MM-Debatte

Wie moralisch ist Europas Flüchtlingspolitik, Herr Palmer?

Kritiker bezeichnen ihn als "grünen Sarrazin": Boris Palmer eckt an - auch in den eigenen Reihen. Schon lange beklagt er gravierende Fehler im Flüchtlingskurs der Bundesregierung. Er fordert eine neue Perspektive. Ein Gastbeitrag.

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Boris Palmer
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Flüchtlinge laufen 2015 auf einer Straße an der kroatisch-serbischen Grenze. Zwei Jahre nach Beginn der großen Flüchtlingswelle hat der Europäische Gerichtshof in einem Grundsatzurteil die geltenden EU-Asylregeln bestätigt.

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Horst Seehofer (CSU) prägte im Herbst 2015 den Begriff von der "Herrschaft des Unrechts" für Angela Merkels Politik der offenen Grenzen und drohte mit Verfassungsklage. So wollte er den Bund verpflichten, Menschen ohne gültige Einreiseerlaubnis an der Grenze abzuweisen. Er berief sich dabei auf das Grundgesetz und europäisches Recht, die so genannte Dublin-Verordnung, wonach ein Antrag auf Asyl in dem Land der EU zu stellen ist, das ein Asylbewerber zuerst betritt - das kann auf dem Weg über das Mittelmeer niemals Deutschland sein.

Der europäische Gerichtshof hat in einem Grundsatzurteil im Juli dieses Jahres eine Entscheidung getroffen, die zwischen Seehofer und Merkel salomonisch vermittelt. Einerseits bestätigte das Gericht, dass die Dublin-Verordnung gilt und zu keinem Zeitpunkt außer Kraft war. Asylbewerber hätten auf dem Weg von der Türkei also in Griechenland, auf der Balkanroute aber spätestens in Kroatien, einen Antrag auf Asyl stellen müssen. Dies habe, so die Richter, auch in der Notlage des Herbstes 2015 gegolten, in der täglich 10 000 Menschen die Grenzen bis nach Deutschland passiert haben. Horst Seehofer hatte also Recht, die Rechtslage hätte es erlaubt, alle Flüchtlinge an der bayrischen Grenzen abzuweisen.

Andererseits befand der EU-Gerichtshof aber, dass es jedem Mitgliedsstaat gestattet sei, freiwillig seine Grenzen zu öffnen und Flüchtlinge aufzunehmen, die nach der Dublin-Verordnung an sich verpflichtet wären, ihren Asylantrag im Land der Einreise in die EU zu stellen und dort auf die Entscheidung zu warten. Deutschland durfte also Griechenland, den Balkanstaaten und Österreich auf freiwilliger Basis so viele Flüchtlinge abnehmen, wie Politik und Gesellschaft das für richtig hielten. Merkel hatte das Recht, die Grenze für Flüchtlinge zu öffnen und einseitig den Vollzug der Dublin-Verordnung außer Kraft zu setzen, weil Deutschland damit keine Pflicht missachtete, sondern die Pflichten anderer EU-Staaten freiwillig übernahm. Unrecht hat zu keinem Zeitpunkt geherrscht.

Der Spruch der Richter macht aber auch deutlich: Die Politik der offenen Grenze war nicht alternativlos. Sie war im Gegenteil ein äußerst großzügiger Akt, zu dem Deutschland nicht verpflichtet gewesen ist. Das gilt nicht nur rechtlich, sondern auch in der Praxis. Die Kanzlerin behauptete zwar im Herbst 2015 bei ihrem historischen Auftritt in der Sendung von Anne Will, man könne die Grenze gar nicht schließen und Flüchtlinge nicht aufhalten. Mittlerweile wissen wir, dass dies ein konstruierter Sachzwang war. Robin Alexander hat in seinem Buch "Die Getriebenen" minutiös nachgewiesen, dass die Bundespolizei am 13. September 2015 alle Vorbereitungen zur Schließung der Grenze abgeschlossen hatte und der Einsatzbefehl erst in letzter Minute so abgeändert wurde, dass Flüchtlinge die Grenze weiter passieren konnten, auch ohne jedes Ausweisdokument. Merkel und Gabriel hatten der Grenzschließung bereits zugestimmt, es war Innenminister De Maizière, der zum Entsetzen der Bundespolizei aus der geplanten Grenzschließung eine wirkungslose Durchwinkzeremonie machte.

Deutschland hat diese Entwicklung hinter den Kulissen bis heute kaum zur Kenntnis genommen. Auch das Urteil der europäischen Richter löste keine weitere Debatte aus. Flüchtlingspolitik wird in unserem Land moralisch diskutiert, nicht pragmatisch. Die Kanzlerin selbst hat dazu im Herbst 2015 wesentlich beigetragen. In einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Österreichs Kanzler Werner Faymann im September 2015, wenige Tage nach der Grenzöffnung, erklärte sie: "Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." Und in ihrer Rede auf dem Karlsruher CDU-Parteitag im Dezember 2015 verteidigte sie die Grenzöffnung als ethisches Gebot: "Ich sage, dies war nicht mehr und nicht weniger als ein humanitärer Imperativ. Selten zuvor wurden unsere europäischen Werte so herausgefordert." Es war die Kanzlerin selbst, die aus der Flüchtlingspolitik einen moralischen Lakmustest gemacht hat.

