"MM"-Debatte

Wird Deutschland eine "Rentnerdemokratie", Herr Schmidt?

2060 wird voraussichtlich jeder dritte Deutsche 65 Jahre oder älter sein - das verändert die Gesellschaft und wirft politische Fragen auf. Politikprofessor Manfred G. Schmidt schreibt über die Möglichkeit einer Altenherrschaft. Ein Gastbeitrag.

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Manfred G. Schmidt
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Deutschlands Bevölkerung altert. 1900 waren fünf Prozent der Bevölkerung des Deutschen Reiches mindestens 65 Jahre alt. 50 Jahre später war der Anteil der Senioren in der Bundesrepublik Deutschland auf knapp zehn Prozent gestiegen. Heutzutage sind es 21 Prozent. Und 2060 wird voraussichtlich jeder dritte Deutsche 65 oder älter sein.

Welche politischen Folgen hat die Alterung der Bevölkerung? Verwandelt sie die Demokratie von einer Herrschaft des Volkes, durch das Volk und für das Volk in eine neue Altenherrschaft von, durch und für Senioren? Wird Deutschland eine "Rentnerdemokratie", so die Worte des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog?

Die Älteren würden immer mehr und alle Parteien nähmen überproportional Rücksicht auf sie, gab Herzog zu bedenken. Das könnte letztlich dazu führen, "dass die Älteren die Jüngeren ausplündern".

Ist die "Rentnerdemokratie" wahrscheinlich? Oder ist sie Schwarzmalerei? Zur Beantwortung dieser Fragen eignet sich Deutschland besonders gut - aus drei Gründen. Erstens: Die Alterung ist weit fortgeschritten. Gemessen am Bevölkerungsanteil der mindestens 65-Jährigen liegt Deutschland mit Italien weltweit auf Platz 2 hinter Japan. Dort ist bereits jeder Vierte Senior. Zweitens ist Deutschland eine Demokratie. Deren Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse sind für die Interessen einer so großen Zahl wie die der Senioren sehr empfänglich. Drittens hat Deutschland einen weit ausgebauten Sozialstaat, der für die Interessen der Älteren und zulasten der jüngeren Generation genutzt werden könnte.

Mit der Alterung der Bevölkerung wächst die potenzielle Macht der Senioren. Sie haben mehr Marktmacht als zuvor, mehr Verbandsmacht und mehr Staatsmacht. Mehr Marktmacht haben sie, weil ihre große Zahl und ihr Einkommen für eine beachtliche wirtschaftliche Nachfrage sorgen.

Mehr Verbandsmacht haben die Senioren, weil sie in einflussreichen Interessenverbänden stark vertreten sind - nicht nur in den Sozialverbänden, sondern auch in den Gewerkschaften. Und mehr Staatsmacht verleiht den Senioren allein schon ihr großer, weiter wachsender Anteil an den Wahlberechtigten: Bei der Bundestagswahl von 2013 lag der Anteil der mindestens 60- bzw. 65-Jährigen an den Wahlberechtigten bei knapp 34 bzw. 25 Prozent - Tendenz steigend. Zudem ist die Wahlbeteiligung der meisten Älteren überdurchschnittlich hoch, was ihr Gewicht noch weiter vergrößert.

Viele Senioren in Parteien

Auf potenzielle Macht deutet auch die Parteimitgliedschaft der Senioren hin. In fast allen politischen Parteien sind sie zunehmend überrepräsentiert und die Jüngeren unterrepräsentiert. Ferner bilden die Älteren in der Wählerschaft der Parteien einen großen Block: Bei der Bundestagswahl 2013 beispielsweise waren 35 Prozent der CDU/CSU-Wähler und 33 Prozent der SPD-Wähler mindestens 60 Jahre alt, bei der FDP waren es 30 und bei Die Linke 28 Prozent. Nur bei den Grünen hatten ältere Wähler mit 16 Prozent ein viel geringeres Gewicht.

Spuren der Alterung sind zudem im Parlament und in der Bundesregierung sichtbar. Jüngere Altersgruppen sind in den Parlamenten unterrepräsentiert. Das Durchschnittsalter der Abgeordneten des Bundestages schwankt um die 50 Lebensjahre. Noch etwas höher ist das Durchschnittsalter der Bundesminister. Und Bundeskanzler ist bislang noch niemand geworden, der jünger als 51 Jahre war.

Von einer starken politischen Position der Senioren kündet auch ihre Behandlung durch den Sozialstaat. Die sozialstaatliche Absicherung im Alter ist heutzutage viel besser als vor 5, 6 Jahrzehnten. Den Senioren kommen vor allem die Renten der Alterssicherungssysteme und die Dienstleistungen des Gesundheitswesens zugute, seit 1995 den Pflegebedürftigen die Pflegeversicherung.

Und etliche Senioren profitieren von den Mindestsicherungssystemen der deutschen Sozialpolitik. Wer nach einem Gesamtanzeiger für den Nutzen sucht, den die Sozialpolitik den Senioren in Deutschland stiftet, könnte näherungsweise die öffentlichen Sozialausgaben für Alter und Hinterbliebene im Lande wählen. Diese betragen laut Sozialbudget-Statistik des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales im Jahr 2013 307 Milliarden Euro. Das entspricht 38 Prozent aller öffentlichen Sozialausgaben und 11,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

Damit hat Deutschland eine der weltweit höchsten Sozialleistungsquoten für Ältere und Hinterbliebene. Diese werden nicht nur aus den Sozialbeiträgen der Arbeitnehmer und ihrer Arbeitgeber finanziert, 27 Prozent entfallen auf den Bundeszuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung. Ohne läge der Beitragssatz der Rentenversicherung weit über dem derzeitigen Stand von 18,7 Prozent. Die Verteilung der Armutsrisiken signalisiert ebenfalls keine Benachteiligung der Senioren, sondern eher Begünstigungen. Die Sozial- und die Steuerpolitik haben das Armutsrisiko der gesamten älteren Bevölkerung drastisch verringert. Spürbar höhere Armutsrisiken drohen hingegen Familien und Alleinerziehenden mit mehreren Kindern.

