Wie können wir nachhaltige Gewohnheiten im Alltag etablieren, Herr Kaiser?

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Diesen Spruch kennt doch jeder. Welche Abenteuer warten auf uns, wenn wir unsere kaum infrage gestellten Gewohnheiten durchbrechen? Ein Gastbeitrag.

Von 
Corina Busalt
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Unser Gastautor schreibt: „Psychologen sagen, dass es etwa 66 Tage dauert, um eine neue Gewohnheit zu etablieren“. Das sei durchaus machbar, findet er. © picture alliance/dpa

Neulich war ich bei der Osteopathin. Während der Behandlung fragte sie plötzlich: „Nehmen Sie beim Treppensteigen eigentlich immer die rechte Seite zuerst?“ Ich überlegte kurz und lachte dann: „Ja, jetzt wo sie es sagen! Aber warum eigentlich?“ Sie zuckte mit den Schultern: „Man spürt es an Ihrem Körper.“ Da wurde mir wieder klar: Wir tun jeden Tag so viele Dinge, ohne je darüber nachzudenken, warum. Diese Gewohnheiten haben mit der Zeit Folgen. Genau mit diesem Gedanken beginnt das Abenteuer.

Warum Gewohnheiten so mächtig sind

Ich habe mal gelesen, dass 40 Prozent unseres Verhaltens auf Gewohnheiten basieren. Das kommt mir sogar wenig vor. Beobachten Sie sich gern mal selbst: Wie viel Zeit Ihres Tages verbringen sie so, weil sie es einfach gewohnt sind? Alle unsere Routinen haben natürlich einen Sinn: Sie helfen uns, Energie zu sparen und im Zweifel zu überleben. So weit, so sinnvoll. Viele Gewohnheiten haben wir so verinnerlicht, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen. Sie sind bequem, wie ein gemütliches, durchgesessenes Sofa. Deshalb bleiben wir darauf sitzen – zumal wir gar nicht so richtig merken, dass es noch da ist.

Psychologen sagen, dass es etwa 66 Tage dauert, um eine neue Gewohnheit zu etablieren. Klingt machbar, oder? Aber in der Praxis ist das oft zäh. Ich habe es selbst erlebt: Als gelernter Kfz-Mechaniker war das Auto für mich jahrzehntelang ein Symbol für Freiheit, Unabhängigkeit und Status. Heute? Mein Wagen steht irgendwo in Berlin. Ich habe ihn mit einem Tracker ausgestattet, damit ich ihn bei Bedarf finde. Inzwischen fahre ich fast nur noch Rad oder Bahn. Warum? Weil es für mich besser funktioniert. Der Weg dahin war allerdings ein Prozess.

Mein „Switch-Moment“

Alles begann vor über 20 Jahren im Dentallabor meiner Familie. Einer unserer Kunden schrieb seine Doktorarbeit über schädliche Zusatzstoffe in Zahnpasta. Wir kamen auf die Idee, eine wasserfreie Alternative zu entwickeln. Das war mein „Switch-Moment“. Kaum etwas lernen wir früher als Zähneputzen: Nach der Windel kommt die Zahnpasta. Zwei Mal pro Tag, drei Minuten. Wir können es uns gar nicht anders vorstellen. Ich selbst hatte nie in Zweifel gezogen, dass das so auch richtig ist. Geballte Naivität! Und das ausgerechnet bei mir.

Nicht, dass ich nicht schon immer neugierig war. Aber diese Erkenntnis und meine bewusste und erfolgreiche Verhaltensänderung hat (so mir erklärt von Neurowissenschaftlern) in meinem Hirn den Wunsch nach noch mehr Endorphinen geweckt, weil ich diese Veränderung erfolgreich umgesetzt hatte, die allem Gelernten widerspricht.

Der Gastautor



  • Axel Kaiser ist der Erfinder der Zahnputztablette sowie Gründer und Geschäftsführer eines Unternehmens, das mit Zahnputztabletten für gesunde Zahnpflege und eine nachhaltige Wirtschaft einsteht.
  • Zudem fungiert Kaiser seit 2007 als Mitglied des Vorstands im Bundesverband nachhaltige Wirtschaft (BNW) e.V. und ist Mitbegründer der Initiative Kreislaufverpackung (2020).

Zunächst unmerklich, inzwischen ganz bewusst, fing ich an, alles mögliche zu hinterfragen: Was genau ist Shampoo? Was steckt in unserem Essen? Ist es nicht schlauer, Strom ohne Rohstoffkosten herzustellen? Und so weiter. Und selbst meine Mobilität kam auf den Prüfstand.

Mit jeder neuen Erkenntnis merkte ich: Veränderungen machen das Leben spannender und oft einfacher. Ich bin nicht süchtig nach Veränderung geworden, aber mein Gehirn nach Endorphinen. Jede erfolgreiche Umstellung hat mich motiviert, die nächste Gewohnheit anzugehen. Selbst das bewusste Festhalten an Gewohntem funktioniert!

