Debatte

Wie können wir medienmündig werden, Herr Pörksen?

Die Bildungsdebatten über die digitale Gesellschaft sind visionsarm und floskelhaft. Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen meint: Wir müssen endlich streiten, wie wir Öffentlichkeit gestalten wollen. Das heißt: Wir müssen über Werte reden. Ein Gastbeitrag.

Von 
Bernhard Pörksen
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Soziale Netzwerke werden immer mehr zur Nachrichtenquelle. Aber hinterfragen wir auch, was wir dort lesen? © istock/Peter-Andreas Hassiepen

Es gibt in den Bildungs- und Digitaldebatten unserer Tage eine hoch infektiöse Krankheit, die man das Floskel-Fieber nennen könnte. Symptomatisch ist ein von geistlosem Opportunismus geprägtes Gerede, das von der Prämisse zusammengehalten wird, dass hübsch designte Medienwerkzeuge automatisch klügere, mündigere Menschen hervor bringen. Man fordert Programmierkenntnisse und eine Gründermentalität für Siebtklässler, glaubt, dass Whiteboards, ein Tablet für jedes Schulkind und W-Lan alles schneller und damit auch unvermeidlich besser machen. Freundlicher formuliert handelt es sich im Falle des Floskel-Fiebers um eine bloße modische Rhetorik, die verbirgt, dass man eines nicht wirklich will, nämlich im Angesicht der laufenden Medienrevolution einigermaßen ernsthaft um Werte streiten, um die Maximen und die Maßstäbe des Zusammenlebens in der Öffentlichkeit.

Dabei ist längst offensichtlich, dass diese Öffentlichkeit, verstanden als der geistige Lebensraum einer liberalen Demokratie, heute bedroht ist wie selten zuvor. Es ist ein eigentümliches Zusammenspiel von moderner Medientechnologie, digitaler Ökonomie und menschlicher Psychologie, die das gesellschaftliche Kommunikationsklima zu ruinieren droht. Fake-News und Propagandapostings wirbeln durch die sozialen Netzwerke. Social Bots simulieren eine Meinungsmacht, die so nicht existiert. Und das Tremolo widersprüchlicher Ad-hoc-Informationen verstärkt die allgemeine Verunsicherung und führt dazu, dass Menschen sich an dem orientieren, was sie ohnehin glauben oder für wahr halten wollen. Gleichzeitig verstärken Algorithmen die Polarisierung, weil sie extreme, aufput-schende Nachrichten bevorzugen, die ihrerseits nach Kräften von einem medienmächtig gewordenen Publikum geteilt und geliked werden.

Wir wissen heute: 126 Millionen US-Amerikaner waren während des Schmutzwahlkampfes auf Facebook mit russischen Propaganda-Postings konfrontiert, die Donald Trump nutzen sollten; es ist also (am Ende ging es um weniger als 100 000 Stimmen) durchaus möglich, dass das soziale Netzwerk – eigentlich ein Datenhändler, das seine Nutzer in ein Produkt verwandelt – wahlentscheidend wirkte. Wir wissen heute, dass der gerade noch von gelenkigen Marketing-Chefs gefeierte Datenspezialist Alexander Nix (Cambridge Analytica) seinen Kunden auch kriminelle Manipulationen andiente. Wir wissen heute, dass Russland, die Türkei und andere autokratisch regierte Länder ganze Trollarmeen in die sozialen Netzwerke entsenden, die Gegner niederbrüllen und verfolgen. Wir wissen heute, dass 40 Prozent der Netznutzer schon einmal online beleidigt oder belästigt worden sind und sich Gemäßigte aus der öffentlichen Sphäre zurückziehen, weil die oft anonymen Hassattacken einschüchternd wirken – das ist die Schweigespirale 2.0. Und wir erleben längst, dass Populisten und Extremisten in Europa zu den Profiteuren einer veränderten Medienwelt gehören. Dies deshalb, weil sich die Grenzen des Sagbaren rasant verschieben und jede Menge abseitiger, hasserfüllter und extremistischer Ansichten öffentlich werden. Dies deshalb, weil sich eben auch die gerade noch isoliert vor sich hin keifenden Giftzwerge des Universums verbünden und mit neuem Selbstbewusstsein in eine Art Mehrheitsillusion hinein hypnotisieren können. Und dies schließlich auch deshalb, weil die Macht etablierter Gatekeeper schwindet und der klassische Journalismus schwächer wird, seine Finanzierungsgrundlagen bröckeln. (Von einem Werbedollar auf dem Digitalmarkt gehen inzwischen durchschnittlich 60 Cent an Google oder Facebook; Google/Alphabet hat 2017 95 Miliarden Dollar mit Werbung eingenommen, Facebook im selben Jahr 40 Milliarden Dollar).

