Wissen wir noch, was unsere Bedürfnisse sind, Herr Haberl?

Versichert, vernünftig, vermarktbar: Unser Leben hatten wir nie so unter Kontrolle wie heute. Das macht uns aber nicht glücklich, sagt der Autor Tobias Haberl. Sondern ängstlicher. Ein Gastbeitrag.

Von 
Tobias Haberl
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Technologische Errungenschaften haben auch neue Zwänge und Ängste hervorgebracht. © Istock/OLAF UNVERZART

Ich war ein paar Tage in New York, und eigentlich war alles war wie immer: Passanten, die sich nicht in die Augen schauen, Touristen, die Selfies machen, wo die Türme des World Trade Center standen, Fitnessmenschen, die sich mit kabellosen Kopfhörern die Wirklichkeit vom Leib halten – doch auf einmal blieb ich fassungslos stehen: Ich war in einem kleinen Park direkt vor dem Gehry Tower gelandet, umringt von Bänken, Pflanzentrögen und Wasserfontänen; eine winzige Oase im Zentrum Manhattans, nicht weit von der Wall Street. Hier muss ein feinfühliger Mensch am Werk gewesen sein, dachte ich, der den Bewohnern dieses Wolkenkratzers wenigstens die Ahnung von Natur ermöglichen wollte. Dann entdeckte ich ein Schild, auf dem alle Aktivitäten aufgelistet waren, die in diesem Park verboten waren: Grillen, Zelten, Kartenspielen, Rauchen, Picknicken, Radfahren, Skateboarden, Roller-skaten, Musik machen, Alkohol trinken, Eichhörnchen oder Vögel füttern, mit den Wasserfontänen spielen, Hunde ohne Leine laufen, Kinder ohne Aufsicht spielen lassen.

Ich spürte, wie mich Traurigkeit überfiel. Ich befand mich an einem Ort zur „passiven Erholung“, an dem alles verboten war, was eventuell Spaß machen könnte. Außer mir war kein Mensch zu sehen, nicht mal ein Eichhörnchen, dem ich verbotenerweise eine Nuss hinhalten konnte. Niemand saß auf einer Bank, summte eine Melodie oder spazierte über das Grün. Es war der Moment, in dem ich begriff, dass unsere freie, westliche Welt dabei ist, wie dieser Platz vor dem Gehry Tower zu werden: hübsch, aber langweilig, frei, aber leblos, sicher, aber kontrolliert wie ein Straflager – eine entzauberte Welt, aus dem sich jedes Temperament und jede Spontaneität verabschiedet haben, weil wir Angst vor Gegenwind oder einem Shitstorm, ja offensichtlich vor der Unberechenbarkeit des Lebens selbst haben. Überhaupt haben wir mittlerweile Angst vor fast allem, von roter Wurst über Deodorants mit Aluminium bis zu Feinstaub, Fahrverboten und Flüchtlingen. Es war der Moment, in dem ich begriff, dass sich mit algorithmischer Unerbittlichkeit ein Entmenschlichungsprogramm über unsere Leben stülpt, während wir von selbstfahrenden Autos und garantiert pünktlichen Paketdiensten träumen.

Hundert Jahre ist es her, dass Max Weber den Begriff der „entzauberten Wirklichkeit“ prägte. Er meinte damit eine geheimnislose Welt, in der alles durch Berechnung beherrscht werden könne. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts schreibt der Soziologe Hartmut Rosa: „Wenn man alles beherrscht, geht etwas verloren. Die Welt spricht und singt nicht dort zum Menschen, wo sie beherrscht wird, sondern wo der Mensch für sie entbrennt.“ Sonderbar, dass wir trotzdem versuchen, unser Leben mit einer Armada aus Vorhersage-Apps wie ein Geschäftsmeeting zu organisieren. Besorgniserregend, dass wir immer weniger in der Lage sind, uns überraschen, verführen, überwältigen zu lassen. Längst gibt es Apps, die die Zeit registrieren, die wir am Handy verbringen, oder die Regenwahrscheinlichkeit in Fünf-Minuten-Intervallen berechnen. Probleme erfinden, um anschließend gegen Bezahlung von Geld oder Daten ihre Lösung bereitzustellen, scheint das Businessmodell der Gegenwart zu sein. Denn eigentlich ging alles, was uns die Verleih-, Vermittlungs- und Tauschbörsen im Netz versprechen – Freunde finden, Nachbarn kennenlernen, Wohnraum teilen – vorher ganz von allein, indem man sich vertraute oder einfach nett zueinander war.

Uns auf Erfahrungen einzulassen, von denen wir nicht wissen, wie sie ausgehen, gelingt uns immer seltener. Das Risiko des Zeit- oder Gesichtsverlusts, die Gefahr, dass sich etwas am Ende nicht rechnen könnte, ist zu groß: Unsere Power-Naps dauern fünfzehn, unsere Trainingseinheiten zwanzig Minuten, C-Date verspricht 74 Prozent Erfolgsquote beim Flirten.

Prägende Erfahrungen lassen sich aber nicht herstellen wie ein E-Bike, sie müssen sich entwickeln oder ereignen: Begehren, Freundschaft, Liebe, Lust – die tiefen Regungen der menschlichen Existenz sind unverfügbar. Sie passieren ansatzlos; und wer böse Überraschungen verhindern möchte, verhindert gute immer gleich mit. Im Gegenzug boomen die Angebote, die uns zu kontrollierten Bedingungen Dinge erwerben lassen, die uns garantiert nicht aus der Bahn werfen: Kreuzfahrten, Wellnesswochenenden, Winterstiefel mit kostenlosem Rückversand, Netflix-Serien, Erfahrungen mit angezogener Handbremse, Freizeitaktivitäten für zwangsverwaltete Leben.

