Pflegeskandale sind schon fast bitterer Alltag in Deutschland geworden. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht von irgendeinem Heim berichtet wird, in welchem die dort lebenden Menschen unter menschenunwürdigen und skandalösen Bedingungen leben müssen.
Aber es gibt auch gute Heime. Heime, für die die Würde des Menschen keine leere Worthülse ist, sondern in denen die pflegebedürftigen, zum Teil dementen älteren Menschen gut gepflegt werden. Heime, die genügend Personal haben und deren oberstes Ziel gute Pflege und nicht Gewinnmaximierung ist.
Doch leider sind solche Heime in der Minderzahl. Leider gibt es auch zu wenig Heimleiter, die den Mut haben, sich gegen die Träger und für eine menschenwürdige Pflege einzusetzen.
Doch wie ist es in einem reichen Land wie Deutschland überhaupt möglich, dass Heimbewohner nicht satt werden oder minderwertiges Essen bekommen? Dass sie, in Drei-Liter-Windeln verpackt, stundenlang in ihren eigenen Ausscheidungen liegen müssen und mit Psychopharmaka ruhiggestellt werden, damit sie den Heimalltag nicht stören? Die Antwort ist einfach und doch frustrierend zugleich. Schlechte und skandalöse Pflege ist der Gewinnsucht der Träger, vor allem der großen Träger, geschuldet.
Seit Einführung der Pflegeversicherung im Jahre 1995 ist die Pflegebranche, zwischenzeitlich leider sogar das gesamte Gesundheitssystem, in einen Wirtschaftsfaktor übergegangen. Der caritative Charakter und das menschliche Denken den pflegebedürftigen Menschen gegenüber sind der Gewinnsucht der Träger gewichen. Große börsennotierte Unternehmen haben sich gebildet und überschwemmen seither den Pflegemarkt.
Die französische Korian Gruppe, dazu zählen unter anderem die Pflegeheimketten Curanum und Casa Reha, ist dabei, der europäische Marktführer mit 220 Heimen und etwa 25 000 Betten zu werden. Alleine Korian erwirtschaftete im Jahr 2013 einen Umsatz von 2,2 Milliarden Euro.
Diese Zahlen lassen erahnen, welche Gewinne in der Pflegebranche möglich sind. Denn eines ist wohl jedem klar. Die Ziele von börsennotierten Unternehmen sind die Gewinnmaximierung und die Zufriedenstellung der Anleger, die sich möglichst hohe Renditen für ihr angelegtes Geld erwarten - und nicht das Wohlergehen der Heimbewohner.
Doch auch die Wohlfahrtsverbände wie etwa Caritas, Diakonie oder Arbeiterwohlfahrt haben sich die marktwirtschaftlichen Automatismen einverleibt und perfektioniert. Die Wohlfahrtsverbände haben Firmengeflechte aufgebaut, die nicht mehr zu überblicken sind. Gerade bei diesen Organisationen wäre Transparenz angesagt, da sie auch von Spendengeldern leben.
Natürlich könnte man jetzt annehmen, dass sich der Gesetzgeber für eine bessere und menschenwürdige Pflege einsetzt. Das ist schließlich auch eine Aufgabe der Politiker und dafür wurden sie schließlich auch von uns gewählt.
Man kann aber den Eindruck gewinnen, dass sie mit Verbänden und Unternehmen stärker vernetzt sind als es gutzuheißen wäre: So war unser früherer Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP), bevor er zum Minister berufen wurde, Mitglied des Beirats der ERGO Versicherungsgruppe AG. Seit Anfang 2017 ist er nun nach dem Ende seiner Politiklaufbahn sogar in den Vorstand der Krankenversicherung der Allianz aufgerückt. Das lässt erahnen, wer von seiner Politik, speziell vom sogenannten Pflege-Bahr, am meisten profitiert hat.
Aber auch Karl Lauterbach (für die SPD im Bundestag) war bis 2013 im Aufsichtsrat der Rhön-Klinikum AG, einem börsennotierten Unternehmen, und bekam allein dafür schon einmal zwischen 50 000 und 60 000 Euro - pro Jahr. Der ehemalige gesundheitspolitische Sprecher der CDU, Jens Spahn, hat sogar mit dem Leiter seines Abgeordnetenbüros und einem befreundeten Lobbyisten die Beratergesellschaft Politas GbR gegründet. Hauptsächlich wurden Kunden aus der Pharma- und Gesundheitsbranche beraten. Unser jetziger Gesundheitsminister ist mit der Diakonie verwurzelt. Die Liste der abhängigen Politiker ist aber noch viel länger.
Da erstaunt es nicht, dass von diesen Politikern Gesetze gemacht werden, die nicht dem Wohle der kranken und pflegebedürftigen Menschen dienen, sondern vielmehr dazu geeignet sind, die Kassen der profitgierigen Träger zu füllen.
Die von diesen Politikern erarbeiteten Gesetze erlaubennicht nur, sondern sie fördern meiner Meinung nach sogar die schlechte Pflege. Die derzeit gültigen Vorschriften haben dazu geführt, dass mit schlechter Pflege viel Geld und mit guter Pflege wenig bis gar kein Gewinn gemacht wird.
Ein Beispiel ist das vorzuhaltende Pflegepersonal und deren Einsatzbereiche. Im Pflege- und Wohnqualitätsgesetz ist genau geregelt, wie viele Zentimeter das Waschbecken von der Wand entfernt sein muss. Zum Personaleinsatz für die eigentliche Pflege steht darin lediglich, dass eine Pflegefachkraft anwesend sein muss.
