Debatte

Wie können wir mehr Nächstenliebe lernen, Herr König?

Von 
Jochen König
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Nächstenliebe: Ein großes Wort! Nächstenliebe? Ist das nicht ein Wort, das aus der Zeit gefallen zu sein scheint? Haben wir gerade jetzt nicht andere Sorgen, als solch verstaubten Relikten nachzuspüren? Ein Blick in die Bibel: „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst.“ (3, Mose 19,18; Matthäus 22, 39). Ist uns diese Haltung wirklich möglich? Liegt sie in der Natur des Menschen, der sich mit anderen Menschen oft in einem Wettbewerb befindet? Und all dies vor dem Hintergrund, dass in der derzeitigen Situation ein Riss durch die Gesellschaft zu gehen scheint? Ist Nächstenliebe also überhaupt sinnvoll? Und, falls ja, kann man sie lernen?

Schon Liebe ist ein vielseitiger Begriff, der mit Worten kaum zu fassen ist - eros: leidenschaftliche Liebe; philia: freundschaftliche Liebe; agape: bedingungslose Liebe; storge: familiäre Liebe; mania: besitzergreifende Liebe; philautia: Selbstliebe; ludus: spielerische Liebe; pragma: lebenslange Liebe. Diese Übersicht zeigt die mannigfaltigen Facetten dieses so starken Gefühls.

Eine innige Verbundenheit zum Mitmenschen, eine Haltung der jederzeitigen und unhinterfragten Unterstützung ohne Erwartung einer Gegenleistung, eine tief beseelte Zuwendung, so mag man Liebe definieren. Worte aber versagen zwangsläufig, diese Tiefe angemessen zu beschreiben. Alle, die lieben oder jemals liebten, können dies bestätigen.

Wie aber steht es mit der Liebe zu den Nächsten, mit denen ja eher die Übernächsten, also nicht die einem ganz Nahestehenden, gemeint sind? Wenn wir Nächstenliebe eher weltlich als Altruismus verstehen, dann sprechen wir von einem selbstlosen Eintreten für andere Menschen, unabhängig davon, welche soziale Stellung und welche Verdienste diese haben. Und am herausforderndsten: unabhängig davon, wie sympathisch uns jemand ist. Liebet eure Feinde?

Damit sind wir an keinem geringeren Wert als dem der Menschenwürde angelangt: Der Mensch soll, so Immanuel Kant, niemals nur Mittel sein, sondern als Selbstzweck angesehen und gewürdigt werden. Wer diese Haltung bejaht, ob religiös oder humanistisch motiviert, der oder die kann die „nächste“ Person als wertvoll ansehen und ihr ein Wohlwollen entgegenbringen. Ich nenne dies das „ausgenutzte Mitfreudepotential“.

Wie aber sieht es in der Praxis aus? Da beobachten und erleben wir ja täglich beide Seiten des Menschen: Egoismus auf der einen, Altruismus auf der anderen Seite. Futterneid und Gier auf der einen Seite, Hilfsbereitschaft in Notsituationen auf der anderen. Beispiele für beide Anlagen im Menschen gibt es en masse: die große Hilfsbereitschaft nach der Flutkatastrophe im Ahrtal. Plünderungen nach Naturkatastrophen. Zivilcourage in der Straßenbahn. Verweigerung der Hilfe für einen ohnmächtigen Obdachlosen. Und und und… Wir Menschen scheinen tatsächlich das Engelchen auf der linken und das Teufelchen auf der rechten Schulter sitzen zu haben und beide flüstern uns etwas ein.

Natürlich kommt man nicht umhin, einen Blick auf die Corona-Lage, die uns seit Frühling 2020 bedrängt, zu werfen. Hierzu ist eine differenzierte Beurteilung geboten. Wer nicht mehr willens und fähig ist, Menschen mit anderen Meinungen als zu respektierende Persönlichkeiten anzunehmen, ist nicht nur vom hohen Anspruch der Nächstenliebe weit entfernt, sondern auch vom Minimalanspruch einer Toleranz, die davon ausgeht, dass der Andere auch recht haben könnte, wie Hans-Georg Gadamer sagte. Stigmatisierungen verfestigen verkrustete Strukturen, die einen echten Diskurs unmöglich machen. Habermas’ „zwangloser Zwang des besseren Arguments“ wird dann durch das Ressentiment, das geronnene Vorurteil, ersetzt und der soziale Frieden wird aufs Spiel gesetzt.

Diesen sozialen Frieden zu bewahren, ist unsere Verpflichtung als Menschen. Weil wir es können. Ob wir dies aus Überzeugung tun oder ob wir die negativen Folgen im Blick haben, wenn wir versagen, ist im Ergebnis einerlei. Freilich hilft eine menschenfreundliche Grundeinstellung ungemein dabei. Diese kann durch Bildung enorm gefördert werden.

Nächstenliebe also als ein Element der Bildung? Dies mutet erst einmal seltsam an. Moral im Allgemeinen und Nächstenliebe im Besonderen bauen nicht ausschließlich auf Vernunft auf.