„Was hast du denn?“, sagen meine Freunde, „es geht uns doch gut.“ Und sie haben ja Recht: Die Wirtschaft, der Bildungsgrad und der Mindestlohn wachsen, die Arbeitslosigkeit und die Kriminalität sinken. Aber können Excel-Tabellen die Seelenlage von Menschen erfassen? Oder könnte es sein, dass es in Wahrheit bergab geht, weil die Menschen in einer vollständig digitalisierten Welt reicher und gleichzeitig ärmer, gesünder und gleichzeitig kränker, toleranter und gleichzeitig missgünstiger, sicherer und gleichzeitig ängstlicher, vernetzter und gleichzeitig einsamer werden?

Oder warum diese Verrohung im Netz? Und warum die ständige Empörungsbereitschaft auf unseren Straßen und in den Schlangen der Supermärkte? Wir halten uns für frei und tolerant, dabei sind wir süchtig nach Aufmerksamkeit und tolerieren meist nur, was wir ohnehin gut finden. Wir fordern Vielfalt, aber jeden Tag mehr wird eigentlich nur, was wir herstellen und verkaufen, Regionalkrimis, Craftbiere und Reiseportale, während alles, was atmet und lebt, also unsere Blumen und Insekten, unsere Sprachen, Dialekte und Bräuche, weniger werden.

Wir sind umzingelt von 100-Euro-Joker-Wetten, Save-the-Date-Mails und Treuepunkten, von Bäckereiverkäuferinnen mit Latexhandschuhen und Schulkindern, auf deren Pullovern „Racker“ steht, während sie von einer Tracking App überwacht werden – aber unsere Seelen trocknen aus. In Rom zieht mittlerweile ein Straßenmusiker mit seiner Gitarre durch die Restaurants, ohne zu spielen, in der Hand hält er ein Schild mit der Aufschrift: „Ich spiele nicht, um Sie nicht zu belästigen. Über eine kleine Entschädigung würde ich mich freuen.“

Manchmal habe ich den Verdacht, dass die digitalisierte Welt vor allem neue Ängste und Zwänge hervorgebracht hat. Dass aus den Hippies des Silicon Valley skrupellose Unternehmer geworden sind. Dass wir schon lange nicht mehr ihre Kunden, sondern ihre Produkte sind. Dass wir fast nie unsere Bedürfnisse erfüllen, sondern immer nur die eines Marktes, den es ohne uns nicht gäbe. Dass wir Spiritualität mit Wellness, Information mit Bildung, Transparenz mit Ehrlichkeit und Toleranz mit Menschlichkeit verwechseln. Irgendwas kann doch nicht richtig sein, wenn wir tiefes Glück empfinden, sobald wir nach einem 50-Minuten-Flug mit einem Schnalzer das Handy entriegeln.

Was wir tun, sagen, denken, lesen, kaufen, wird vermessen, gespeichert und bewertet; jeder Schritt, jeder Herzschlag, jeder Gedanke, jedes Gefühl – alles wird feilgeboten, abgebucht, profitabel gemacht, auch unsere Freude, unsere Trauer, unser Mitgefühl, unsere Kritik, unsere Sehnsucht, unsere Angst, unsere Erschöpfung, unsere Wut. Im Gegenzug wird alles, was sich nicht verkaufen lässt, was rätselhaft und überraschend sein könnte, in einem Wort: diese verrückte Idee, dass jeder Mensch tatsächlich und nicht nur als Slogan eine Einzigartigkeit sein könnte, der Zauber also, der aus der bloßen Existenz ein Leben macht –, geleugnet. Das Resultat ist eine Welt, in der alles bewertet wird, was sich numerisch erfassen lässt: Hotelzimmer, Ärzte, Wohnungen, Katzensitter, Spielfilme, Prostituierte.

Lebe lieber selbstbestimmt, Erfolgreich altern, Werde unwiderstehlich, Gesund durch Atmen, Mehr Zeit für das Wesentliche, Noch mehr Zeit für das Wesentliche – die Titel unserer Ratgeberbücher lassen uns ahnen, was wir verloren, verraten und verkauft haben. Im Gegenzug haben wir Slow Food, Slow Travel, Slow Living, Slow Sex, Zeitlupenseminare und Do-nothing-Wochenenden erfunden – und sind gestresst, sobald am Sonntagabend jemand bei uns klingelt, weil wir doch den Tatort sehen wollen. Wann nur haben wir aufgehört, die Tür zur Welt aufzureißen, um auf niedrigstem Niveau zufrieden zu sein?

Es gibt einen Cartoon, in dem Charlie Brown und Snoopy auf einem Steg sitzen und aufs Wasser schauen: „Eines Tages werden wir sterben, Snoopy“, sagt Charlie Brown. Und Snoopy antwortet: „Ja, aber an allen anderen Tagen nicht.“ Okay, Snoopy ist ein Hund, und es gibt ihn noch nicht mal wirklich – aber in dem Punkt hat er Recht.

Der Gastautor

Tobias Haberl, geboren 1975 im Bayerischen Wald, hat in Würzburg und Großbritannien Latein, Germanistik und Anglistik studiert.

In den Jahren 2001 und 2002 war er freier Journalist in Berlin, besuchte dann die Henri-Nannen-Schule in Hamburg und ist seit 2005 Redakteur im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“.

2016 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis. Zuletzt legte er die Streitschrift „Die große Entzauberung – Vom trügerischen Glück des heutigen Menschen“ vor. Der Autor lebt in München.

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