Menschen von Ankara bis nach Istanbul mit sich riss. Bei der friedlichen Schlusskundgebung am 9. Juli 2017 hatten sich über zwei Millionen Menschen versammelt, um aus einem Mund "Adalet", also Gerechtigkeit zu fordern. So sieht ein wahrer Tag der Demokratie aus!

Ich habe mich über diese Bilder in den deutschen Medien gefreut. Endlich gab es etwas Anderes zu sehen, als fähnchenschwenkende Erdogan-Fans. Endlich ein Licht in der Finsternis, die die Partei mit Glühbirnen-Logo schon seit 15 Jahren verbreitet.

Das Credo dieser Ära scheint George Orwells Roman "1984" entnommen: "Unwissenheit ist Stärke!" Religiöse Imam-Hatip Schulen überziehen das ganze Land. Nach dem Putsch mussten über 2000 Schulen schließen, rund 8000 Akademiker wurden fristlos entlassen, unzählige sitzen im Gefängnis. Wer nicht inhaftiert ist, soll psychisch zerstört werden. Reisepässe wurden einbezogen, wobei es ohnehin so gut wie unmöglich ist, ein Visum ins Ausland zu erhalten. Die "gesellschaftliche Auslöschung" von Andersdenkenden läuft auf Hochtouren, die Selbstmordrate steigt.

Dieser Zustand erinnert fatal an Deutschland im Jahr 1933. Denn eine der ersten Amtshandlungen der Nazis zielte auf die Wissenschaften. Das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" machte über Nacht ein Drittel aller deutschen Akademiker "nichtarischer Abstammung" arbeitslos.

Nicht einmal die klassischen Exilländer wollten die asylsuchenden Menschen aufnehmen, geschweige denn ihnen die Möglichkeit zum Arbeiten geben. Viele Professoren nahmen sich das Leben. Eine Parallele zur heutigen Türkei? Es gibt noch mehr Bezüge, vor allem in der gemeinsamen deutsch-türkischen Geschichte, die sich 1933 schicksalhaft kreuzen sollte.

Neben dem Beginn der Nazidiktatur war es auch das Jahr der großen Universitätsreform von Mustafa Kemal Atatürk. Der Staatsgründer der jungen türkischen Republik suchte für sein ambitioniertestes Projekt die besten Professoren. Religion und Aberglaube mussten in der laizistischen Türkei auch aus den Hörsälen verbannt werden.

Die verfolgten Deutschen waren ihm willkommen, ihre rassische Zugehörigkeit gleich. Mehr als tausend Wissenschaftler, Politiker, Künstler und Architekten nahmen die Einladung dankbar an. Darunter waren heute noch so bekannte Persönlichkeiten wie Ernst Reuter, Paul Hindemith oder Bruno Taut. Und ein Bonmot lautete damals: Wo steht die beste deutsche Universität? In Istanbul!

Die als jüdisch und entartet diffamierten Deutschen bekamen die Gelegenheit, einen Gegenentwurf zum barbarischen Nazideutschland zu schaffen. Der Pathologe Philipp Schwartz aus Frankfurt gründete eine Hilfsorganisation und vermittelte vielen drangsalierten Kollegen einen Arbeitsplatz am Bosporus. Um dort den "wahren Geist der deutschen Nation zu vertreten".

Dass sich diese Mission mit der Schaffung einer neuen türkischen Identität verband, ist Teil des deutsch-türkischen Wunders. Atatürk hatte die Türken vor der Kolonialisierung durch die Westmächte bewahrt. Nun sollten die Türken ihre Geschichte selbst schreiben. Die Deutschen brachten zur Erforschung der türkischen Kultur neue wissenschaftliche Methoden mit, um das eurozentristische Geschichtsbild abzustreifen.

Die Euphorie war ansteckend. Dafür wurden die Gelehrten sogar nachts im Pyjama zu Atatürk zitiert, der dringende wissenschaftliche Fragen erörtern wollte. Der Altphilologe Georg Rohde, der in Ankara lehrte, war beeindruckt: "Die Türkei war dasjenige Land der Erde, das für kulturelle Aufgaben prozentual am meisten ausgab."

Der Leitsatz "Wissen ist Stärke" wurde zum Mantra der Gründergeneration. Und über allem stand die Gleichstellung von Frau und Mann, so dass Atatürk zum bekanntesten Frauenrechtler im Land avancierte. Schon 1934 erhielten Frauen das Wahlrecht.

Erstaunlich, wo die Türkei vor fast hundert Jahren einmal gestanden hat. Schade, dass so wenig an diese und andere demokratische und aufgeklärte Tendenzen im islamischen Kulturkreis erinnert wird. Das Ausblenden kommt fast einer Negierung gleich. Damals, als in Europa Bücher brannten und Diktatoren wie Hitler und Mussolini wüteten, ließ Atatürk folgenden Satz an die Front der Philologischen Fakultät meißeln. "Der einzig wahre Führer im Leben ist die Wissenschaft." Das Gebäude hatte Bruno Taut entworfen, der später auch den Katafalk für den 1938 verstorbenen Staatsgründer errichtete. Ein Gehalt lehnte der Bauhaus-Architekt ab. Es war seine letzte Verbeugung vor dem Visionär. Für viele Deutsche wurde das Land zu einer zweiten Heimat.

