Debatte

Wie wichtig ist der Ausgang der Brasilien-Wahl für die Welt?

Stichwahl in Brasilien: Insbesondere in Deutschland hofft man auf einen Sieg Lulas. Vor allem in Sachen Energie hätte das Land, das zu den wichtigsten Öl- und Gasproduzenten zählt, viel zu bieten. Ein Gastbeitrag

Von 
Andreas Nöthen
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Mittendrin im Wahlkampf: Nach einem knappen Sieg in der ersten Runde der Präsidentenwahl setzt Lula alles daran, bei der Stichwahl zwischen ihm und Amtsinhaber Bolsonaro am 30. Oktober zu bestehen. © Rodney Costa/dpa

Die Wahlen in Brasilien werden in Deutschland allgemein unter einem Aspekt wahrgenommen: Bolsonaro muss abgewählt werden, damit der Regenwald erhalten bleibt. Die sozialen Netzwerke sind voller solcher oder ähnlich lautender Forderungen, die bequem vom Sofa aus abgesetzt werden, während man bei Netflix nach der nächsten Serie sucht, die man sich reinziehen könnte.

„Unter Präsident Jair Bolsonaro litt die Natur und damit insbesondere die Amazonasregion extrem“

Noch etwas zynischer werden solch plakative Parolen, wenn man sich einmal anschaut, wer wie viel Treibhausgase zur Erderwärmung beisteuert. Ein vielleicht probater Gradmesser ist der sogenannte Erdüberlastungstag. Für diesen wird errechnet, an welchem Tag im Jahr einzelne Länder die Rohstoffe aufgebraucht haben, die sie nur verbrauchen dürfen, will man die Ressourcen des Planeten nicht überstrapazieren. Deutschland erreichte diesen Tag am vierten Mai - so wie viele unserer europäischen Nachbarländer und westliche Partner sich deutlich in der ersten Jahreshälfte wiederfinden. Mit anderen Worten: Den größten Teil des Jahres leben wir, klimatechnisch betrachtet, auf viel zu großem Fuß und auf Kosten vieler anderer Länder, die diesen Tag zumindest erst in der zweiten Jahreshälfte erreichen - wie zum Beispiel auch Brasilien.

Sicher: Auch Brasilien müsste es besser machen und könnte es womöglich auch - je nachdem, wie die Stichwahl am 30. Oktober ausgehen wird. Doch sich alleine darauf zu verlassen ist leider, so bequem es auch sein mag, zu kurz gedacht.

Unter Präsident Jair Bolsonaro litt die Natur und damit insbesondere die Amazonasregion extrem. Die Zahl der Waldbrände schnellten während seiner Regierungszeit wieder auf Höhen zurück, die man längst hinter sich gelassen zu haben glaubte. Die Politik seiner Regierung nahm dies billigend in Kauf. Die Amazonasregion hat für Bolsonaro keinen Wert, wenn man sie nur schützt und Rücksicht auf Natur und Ureinwohner nimmt. Sie ist in seinen Augen ein Raum unerschlossener Bodenschätze, die es zu heben gilt. Seither strömen Goldsucher, Holzfäller und Landspekulanten in die Region und können dort beinahe ungestört ihr Unwesen treiben.

Der Gastautor


  • Andreas Nöthen ist Journalist aus Frankfurt und hat viele Jahre in Brasilien gelebt, wo er als selbstständige Korrespondent gearbeitet hat. Um die Wahl vor Ort zu begleiten, ist er auch diesen Herbst wieder nach Brasilien gereist.
  • Nöthen ist Autor von Sachbüchern über Brasilien. 2020 erschien „Bulldozer Bolsonaro - Wie ein Populist Brasilien ruiniert“. Im März diesen Jahres veröffentlichte er Luiz Inácio Lula da Silva - eine politische Biografie“ beim Wiener Mandelbaum Verlag.

Bolsonaro schuf dafür perfekte Rahmenbedingungen, indem er den Schutzbehörden IBAMA (Umwelt) und FUNAI (Indigene) so die Mittel zusammenstrich, dass kaum noch Geld für Treibstoff vorhanden ist, um mit Fahrzeugen oder Hubschraubern ihren Aufgaben nachzugehen. Der Leiter des Nationalen Instituts für Weltraumforschung (INPE) wurde von Bolsonaro gefeuert, als seine Behörde die Waldbrände dokumentierte. Zudem wurden viele zentrale Schnittstellen so besetzt, wie es Bolsonaros wichtiger Klientel, den Großgrundbesitzern, nicht besser in den Kram passen könnte.

Wer jetzt glaubt, eine solche Politik führe in der brasilianischen Bevölkerung zu einem empörten Aufschrei und einer Quittung an der Wahlurne, der irrt. Gut, die Quittung gab es, aber anders, als von vielen erwartet. In Bundesstaaten wie Rondonia, Roraima oder Pará, die in der Region liegen, fuhr Bolsonaro seine stärksten Ergebnisse ein. In Rondonia gaben ihm im ersten Wahlgang fast 70 Prozent der Wähler ihre Stimmen. Bolsonaros Politik, so irre sie von außen erscheint, ist dort mehrheitsfähig. Und in Sao Paulo stimmten drei Mal so viele Wähler für den früheren Umweltminister Ricardo Salles, der über seine Verbindungen zur Holzmafia gestolpert war, als für die anerkannte Umweltaktivistin und frühere Umweltministerin Marina Silva.