Veränderung als Gewinn verstehen

Viele sagen: Veränderungen bedeuten Verzicht. Das wird politisch auch oft suggeriert. Ich sehe das anders. Seit ich das Auto kaum noch nutze, gewinne ich Zeit, Geld und Nerven. Statt Kleidung wegzuwerfen, flicke ich sie – mit einer meiner inzwischen drei Nähmaschinen. Hier zählt für mich der Erfolg des Machens, nicht das Geldsparen. Plastikmüll? Immer weniger, manchmal tagelang nichts. Und das macht Spaß!

Mehr noch: Veränderung steckt an. Kürzlich schenkte ich meinem Bruder ein Balkonkraftwerk. Jetzt freut er sich jeden Tag, wie viel Strom er spart – und kommt der Idee der Stromgewinnung auf dem Dach immer näher. Eine Freundin hat ihre Garderobe komplett auf Secondhand umgestellt, nachdem sie großartige Stücke gefunden hat. Nicht wegen des Klimas, sondern wegen der Freude am Finden. Was als kleine Veränderung beginnt, kann also eine Welle auslösen. Aber wie fängt man an?

Praktische Tipps für nachhaltige Veränderung

Eher nicht mit Neujahrsvorsätzen: „Ab 1. Januar mache ich Sport, esse nichts Süßes mehr, höre auf zu rauchen und engagiere mich ehrenamtlich.“ Wie viel davon ist Ende Januar noch übrig? Mir haben ein paar kleine Tipps viel mehr geholfen als die besten Vorsätze:

  • Mit kleinen Schritten loslegen: Kleine, erreichbare Ziele machen es wahrscheinlicher, dass wir unsere Gewohnheiten langfristig verändern. Ich habe das mit dem Autofahren so gemacht und irgendwann einfach beschlossen, einen Monat nur mit dem ÖPNV durch Berlin zu kommen. Erst so habe ich erkannt, wie körperlich anstrengend Autofahren ist – und wie viel besser ich die Zeit z. B. lesend in Bus und Bahn verbringe.
  • Neue Routinen etablieren: Verknüpfen Sie die neue Gewohnheit mit einer bestehenden Routine. Wenn Sie mehr Wasser trinken möchten, stellen Sie ein Glas Wasser neben Ihre Kaffeemaschine und trinken Sie es, während der Kaffee durchläuft.
  • Belohnungen nutzen: Unser Gehirn liebt Belohnungen. Jede erfolgreiche Veränderung setzt Endorphine frei und motiviert uns, weiterzumachen. Kosten Sie dieses Gefühl aus.
  • Umfeld anpassen: Gestalten Sie Ihr Umfeld so, dass es die neue Gewohnheit unterstützt. Wenn Sie weniger Fleisch essen möchten, kaufen Sie mehr pflanzliche Lebensmittel ein. Wenn Sie sich mehr bewegen wollen, stellen Sie Ihr Auto einen Kilometer von zu Hause entfernt ab.
  • Geduld haben: Erwarten Sie nicht, dass sich Gewohnheiten über Nacht etablieren. Das dauert eben durchschnittlich 66 Tage. Aber: Jeder Tag ist eine neue Chance. Stellen Sie es sich als Spiel, als Abenteuer, als Wettbewerb mit sich selbst vor. Entwickeln Sie Spaß an der Veränderung!

Die Kraft der Enkelfähigkeit

Wenn ich über Veränderungen spreche, denke ich oft auch an den Begriff „enkelfähig“. Der Gedanke: Die Welt so gestalten, dass unsere Kinder und Enkel in ihr atmen, arbeiten und träumen können. Das bedeutet, die großen Fragen unserer Zeit – Klimakrise, Ressourcenverbrauch, Umweltzerstörung – nicht zu verdrängen, sondern anzugehen. Anders als oft behauptet, müssen wir dabei nicht mit Last und Pflicht kämpfen. Veränderung kann Spaß machen. Sie kann uns zeigen, dass ein anderes Leben möglich ist – und uns manchmal sogar spüren lassen, dass wir überhaupt noch am Leben sind.

Und: Jede kleine Entscheidung, die wir heute treffen, hat einen Effekt. Die Summe dieser Entscheidungen wird darüber bestimmen, wie unser Leben und unsere Welt morgen aussieht. Nichts ist perfekt

Der schwierigste Schritt, die Erkenntnis, ist immer der Erste. Für mich war es die Zahnpasta. Für andere kann es das Auto sein, der erste Besuch im Secondhand-Laden oder der Verzicht auf Einwegplastik. Wichtig ist nur, dass man anfängt. Und das Beste daran ist: Jede erfolgreiche Veränderung setzt Endorphine frei, macht uns glücklich und motiviert uns, weiterzumachen.

Veränderungen sind also vor allem unsere Chance, das Leben besser zu machen – für uns, für andere und für die Generationen nach uns. Warum daher nicht heute anfangen – mit dem Coffee to go, der Treppenstufe oder etwas ganz anderem? Perfekt muss nichts sein. Aber eines verspreche ich Ihnen: Es wird sich lohnen. Und dabei haben Sie noch Spaß.

Redaktion

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