Der Gebrauch digitaler Informationstechnik (IT) - insbesondere Laptops, Tablets, Smartphones und Smartboards - hat in den vergangenen zehn Jahren dramatisch zugenommen. Die moderne Welt sei digital, die Zukunft auch, und wer nicht mitmacht, der bleibt im Wettbewerb zurück - erstens privat (weil er weniger lernt), zweitens in der Gemeinschaft (weil er weniger Kontakte hat) und drittens wirtschaftlich (weil er weniger verdient). Daten seien das Gold des 21. Jahrhunderts, und wer sie beherrsche, der werde reich und glücklich. Dieses Bild der Realität wird von einer mächtigen IT-Lobby täglich beworben und verbreitet; bei genauerem Hinsehen jedoch entpuppt es sich als falsch - und nicht nur das: Es schadet auch der Gesundheit und der Bildung der nächsten Generation und ist daher gefährlich und vor allem unverantwortlich.
Mittlerweile liegen mehr als tausend Studien zu den Auswirkungen digitaler IT auf die körperliche, emotionale, geistige und soziale Entwicklung junger Menschen vor. Wer schon als Kleinkind viel Zeit vor Bildschirmmedien verbringt, zeigt in der Grundschule vermehrt Störungen der Sprachentwicklung und Aufmerksamkeit, und erreicht insgesamt ein deutlich geringeres Bildungsniveau.
Zum Training der für die Gehirnentwicklung sehr wichtigen Sensomotorik braucht man differenzierten sensorischen Input und differenzierten motorischen Output. Das Wischen über eine Glasoberfläche bietet jedoch beides nicht! Die Bewegung ist immer dieselbe und auch die sensorischen Eindrücke unterscheiden sich überhaupt nicht - ganz gleich, was auf dem Bildschirm zu sehen ist. Auf diese Weise werden weder sensorische noch motorische Fähigkeiten trainiert. Das ist aber unbedingt notwendig für eine gut verlaufende Gehirnentwicklung - insbesondere im intellektuellen Bereich. Wenn Eltern ihre kleinen Kinder also über Tablets wischen lassen, sorgen sie aktiv dafür, dass es bildungsmäßig nur für einen Putzjob reicht, wenn sie dann groß sind!
Im Grundschulalter verursacht eine Spielekonsole schlechte Noten im Lesen und Schreiben sowie Verhaltensprobleme, wie man experimentell nachgewiesen hat, indem man Playstations verschenkt und die Auswirkungen gemessen hat. Bei Jugendlichen wirken sich sowohl Computer als auch Smartphones negativ auf die Schulleistungen aus und führen zu einer Verringerung der Selbstkontrolle. Computer-, Internet- und neuerdings auch Smartphone-Sucht sind ernstzunehmende Risiken digitaler IT.
Die Nutzung sozialer Netzwerke wie Facebook macht junge Menschen nicht sozialer, sondern depressiver, ängstlicher, unzufriedener und einsamer. Auch dies wurde in mehreren großen Studien nachgewiesen. Sogar Erwachsene sind zufriedener mit ihrem Sozialleben, wenn sie für eine Woche nicht in Facebook sind. Zudem stört Facebook den Schlaf. Wenn schon in Kindheit und Jugend reale soziale Kontakte durch Bildschirme ersetzt werden, vermindert dies die Empathie der jungen Menschen gegenüber Eltern und Freunden.
Nach dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens verursacht digitale IT bei unkritischer Verwendung Bewegungsmangel und Haltungsschäden, Kurzsichtigkeit, Übergewicht, Schlafstörungen (und dadurch Tagesmüdigkeit) und Risikoverhalten sowohl beim Geschlechts- als auch im Straßenverkehr: Durch mehr Gelegenheits-Sex (via sogenannter mobiler Dating Apps wie Tinder auf dem Smartphone) nimmt auch in Deutschland die Häufigkeit von Geschlechtskrankheiten seit etwa fünf Jahren kontinuierlich zu.
Smartphones haben den Alkohol als Unfallursache Nummer eins hinter dem Steuer sowohl in Deutschland als auch in den USA abgelöst. Weiterhin wurde ein hoher Blutdruck und eine Neigung zur Zuckerkrankheit als Folge des Smartphone- und Internetkonsums beschrieben. Beides sind Risikofaktoren für Herzinfarkte und Schlaganfälle, also hierzulande den Todesursachen Nummer eins.
Neben diesen körperlichen Problemen beobachtete man also Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste, Depression (einschließlich Selbstverletzungen und Selbstmordgedanken), Stress, Sucht, mehr Alkohol- und Tabak-Konsum sowie geringeren akademischen Erfolg bis zum Schulversagen. Zudem steigert digitale Informationstechnik die Aggressivität.
Im Hinblick auf den Nutzen von digitaler IT wird immer wieder behauptet, sie würden das Lernen verbessern. Daher fordert Bundeswissenschaftsministerin Johanna Wanka 5 Milliarden Euro für den Ausbau der Digitalisierung an Schulen. Und die Chefin der Länderkultusministerkonferenz, Claudia Bogedan, fordert mehr Smartphone-Nutzung im Unterricht an Schulen.
Begründet werden diese Forderungen auf mehrfache Weise: Das Lernen würde dadurch verbessert. Die (Arbeits-)Welt sei heute nun einmal digital und man müsse die nächste Generation darauf vorbereiten. Der Umgang mit digitaler Informationstechnik müsse gelernt werden und allein deswegen muss der Computer an Schulen eingeführt werden müssten. Digitale Medien seien nun einmal da, und daher müsse man sich mit ihnen beschäftigen. Mit digitaler Technik könne man den Unterricht "individualisierter" gestalten und dies sei prinzipiell gut. Man werde ökonomisch und sozial abgehängt, wenn man sich nicht mit digitaler Informationstechnik beschäftige.