„Unter Lula würde sich Brasilien aus der internationalen Isolation verabschieden“

Die indigene Abgeordnete Joenia Wapichana verlor ihr Mandat. Und das, obwohl ihr im Frühjahr dieses Jahres noch gelungen war, eine Gesetzesinitiative gegen den Willen Bolsonaros durchzubringen, die dafür sorgte, den seit den 1940er Jahren begangenen „Tag des Indios“ in den „Tag der Indigenen Völker“ umzubenennen. Oder verlor sie gerade deshalb ihr Mandat?

Man könnte die Liste der ausgeschiedenen Umweltpolitiker noch weiter fortsetzen. Kleiner Lichtblick immerhin: Der ehemalige Leiter der oben erwähnten INPE, Ricardo Galvão, ist seit dem 2. Oktober zurück im Geschäft, als Kongressabgeordneter. Und auch Marina Silva erhielt immerhin ein Mandat. Aber die Aussichten, dass sich im neu formierten Kongress nun mehr und lautere Stimmen für eine bessere Umweltpolitik starkmachen werden, sind eher gering. Umweltpolitik ist in Brasilien offenbar ein Luxus, den man sich nicht unbedingt gönnen will. Der Kongress ist insgesamt konservativer geworden, einige wichtige Verbündete Bolsonaros schafften den Sprung ins Abgeordnetenhaus und den Senat.

Daran hätte sicherlich auch ein Präsident zu knabbern, wenn er denn ab dem 1. Januar 2023 Luiz Inácio Lula da Silva hieße. In den ersten Wahlumfragen zur Stichwahl liegt der Ex-Präsident (2003 bis 2010) vorne. Gut möglich, dass er es schafft, erstmals einem amtierenden Präsidenten die Wiederwahl zu versauen. Aber die Aufgabe, die dann auf ihn wartet, ist immens.

Zunächst einmal muss er sehen, wie er seine Regierung organisiert bekommt. Um Bolsonaro schlagen zu können, mussten sich der linke Politiker und seine Arbeiterpartei PT weit in Richtung Mitte strecken. Mit Geraldo Alckmin holte er sich zwar einen erfahrenen Mann als Vize, er war Gouverneur in Sao Paulo, gehörte aber lange auch der eher konservativen PSDB an. Das Ziel dieser Personalie war klar: Lula auch für die Mittelschicht und Wirtschaft wählbar machen.

Aber die Bereitschaft, Lula zu unterstützen, dürften sich die politischen Kräfte der Mitte teuer bezahlen lassen. Am Ende könnte zwar außen an der Lula-Regierung das Label „sozialdemokratisch“ kleben, aber relativ wenige ebensolche Inhalte bieten. Das könnte wiederum an der Basis der Arbeiterpartei zu Spannungen führen. Lula wird sich sowohl nach außen als auch nach innen stets zu rechtfertigen haben.

Einer Sache kann man sich aber bei einer Lula-Regierung sicher sein: Unter ihm würde sich Brasilien aus der selbstgewählten, internationalen Isolation verabschieden und zurück auf die Weltbühne kehren. Vielleicht auch nicht so, wie man das in Europa gerne sähe. Lula gehörte zu den Initiatoren der BRICS-Staaten, zu denen auch Russland und China gehören.

Dennoch scheint man durchaus auch in Deutschland auf Brasiliens Comeback zu hoffen. Vor allem in Sachen Energie hätte der Riese aus Südamerika viel zu bieten. Bislang reiste Robert Habeck nach Katar, Kanada oder Saudi-Arabien, auf der Suche nach Gas und Öl für unseren nach wie vor zu großen Energiehunger. Öl könnte Brasilien liefern. Aber auch auf anderen Feldern der Energiepolitik sehen Experten sofort günstige Anknüpfungspunkte.

Aber auch die PT hat im Vorfeld der Wahl eine Umweltagenda entwickelt, mit der sie an der energiepolitischen Transformation des Landes basteln will. Gut möglich, dass man mehr erreichen möchte, als weiterhin nur der Lieferant billiger Rohstoffe des Nordens zu sein. Darauf sollten sich Habeck und Baerbock zumindest einmal gefasst machen.

Um Bolsonaros Brasilien machte man zuletzt einen Bogen. Wie mir mal ein hochrangiger SPD-Politiker verriet, könne man es nicht riskieren, sich mit Bolsonaro öffentlich blicken zu lassen. Gut, immerhin war er demokratisch gewählt.

Auch Lula weiß durchaus um den Nutzen, den die EU für Brasilien wirtschaftlich haben kann, will man sich dort nicht noch mehr abhängig von China machen, das in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen hat. Schon vor dem ersten Wahlgang hatte Lula angekündigt, das Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Staatenbund Mercosul binnen des ersten halben Regierungsjahrs verabschieden zu wollen - Nachverhandlungen inklusive.

„Brasiliens Probleme sind zu groß und die Rahmenbedingungen zu ungünstig“

Ein Präsident Lula allein wird auch in den kommenden Jahren nicht in der Lage sein, alle Probleme Brasiliens zu lösen. Dafür sind diese zu groß und die Rahmenbedingungen zu ungünstig. Hinzu kommt, dass er überhaupt erst einmal gewählt werden müsste. Dafür sieht es an sich gut aus. Den Sieg im ersten Wahlgang verpasste er nur knapp um 1,6 Prozentpunkte. Doch auch dort war Bolsonaro deutlich stärker, als es die großen Meinungsinstitute Datafolha und IPEC vorhergesehen haben.

Doch auch wie die Wahl am kommenden Wochenende ausgehen mag: Wir Europäer und der globale Norden können und dürfen uns nicht drauf verlassen, dass sich dann das große Klimaproblem von selbst lösen wird.

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