Diese Vorschrift, oder besser gesagt diese Erlaubnis zur Personaleinsparung, hat dazu geführt, dass es Heime gibt, die nachts nur eine Pflegekraft für 60 bis 80 pflegebedürftige Bewohner einsetzen. Das ist schlicht und einfach gefährliche Pflege und ein verbrecherisches System.
Begründet wird dies oft damit, dass dann tagsüber mehr Personal da ist. Doch meist müssen in solchen Heimen dann die Pflegekräfte auch noch hauswirtschaftliche Tätigkeiten wie Essen zubereiten, Waschen und Putzen übernehmen, also fachfremde Leistungen.
Zu diesem Thema steht im Gesetz nämlich nur, dass hauswirtschaftliche Leistungen vorgehalten werden müssen. So spart sich ein solches Heim den Einsatz von Hauswirtschaftspersonal. Und die restlichen Leistungen werden dann an Fremdfirmen vergeben.
Meist gehören diese Fremdfirmen dann aber auch noch den Trägern selbst. So verdienen sie doppelt. Und unsere Politiker lassen das zu, oder soll man sogar sagen, sie fördern menschenunwürdige Pflege durch diese von den Lobbyisten gesteuerte Gesetzgebung.
Und um dieses kranke menschenverachtende Pflegesystem nach außen gut darzustellen, wurde schließlich der Pflege-TÜV erfunden. Der Pflege-TÜV sollte, zumindest wurde es so dargestellt, Transparenz über die Qualität der einzelnen Heime bringen und bei der Suche nach einem Heimplatz eine schnelle Hilfe darstellen. In Wirklichkeit ist der Pflege-TÜV die Legalisierung des Betrugs und übelste Verbrauchertäuschung.
So bekommt ein Heim für das Essen eine "Eins", wenn der Speiseplan in Schriftgröße 14 ausgehängt wird. Ob das Essen frisch zubereitet wird, oder ob es sich um einen Fertigfraß von einem Cateringservice handelt, spielt keine Rolle.
Noch menschenverachtender ist aber, dass ein Heim für einen gravierenden Pflegefehler - wie etwa ein Dekubitus (Druckgeschwür, auch Wundliegen, eine chronische Wunde) - bei richtiger Dokumentation eine "Eins" bekommt. Dabei ist ein Dekubitus zu 70 Prozent ein Pflegefehler und somit eigentlich eine Körperverletzung.
Das wiederum kommt daher, dass die meisten Fragen von den Trägern, deren Heime geprüft werden, selbst erarbeitet wurden. Das ist, als ob eine Abiturklasse die Prüfungsfragen selbst erstellen dürfte. Da hätte sogar die letzte Niete ein Einser-Abitur. Genauso läuft es aber in der Pflege. Da wundert es nicht, dass fast alle Heime eine "Eins" vor dem Komma haben.
Dabei ist allen, die mit der Pflege zu tun haben klar, dass mit dem derzeit gültigen Personalschlüssel eine gute Pflege schlicht nicht leistbar ist. Selbst gut geführte Heime stoßen da an ihre Grenzen.
Und den Prüforganen ist auch klar, dass viele Leistungen nur auf dem Papier erbracht werden. Dabei ist jede Pflegeleistung, die in der Dokumentation der Bewohner eingetragen oder angekreuzt, aber nicht erbracht wurde, eine Urkundenfälschung und erfüllt zudem noch den Straftatbestand des Betruges. Doch die meisten Pflegekräfte sind sich der Tatsache, dass sie täglich für ihre Heime Straftaten begehen, gar nicht bewusst.
Es ist noch nicht lange her, da haben die Medien darüber berichtet, dass russische Pflegedienste die Kassen durch Scheinleistungen organisiert betrogen haben. Jetzt stellt sich hier die Frage, wo der Unterschied ist zwischen diesen mafiösen Pflegediensten und den Heimen, die täglich Leistungen dokumentieren, die sie gar nicht leisten können, für die sie aber von den Bewohnern und den Pflegekassen Geld bekommen? Der Unterschied ist ganz einfach zu erkennen. Die Heime stehen unter dem Schutz der von Lobbyisten gesteuerten Politiker. Jeder weiß es, und keiner tut etwas dagegen.
Deshalb trägt mein Buch den Titel "Der Pflege-Aufstand". Damit ist der Wunsch und die Hoffnung verbunden, dass sich die Pflegekräfte eines Tages solidarisieren und nicht aus falsch verstandener Treue zu den Heimen dieses kranke, auf Gewinn ausgerichtete System weiter am Leben erhalten.
Armin Rieger
- Armin Rieger, Jahrgang 1958, arbeitete viele Jahre als Polizeibeamter und verdeckter Ermittler bei der Drogenfahndung, anschließend in der Immobilienbranche. Seit 1998 ist er Leiter des Seniorenheims "Haus Marie" in Augsburg, außerdem Gründungsmitglied des Augsburger Pflegestammtisches.
- Gegen die unhaltbaren Zustände in deutschen Pflegeheimen hat Armin Rieger 2014 Verfassungsbeschwerde eingelegt. Dieses Jahr ist sein Buch "Der Pflege-Aufstand: Ein Heimleiter entlarvt unser krankes System - Würdige Altenpflege ist machbar" im Ludwig-Verlag erschienen.
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