So liest man beim schottischen Philosophen David Hume in seinem Traktat über die menschliche Natur: „Es läuft der Vernunft nicht zuwider, wenn ich lieber die Zerstörung der ganzen Welt will als einen Ritz an meinem Finger. Es widerspricht nicht der Vernunft, wenn ich lieber meinen vollständigen Ruin auf mich nehme, um das kleinste Unbehagen eines Indianers oder einer mir gänzlich unbekannten Person zu verhindern.“

Hume geht dem Mitgefühl nach. Es werde durch drei Sachverhalte begünstigt: der Ähnlichkeit der Natur der Menschen (körperlich wie geistig), weiteren Übereinstimmungen wie Sprache, bestimmte Sitten oder das Vaterland. Und schließlich nähmen Stärke und Lebhaftigkeit des Mitgefühls zu, je näher uns Verwandte und Freunde persönlich stehen. Dies kann man durch eigenes Erleben sicher bestätigen. Mir scheinen Nächstenliebe, Altruismus und Solidarität sowohl aus einem inneren Antrieb heraus als auch durch Reflexion und Perspektivwechsel zu entstehen.

Der Gastautor

  • Jochen König wurde 1962 in Buchen im Odenwald geboren, wuchs in Bödigheim auf, lebte fast 30 Jahre in Mannheim und ist nun in Heidelberg zu Hause.
  • Nach dem Studium der Betriebswirtschaftlehre an der Universität Mannheim war er 25 Jahre lang in leitenden Marketing-Positionen tätig. Nebenberuflich studierte er Philosophie an der Fern-Universität Hagen, promovierte an der Universität Koblenz und ließ sich zum Philosophischen Praktiker ausbilden.
  • Heute ist er neben einer umfangreichen Dozententätigkeit mit einer Marketingberatung für mittelständische Unternehmen sowie dem Institut für Weisheitsliebe (Philosophische Praxis) tätig. Bild: Ute Ritter
  • Mehr Informationen unter www.weisheits-liebe.de

Wir sind heutzutage gut beraten, einem weltlichen Begriff der Nächstenliebe nachzuspüren, und doch sei zuvor nochmals ein Blick in die Bibel gegeben: „Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; / doch am größten unter ihnen ist die Liebe.“ (1. Kor. 13). Was hier gemeint ist, ist agape, die Form der bedingungslosen Liebe, die sowohl das Göttliche als auch das Menschliche umfasst. Während eros auf ein Verlangen zielt, ist agape als Hingabe aufzufassen. Eine solche Hingabe bedingt natürlich Vertrauen: Gottvertrauen, Urvertrauen oder einfach Vertrauen in den Nächsten oder die Nächste.

Bei Friedrich Schiller kann man lesen: „Alle Menschen werden Brüder“ (Ode an die Freude). Dies ist sicher, abgesehen davon, dass die Schwestern fehlen, sehr idealistisch. Mit gutem Willen aber im jeweils eigenen kleinen Umfeld auf die Mitmenschen zuzugehen, kann ein Anfang sein. Vielleicht ist ja „Nächstenliebe light“ dieser Anfang, der schon vieles besser machen könnte. Neben Empathie, Selbstreflexion und Perspektivwechsel darf man auch das Prinzip Vertrauen bemühen und auf die unterschätzte Tugend der Herzensbildung bauen.

Kommen wir auf das biblische Eingangszitat „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst“ zurück. Abgesehen davon, dass die Formulierung „Du sollst“ immer hinterfragt werden darf, ist es interessant auszuloten, ob das „(…) wie Dich selbst“ erreichbar ist. Wann liebt man sich selbst? Wenn man zufrieden ist, mit dem, was man macht? Ist das Gegenteil von Liebe Hass oder Gleichgültigkeit?

Nun, es ist das Wesen der Philosophie, nicht alle Fragen abschließend zu beantworten, sondern die richtigen Fragen zu stellen und damit das Denken in Bewegung zu halten.

Es scheint offensichtlich, dass Altruismus und Egoismus Geschwister sind. Es ist damit nicht gesagt, dass Egoismus per se etwas Negatives sei (der Überlebensdrang ist unserer Natur gemäß). Und es ist ebensowenig eindeutig, dass Altruismus nur edel ist (man schlägt sich manchmal ob seiner Selbstlosigkeit im Stillen schon mal eitel selbst auf die Schulter).

Wann aber obsiegt Egoismus, wann Altruismus? Das Prinzip der Aufklärung formulierte Immanuel Kant: „Sapere aude! Habe Mut, Dich Deines Verstandes zu bedienen!“ Fügen wir hinzu: „Habe auch den Mut, Dich Deines Herzens zu bedienen!“. Kronzeugen dafür gibt es; schon Blaise Pascal wusste: „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.“ Und Antoine de Saint-Exupéry lässt seinen kleinen Prinzen sagen: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“

Es wirkt paradox, aber, wenn man sich selbst zugunsten seiner Nächsten etwas zurücknimmt, kann man daraus mit Gewinn wachsen. Nehmen wir alle menschlichen Kräfte zusammen: Vernunft, Verstand, Gefühl, Intuition und nicht zuletzt den guten Willen, sich und die Welt zu bewegen, um sozialen Frieden zu bewahren. Dann kann man Nächstenliebe lernen - im Sinne von immer wieder neu einüben.

Und dazu ist die Liebe zu sich selbst nicht nur Voraussetzung, sondern auch Ergebnis. Ob das beim Nächsten ankommt, wird man an seiner Resonanz merken. Nächstenliebe zeigt sich in den Taten. Nächstenliebe, in der Tat: ein großes Wort!

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