Man hört vor allem sehr oft die Behauptung, dass digitale Medien die Bildungschancen aus bildungsfernen Schichten erhöhen würden. Das Argument klingt zunächst plausibel: Wenn erst einmal jeder das Wissen der Welt mittels eines digitalen Endgeräts und Internetanschlusses zur Verfügung hätte, dann wäre Bildungsungerechtigkeit damit im Wesentlichen abgeschafft (vor allem Kindern von Harz-IV-Empfängern bräuchten ein digitales Endgerät mit Internetanschluss - vgl. die Webseite des Branchenverbandes bitkom). Keines dieser Argumente hält jedoch einer genaueren Prüfung stand. Betrachtet man die vorliegenden Studien sowohl aus Deutschland als auch international, so stellt man fest, dass digitale Medien die Noten von Schülern nicht verbessern, sondern entweder keinen Einfluss haben oder die Noten verschlechtern.
Aus der Tatsache, dass Deutschland die "Autonation Nummer eins der Welt" ist, folgt keineswegs, dass wir den Führerschein in der Schule machen, noch hat jemand ein Schulfach "Automobiltechnik" gefordert. Um die Herausforderungen der Zukunft zu schaffen, brauchen wir motivierte, gebildete und gesunde Menschen. Betrachtet man die Auswirkungen digitaler Medien auf die Motivation, die Bildung und die Gesundheit, so erweisen sie sich eindeutig als schädlich.
Selbst der Umgang mit digitalen Medien und dem Internet wird durch Internet-fähige Computer im Unterricht nicht gelernt, wie große Studien hierzu gezeigt haben (Beispiel: 1000 x 1000 Notebooks im Schulranzen, Hamburger Netbook-Projekt).
Digitale Informationstechnik fällt nicht wie Regen vom Himmel; wir finanzieren sie vielmehr mit privatem und öffentlichem Geld. "Das ist nun einmal so" ist zugleich Ausdruck der Resignation wie auch der unheimlich anmutenden Stärke der IT-Lobby! Denn kaum eine Branche hat es bislang geschafft, ihre Produkte mit dem Argument, das muss jeder nun einmal haben, so erfolgreich zu verkaufen.
Noch nie wurde gezeigt, dass Unterricht tatsächlich besser wird, wenn jeder Schüler auf seinem Bildschirm etwas anderes sieht und nicht mehr gemeinsam nachgedacht wird. Das gemeinsame Durchdiskutieren von Inhalten in der Klasse ist vielmehr - beispielsweise nach einer sehr guten im Fachblatt Science publizierten Studie - der beste Weg zum Aneignen neuer Inhalte.
Das Argument, man werde ökonomisch und sozial abgehängt, wenn man sich nicht mit digitaler IT beschäftige, ist in mehrfacher Hinsicht daneben: Erstens arbeitet es mit Angst (insbesondere der Angst der Eltern, ihre Kinder würden in Zukunft wirtschaftlich oder gesellschaftlich zurück bleiben), die noch nie ein guter Berater war. Zweitens ist es faktisch falsch: denn gerade in Kindheit und Jugend schaden digitale Medien der Bildung in besonderem Ausmaß. Drittens ist es besonders in sozialer Hinsicht schädlich, denn wir wissen heute, dass die digitalen Medien vor allem Kindern und Jugendlichen aus den sozial schwächeren Schichten schaden. Mit anderen Worten: digitale Medien beseitigen nicht die Bildungs-Schere zwischen Arm und Reich, sondern verstärken sie!
Solange nicht geklärt ist, ob der Einsatz digitaler Medien an Schulen tatsächlich zu einem Fortschritt des Lernens führt (das Gegenteil ist nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnis deutlich wahrscheinlicher) ist nicht einzusehen, warum die Verantwortlichen in der Politik öffentliche Gelder investieren. Was die Kultusministerinnen empfehlen, ist etwa so, als würde der Chef-Feuerwehrmann zum Löschen den Einsatz von Brandbeschleunigern empfehlen!
In der Medizin ist gesetzlich geregelt, dass neue Verfahren erst dann zum Einsatz kommen, wenn eindeutig nachgewiesen ist, dass sie besser sind als die alten. Etwas ähnliches wünschte ich mir in der Pädagogik auch! Was uns für die eigene Gesundheit recht ist, sollte uns im Hinblick auf die Gesundheit unserer Kinder und zusätzlich deren Bildung billig sein!
Hinter der "digitalen Bildungsrevolution" stehen massive Interessen der entsprechenden Hersteller. Apple, Google und Microsoft sind die reichsten Firmen der Welt, Amazon, Facebook und Samsung sind ebenfalls unter den ersten zehn.
Es kann und darf nicht sein, dass wir die Bildung und die Gesundheit unserer nächsten Generation den Marktinteressen dieser Firmen überlassen!
Manfred Spitzer
- Der Psychiater, Psychologe und Hochschullehrer wurde 1958 in Lengfeld bei Darmstadt geboren. Er studierte Medizin, Psychologie und Philosophie in Freiburg.
- Von 1990 bis 1997 war er Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg. Als Gastprofessor war er an der Harvard Universität. An der Universität Oregon forschte er im Bereich kognitive Neurowissenschaft und Psychiatrie.
- Seit 1997 hat Spitzer den Lehrstuhl für Psychiatrie der Universität Ulm inne, seit 1998 leitet er die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm. 2004 gründete er dort das TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen.
- Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter "Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert" und "Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen". ble
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