Weil aber die Länder und die Städte und Gemeinden angesichts der nie da gewesenen Asylbewerberzahlen Ende 2015 nicht mehr lange durchhalten konnten, geriet die Kanzlerin unter Zugzwang. Die einfache Lösung, die europäischen Partner in die Pflicht zu nehmen, nämlich Kontrollen und Zurückweisungen an der deutschen Grenze, hatte Merkel ausgeschlossen. Also setzte sie eine Pflicht zur Aufnahme von Flüchtlingen für alle EU-Mitgliedstaaten durch, die zur Umverteilung von insgesamt 160 000 Personen führen sollte. Der Beifall in Deutschland für diese Maßnahme war groß. Dass nahezu alle anderen EU-Staaten sich der moralischen Pflicht zur Hilfe verweigern und Deutschland alleine lassen wollten, das hielt man für einen Skandal. Heute wissen wir: Der Beschluss war eine Beruhigungspille. Zwei Jahre später sind nicht einmal zehntausend Flüchtlingen aus der beschlossenen Quote umverteilt worden.

Die Empörung über die Verweigerungshaltung faktisch aller anderen EU-Mitgliedsländern, sich an der Aufnahme durch eine europäische Zwangsquote zu beteiligen, verleitet bis heute deutsche Politiker zu moralischem Großmachtgehabe. Ausgerechnet der Europäer Martin Schulz drohte im Juli damit, als Kanzler ein Veto gegen den EU-Haushalt einzulegen, wenn die Empfängerstaaten von EU-Geldern nicht genug Flüchtlinge aufnehmen. Erfolgversprechend oder nur moralisch überzeugend ist das nicht. Die übrigen EU-Staaten erinnern sich sehr genau, wie Deutschland sich aus der Verantwortung gestohlen hat, als das Problem andere betraf.

So lange das Dublin-System funktionierte, kamen nicht einmal 50 000 Asylbewerber pro Jahr bis nach Deutschland. Das menschliche Elend und die Katastrophen im Mittelmeer erschütterten vor allem Italien. Der damalige italienische Innenminister Roberto Maroni sagte bei einem Brüsseler Treffen der Innenminister im Februar 2011: "Es handelt sich um eine Dimension von Flüchtlingsströmen, wie wir sie noch nie gehabt haben." Eindringlich schilderte er, dass tausende Menschen auf der kleinen Insel Lampedusa gestrandet seien und ein noch größerer Ansturm im Sommer erwartet werde. Italien verlangte eine Revision des Dublin-Abkommens und eine europäische Verteilung der Flüchtlinge. Vor allem Deutschland sperrte sich heftig dagegen. Innenminister Thomas de Maiziere konterte das Ansinnen seines Kollegen trocken: "Italien ist gefordert, aber bei weitem noch nicht überfordert." Bundeskanzlerin Angela Merkel bestätigte diese Haltung der Bundesregierung: Die Flüchtlinge sollten in Italien bleiben.

Deutschland und namentlich Bundeskanzlerin Angela Merkel haben bis zum Herbst 2015 das Dublin-System als Schutz vor Flüchtlingen aufrecht erhalten. Seit dem Frühjahr 2016 ist Deutschland durch einen moralisch schwer begründbaren Vertrag ausgerechnet mit dem türkischen Präsidenten Erdogan vor Flüchtlingen auf der Balkanroute sicher. Wenn es überhaupt einen moralischen Imperativ für Angela Merkel gegeben hat, dann wirkte er nur für ein kurzes Zeitfenster von einem halben Jahr.

Deutschland hat unzweifelhaft mit der Aufnahme von einer Million Menschen in sehr kurzer Zeit eine großartige Leistung vollbracht. Angesichts von 65 Millionen Flüchtlingen weltweit und der nach wie vor dramatischen Situation rund um Syrien und in Teilen Afrikas sollten wir uns dennoch eingestehen: Wir können nicht allen helfen, die unsere Hilfe dringend benötigen. Dieses moralische Dilemma der Flüchtlingspolitik ist nicht auflösbar. Aus diesem Grund gibt es nur wenige Politikfelder, die so ungeeignet sind, unsere gemeinsamen europäischen Werte zu testen.

Statt rechtlichen Zwang auf unsere Partner auszuüben, sollten wir freiwillige Lösungen anstreben. Der Vorschlag meines Parteifreundes Dany Cohn-Bendit, eine europäische Flüchtlingsagentur zu gründen, scheint mir die beste Idee. Organisatorische und finanzielle Unterstützung aus Brüssel bei der Aufnahme von Asylberechtigten in allen Staaten der EU könnte ein Weg sein, Flüchtlingshilfe in Europa gemeinschaftlich nach Leistungsfähigkeit und -willigkeit neu zu organisieren. Deutschland kann mit gutem Beispiel vorangehen, indem es großzügig Flüchtlinge aufnimmt und den moralischen Rohrstock im Tornister lässt. Niemals dürfen wir das europäische Einigungswerk aufgeben, selbst dann nicht, wenn wir uns als die letzten Hüter der europäischen Werte fühlen.

Boris Palmer

Boris Palmer ist wohl Deutschlands bekanntester grüner Bürgermeister. Er wurde 1972 geboren, wuchs als Sohn des Obstbauern Helmut Palmer, der als „Remstal-Rebell“ bekannt wurde, in Gradstetten bei Stuttgart auf.
Palmer studierte Geschichte und Mathematik in Tübingen und Sydney. 2001 wurde er Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg, wo er sich als Umwelt- und Verkehrsexperte der Fraktion Grüne einen Namen machte.
2007 wurde er 34-jährig zum Oberbürgermeister von Tübingen gewählt – und 2014 mit 61,7 Prozent der Stimmen für weitere acht Jahre im Amt bestätigt.
Boris Palmer lebt mit seiner Lebensgefährtin in Tübingen. Er hat zwei Kinder.
Gerade ist sein Buch „Wir können nicht allen helfen. Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit“ im Siedler Verlag erschienen – wenige Wochen vor der Bundestagswahl.

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