In dieser Situation ist es bestenfalls fahrlässig, in technokratischer Euphorie und in elementarer Unkenntnis systemischer Desinformationseffekte einfach nur auf mehr Tablets und schnelleres W-Lan zu hoffen. Denn auch das könnten wir wissen: Angehende Lehrer und Schüler informieren sich politisch wesentlich in sozialen Netzwerken, den Plattform-Monopolen der barrierefreien Manipulation. Oft fehlt ihnen, auch das zeigen aktuelle Studien, das basale Medienwissen für den effektiven Glaubwürdigkeits-check. Darüber hinaus wird die Herkunft und die Quelle einer Information überhaupt nur von 50 Prozent der Online-Nutzer beachtet.

Informationen ganz unterschiedlicher Güte, Qualität und Herkunft fließen in sozialen Netzwerken relativ unterschiedslos zusammen. (Das Katzenvideo rivalisiert direkt mit Spektakel-News und tatsächlich bedeutsamen Nachrichten.) Und schließlich gilt, dass Menschen die konkreten Inhalte ohnehin länger im Gedächtnis behalten als die Quellen, aus denen diese stammen. Das heißt, Nonsens-Botschaften aus dubiosen Kanälen, die man einfach nur endlos wiederholt, gewinnen allmählich unvermeidlich an Glaubwürdigkeit, weil ihre unseriöse Herkunft zunehmend verblasst, vergessen wird. Das ist der Schläfereffekt der Propaganda, ihre immanente Dominanz.

Wenn man diese Betrachtung von Medientechnologie, digitaler Ökonomie und menschlicher Psychologie zu einer einzigen Schlussfolgerung verdichtet, dann lautet diese: In der gegenwärtigen Mediensituation zeigt sich ein gigantischer, gesellschaftspolitisch noch überhaupt nicht entzifferter Bildungsauftrag, eine noch unverstandene Herausforderung. Was also könnte man tun? Es ist nötig, den Umgang mit Informationen und eine allgemeine Kommunikationsethik schon in der Schule einzuüben – auf dem Weg zu einer Medienmündigkeit und einer zweiten Aufklärung, die die kommunikativen und medialen Bedingungen der Aufklärung selbst greifbar werden lässt. Das Plädoyer, das ich in meinem Buch entfalte: Die digitale Gesellschaft der Gegenwart muss zur redaktionellen Gesellschaft der Zukunft werden. Gemeint ist damit, dass die Ideale des guten Journalismus zu einem Element der Allgemeinbildung werden sollten.

Zu diesen Idealen und Prinzipien zählen: die Prüfung von Quellen, von Faktizität und Relevanz; das Bemühen um Proportionalität, also der Versuch, eine Sache „nicht größer zu machen als sie ist“; die Maßgabe, sich nie nur auf einen einzigen Informanten zu verlassen, sondern stets auch die andere Seite zu hören; eine gesunde Portion Skepsis und ein Bewusstsein für die eigenen blinden Flecken und Vorurteile. Eben weil jeder, das Smartphone in der Hand, zum Sender geworden ist, sollte auch jeder lernen, als sein eigener Redakteur zu handeln, so der Grundgedanke. Und in den Maximen des guten Journalismus liegt, so meine ich, eine Kommunikationsethik, die heute jeden angeht. Sie sollte in der Schule gelehrt werden – als Mischung aus Medienpraxis und Medienanalyse.

Natürlich ist das nur eine mögliche Idee, nur ein Vorschlag, der es vielleicht gerade in Zeiten des grassierenden Medienmisstrauens, in der die Lügenpresse-Schreie in manchen Milieus lauter werden, besonders schwer hat. Aber es geht auch nicht primär darum, dass sich ein einzelnes Konzept durchsetzt, sondern dass wir die längst überfällige Wertedebatte mit der nötigen Energie und Entschiedenheit führen. Denn neue Anti-Hass-Gesetze oder gar staatlich geführte Abwehrzentren gegen Desinformation sind eine Gefahr eigenen Typs, weil sie Schnell-schnell-Lösungen propagieren – und doch eigene Tiefen-schäden produzieren. Sie rauben einer liberalen Demokratie ihre Würde, setzen auf Bestrafung und Bevormundung, nicht auf Aufklärung und Bildung. Und sie geben den Kampf um digitale Mündigkeit und Freiheit vorschnell verloren, der doch eigentlich erst beginnen müsste – allerdings unter strengem Verzicht auf die leblose, technokratische Floskelsprache, die die Bildungsdebatten der Gegenwart schon viel zu lange dominiert.

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Bernhard Pörksen

  • Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. 2008 wurde er zum „Professor des Jahres“ gewählt und für seine Lehrtätigkeit ausgezeichnet.
  • Einem breiten Publikum wurde er durch seine Arbeiten zur Skandalforschung („Der entfesselte Skandal“, gemeinsam mit Hanne Detel) und seine Bücher mit dem Kybernetiker Heinz von Foerster („Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“) und dem Psychologen Friedemann Schulz von Thun („Kommunikation als Lebenskunst“) bekannt.
  • Kürzlich ist sein Buch „Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung“ im Hanser-Verlag erschienen. Hier führt er die Bildungsutopie einer redaktionellen Gesellschaft weiter aus.

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