Mein Dokumentarfilm "Haymatloz" erzählt von diesem unbekannten Kapitel, das laut Edzard Reuter eine "erstaunliche Vernachlässigung" erfahren hat. Er wird nicht müde, an den Beitrag der Deutschen am Demokratisierungsprozess in der Türkei zu erinnern. Der ehemalige Daimler-Chrysler-Vorstandschef hat Kindheit und Jugend in Ankara verbracht, wo sein Vater Ernst Reuter Städtebau und Verwaltungswesen lehrte. Nach dem Krieg wurde er West-Berlins erster Nachkriegsbürgermeister. Sein Exilland Türkei? Unbekannt.

Woher rührt dieser blinde Fleck in der Geschichtsschreibung? Bedient diese Epoche nicht die gängigen Klischees?

Wer heute die Medienlandschaft verfolgt, bekommt einen ganz ähnlichen Eindruck. Einseitige Stereotype dominieren, Ängste werden geschürt. Die Sehnsucht nach differenzierten Bildern wächst nach dem 11. September weltweit.

Die Hervorhebung von Gemeinsamkeiten könnte dabei helfen, Ängste abzubauen. Würden mehr Bilder etwa von demokratischen Türken, den Dialog nicht stärken? Müssten nicht humanistische Bestrebungen, die es ebenso gibt, in den Fokus gerückt werden - statt fanatischer Mobs und ihrer "Kopf-ab-Mentalität"? Die Darstellung des Fremden ist auf mittelalterlichem Niveau angelangt. Sieht so das globale Informationszeitalter aus?

Herr Erdogan und seine Partei passen dabei gut ins Bild. Sie bestätigen alle bösen Ahnungen im Abendland und zementieren ein Bild, das schon Jahrhunderte alt ist. Nach den ersten Wienbelagerungen schürte vor allem die Kirche die Angst vor den Türken. Sie wurde sogar zum konstituierenden Element für Europa.

Hat sich seitdem nichts geändert? Ist Erdogans Gepoltere womöglich Kitt und Balsam für ein bröckelndes Europa? Bekommt er daher so viel Sendezeit?

Doch ist nicht alles schlecht an der AKP-Regierung. Durch sie hat das türkische Volk gelernt, zum mündigen Bürger zu werden und für Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit einzustehen.

Und das nicht erst seit dem Gerechtigkeitsmarsch oder den Gezi-Park Protesten. Schon 2007 gab es Massendemonstrationen im Land, bei denen Frauen die Hauptrolle spielten. Sie warnten vor der Islamisierung des Landes und skandierten: Die Türkei ist laizistisch und wird es auch bleiben.

Schade, dass diese Rufe damals so wenig Widerhall im Westen fanden. In jener Zeit dominierte ironischerweise ein anderes Bild von der Türkei. Als Erdogan mit seiner neoliberalen Agenda antrat, die die Privatisierung aller Staatsbetriebe unter Abbau von Arbeiter-Rechten vorantrieb, wurde er noch als "anatolischer Tiger" gelobt. Der "moderate Islamist" und die verschleierte Muslima wurden salonfähig. Moderate Türken schüttelten den Kopf.

Die deutsch-türkischen Beziehungen kränkeln wieder. Der Zeitpunkt ist gekommen, Scheuklappen abzulegen und den Dialog endlich auf Augenhöhe zu betreiben, um die demokratischen Kräfte zu stärken. Es ist toll, dass die Deutschen jetzt einen Journalisten wie Can Dündar kennen. Aber musste er erst unter Lebensgefahr hierher flüchten, um wahrgenommen zu werden?

In der Türkei gibt es sehr viele, faszinierende Intellektuelle, Wissenschaftler, Journalisten, Architekten und Künstler, die endlich stärker in die Berichterstattung über das Land einbezogen werden müssen, das hier eine so große Rolle spielt. Das sollte im digitalen Zeitalter doch gar nicht so schwer sein. Dabei kann an alte deutsch-türkische Traditionen angeknüpft werden, als Deutsche und Türken gemeinsam an einer pazifistischen, gesellschaftlichen Utopie arbeiteten.

Reuter hatte über das Erstarken der NSDAP gesagt: "Es ist nicht das Ende der Demokratie, in Wirklichkeit ist es die Geburt der deutschen Demokratie."

Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu hat beim "Gerechtigkeitsmarsch" nicht nur die gleichen hoffnungsvollen Worte für die heutige Türkei gefunden. Er hat auch an das Exil der Deutschen im Land erinnert. Es kommt Licht ins Dunkle!

Eren Önsöz

Eren Önsöz ist 1972 in der Türkei geboren. Als sie fünf Jahre alt war, zog ihre Familie von der Hauptstadt Ankara nach Stuttgart und weiter nach Neuss, wo Eren Önsöz ihre Schulzeit verbrachte.

Dort begann sie, sich mit Fotografie, Schauspiel und politischem Kabarett zu beschäftigen. Ihre Formation "KGB - Kabarett gegen das Böse" tourte viele Jahre erfolgreich durch die Republik.

Nachdem sie ihr Studium der Germanistik und Medienwissenschaften in Düsseldorf beendet hatte, arbeitete sie als freie Autorin im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Zudem vollendete sie 2005 ihr Postgraduiertenstudium an der KHM Kunsthochschule für Medien in Köln im Bereich Film und Fernsehen mit dem mehrfach ausgezeichneten Dokumentarfilm "Import-Export", der deutsch-türkische Beziehungen thematisiert.

"Haymatloz" ist ihr zweiter Kino-Dokumentarfilm. Darin begleitet sie Nachkommen deutscher Exilanten, die während des Nationalsozialismus in die Türkei geflüchtet waren.

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