Unterschiede bei Ausgaben

Auch andere Messlatten sozialstaatlicher Politik deuten auf eine beträchtliche Besserstellung der Älteren hin. Man nehme das Verhältnis der Ausgaben für Alter und Hinterbliebene einerseits und für Bildung andererseits als Maßstab für Alt-Jung-Unterschiede in den Staatsausgaben: Unübersehbar ist der klare Vorsprung der Alterssicherung vor der Bildungsfinanzierung.

Die Alterung hat die potenzielle Macht der Senioren vergrößert. Doch die Grenzen der Seniorenmacht sind ebenfalls nicht zu übersehen. Trotz fortgeschrittener Alterung ist hierzulande kein Verfassungsorgan in Sicht, das einem einflussreichen Rat der Älteren oder der Greise, wie ihn etliche Staatsformen der Antike kannten, gleichkäme. Und trotz Alterung der Bevölkerung gibt es weder hierzulande noch in den anderen Demokratien eine große, schlagkräftige Partei der Alten.

Grenzen der Seniorenmacht zeigen sich zudem in den Parlamenten und Regierungen. Dort sind die jüngeren Altersgruppen unterpräsentiert. Doch die Repräsentationsunterschiede zwischen Alt und Jung sind weder im Bundestag noch bei den Bundesministern größer geworden. Auch bei den Bundeskanzlern kann keine Rede von zunehmender Alterung sein.

Adenauer brachte beim Amtseintritt mit 73 Jahren eine größere Lebenserfahrung als alle Nachfolger mit. Seither sind die Kanzler bei Amtseintritt jünger. Erhard wurde mit 70 und Kiesinger mit 62 zum Kanzler gewählt, Brandt und Schmidt mit 55. Kohl, Schröder und Merkel gehörten mit 52, 54 und 51 Jahren beim Amtsantritt zu den jüngeren Regierungschefs.

Ferner hat sich ein Teil der Politik von der Alterung der Gesellschaft regelrecht entkoppelt. In den Gewerkschaften ist der Anteil der älteren Mitglieder gewachsen. Und oft sind diese sogar besonders kampfeslustige Gewerkschafter. Doch wird ihr Gewicht von den Gewerkschaftsführern weitgehend neutralisiert. Fachleute haben sie deshalb als "starke Randgruppe mit schwachen Mitgliedschaftsrechten" eingestuft (W. Schroeder u.a. 2011).

Die Führungsstäbe der politischen Parteien grenzen sich ebenfalls von den alternden Mitgliedschaften ab. Der Grund: Die Parteien streben nach möglichst großen Wählermehrheiten. Doch dafür benötigen sie nicht nur die älteren Wähler, sondern auch die mittleren und jüngeren Altersgruppen. Der Wettbewerb um Wählerstimmen zwingt die Parteien mithin zur gruppenübergreifenden Werbung. Grenzen der Seniorenmacht schreiben Stoppregeln in der Politik vor.

Ein Beispiel: Die Amtsdauer von Bundesverfassungsrichtern wird durch eine Altersgrenze von 68 Jahren und eine Höchstmandatsdauer von zwölf Jahren geregelt. Lebenslange Amtsführung der Verfassungsrichter wie im US-amerikanischen Supreme Court ist in Deutschland unmöglich.

Halbherzige Anpassung

Von den Grenzen der Seniorenmacht zeugt auch die deutsche Rentenpolitik. Sie hat die Alterssicherungssysteme mit einer langen Serie von Umbau- und Rückbaumaßnahmen an den demografischen Wandel angepasst - wenngleich mit erheblicher Zeitverzögerung und mitunter halbherzig. Immerhin hat die Politik die Ausgaben für die Alterssicherungssysteme in stärkerem Maße gedrosselt, als es angesichts der zunehmenden Alterung zu erwarten war.

Damit hat Deutschland im internationalen Vergleich den Ruf einer reformfähigen Rentenpolitik erworben, während andere Staaten, allen voran Griechenland, sich - relativ zur Wirtschaftskraft und Alterung - unverhältnismäßig hohe Rentenausgaben leisten.

Alles in allem zeigen die hier vorgelegten Befunde dies an: Deutschlands Bevölkerung altert, aber das Land ist nicht auf dem Weg in eine "Rentnerdemokratie". Bearbeitet von Lena Grocholl

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Experte für politische Systeme

  • Professor Dr. Dr. Manfred Schmidt ist 1948 in Donauwörth geboren.
  • Manfred Schmidt ist Universitätsprofessor für Politische Wissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg.
  • Die Forschungsschwerpunkte des Professors sind unter anderem: Staatstätigkeit in westlichen Industrieländern im Vergleich unter besonderer Berücksichtigung sozialstaatlicher Politik; politische Prozesse, Institutionen und Staatstätigkeit in Deutschland sowie Demokratietheorie und Vergleich demokratisch verfasster politischer Systeme.
  • Schmidt ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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