Ich arbeite seit 25 Jahren mit radikalisierten jungen Menschen und deren Angehörigen, damit gefährdete Personen wieder einen Weg aus der extremistischen Szene finden. In dieser Zeit habe ich mich immer wieder mit der Frage auseinandergesetzt, wie Menschen derartig manipuliert werden können, dass sie zu Hass und Gewalt fähig sind.
Egal, um welche extremistischen Verführungen es geht, die Lebensläufe dieser Menschen sind oft von Brüchen geprägt, schulischen und beruflichen Misserfolgen, zerrütteten familiären Verhältnissen oder auch von einem kriminellen Umfeld. Die Jugendlichen fühlen sich so gut wie immer isoliert und ausgegrenzt, haben ein geringes Selbstwertgefühl und sehen keine Perspektive innerhalb der Gesellschaft.
Also suchen sie sich eine andere und finden sie bei Demagogen, die Hass und Gewalt predigen. Identitätskrisen, emotionale und soziale Probleme werden von der extremistischen Szene rücksichtslos für die eigenen menschenverachtenden politischen Zwecke missbraucht.
Nun ist es zwar so, dass junge Islamisten sich auf ihre Religion berufen, aber in der Regel verfügen sie über keinerlei religiöse Bildung - weder die Konvertiten, die nicht selten christlich geprägten Haushalten aufgewachsen sind, noch die Jugendlichen, die aus einer muslimischen Familie stammen. Sie wissen wenig über den Islam, kennen den Koran nicht, lassen sich von extremistischen Organisationen und charismatischen Demagogen blenden.
Sie begeistern sich für krude Welt- und Feindbilder, deren Verlockung darin liegt, extrem simpel zu sein und die Illusion eines neuen Selbstwertgefühls zu vermitteln. Ahnungs- und arglose junge Menschen nehmen mitunter in rasantem Tempo extremistische, fundamentalistische oder traditionalistische Einstellungen an. Sie entfernen sich damit immer weiter von demokratischen Ideen, Konzepten wie Toleranz und Gleichberechtigung. Und: Sie werden gewaltbereit!
Mit religiösen Werten zumindest hat der extremistische Salafismus und der "heilige Krieg" nichts zu tun. Auch deshalb ist es so wichtig, dass junge Menschen im Schulunterricht besser über Religionen gebildet werden und über Extremismus aufgeklärt werden. Denn die Radikalisierung ist nicht nur für sie selbst gefährlich, sondern auch für die deutsche Gesellschaft.
Bisher hat es keinen größeren Anschlag in Deutschland gegeben. Aber es gab und gibt sehr wohl zahlreiche Anschläge in den Kampfgebieten des Islamischen Staates (IS), die von jungen Menschen ausgeführt wurden, die hier geboren sind. Wir haben Angst vor einem Terror, der nach Deutschland gebracht wird, und übersehen allzu leicht, dass deutsche Islamisten Terror, Leid und Tod in andere Länder exportiert haben. Egal, wo Menschen sterben, den Extremismus müssen wir uns entgegenstellen.
Extremisten wollen schockieren, wollen Angst und Schrecken verbreiten, wollen einen Keil in die Gesellschaft treiben. Sie forcieren auf allen Seiten Intoleranz. Extremisten setzen dort an, wo es Bruchstellen gibt. Sie wollen die Gesellschaft spalten. Islamisten wollen, dass die Islamfeindlichkeit steigt. Wenn im sächsischen Clausnitz muslimische syrische Flüchtlinge stundenlang in einem Bus ausharren müssen, weil ein rassistischer und islamfeindlicher Mob sich davor versammelt hat, ist das für extremistische Salafisten ein Beweis mehr dafür, dass Muslime in dieser Gesellschaft diskriminiert werden. Sie können damit neue Anhänger gewinnen. Sie zeigen mit dem Finger darauf und sagen: "Seht her, Muslime sind in dieser Gesellschaft nicht gewollt." Und die Rechten sagen: "Wir müssen uns wehren, wir wollen den Islam nicht, er bedroht uns, bringt uns Terroristen und Lebensweisen, die nicht zu uns passen, dabei sind wir doch das Volk." So gesehen konvertieren sie alle - in den Extremismus.
Islamisten haben zwei Feindbilder: Einerseits den von ihnen als dekadent und ungläubig titulierten Westen als äußeren Feind und andererseits den inneren Feind - die Muslime, die den Islam als Religion verstehen und kein Problem damit haben, in einer vielfältigen Gesellschaft zu leben. Vielfalt widerspricht der extremistisch-salafistischen Ideologie einer homogenen Gesellschaft unter Gleichen.
Auch Rechtsextremisten wollen keine vielfältige Gesellschaft. Sie nutzen die Angst und Verunsicherung der Bürger, um ihre völkischen und demokratiefeindlichen Haltungen in die gesellschaftliche Mitte zu tragen. Beide extremistische Strömungen wollen bestimmen, wer zu einer Gesellschaft gehören darf und wer nicht. Bei den Rechtsextremisten wird die Trennlinie zwischen innen und außen rassistisch begründet, bei den extremistischen Salafisten mit dem vermeintlich richtigen Glauben.
Beide streben eine homogene Gesellschaft an. Wer anders ist, hat im Grunde genommen kein Existenzrecht. Solche Ideologien lassen sich nur in einer Diktatur mittels Gewalt aufrechterhalten, weil die Vielfalt des Menschseins verneint wird. Beide Ideologien brauchen sich gegenseitig und verzeichnen in letzter Zeit eine gefährliche Verbreiterung.
Die Herausforderung ist, den Polarisierungsversuchen der Rechtsextremisten und jener, die ihre radikalisierten Einstellungen pseudo-religiös begründen, entgegenzuwirken, zusammenhalten. Wir dürfen uns nicht auseinanderdividieren, nicht instrumentalisieren lassen.
Doch wie geht man mit den jungen Menschen um, die sich dem Extremismus zugewandt haben, die aus Kampfgebieten wieder nach Deutschland zurückkehren? Aufenthalte in den Kampfgebieten Syriens und des Iraks können wie Durchlauferhitzer wirken und die Radikalisierung in ungeahntem Tempo beschleunigen. Was sie dort gesehen und vielleicht auch getan haben, kann sie emotional abgestumpft, verroht haben. Noch dazu haben viele von ihnen dort eine militärische Ausbildung genossen. Und trotzdem ist nicht jeder, der lebend aus den Lagern des IS entkommt, ein potenzieller Attentäter. Nicht wenige klopfen später zutiefst desillusioniert wieder bei ihren Familien an, viele sind traumatisiert.
Es ist wichtig und möglich, mit diesen jungen Menschen zu arbeiten, auf sie zuzugehen, statt sich abzuwenden, mit ihnen zu sprechen, sie selbst erzählen zu lassen, statt nur über sie zu debattieren.
Wenn wir mit den gefährdeten Jugendlichen nicht mehr reden, werden es nur noch die Extremisten tun. Ihre Identitätskrisen müssen wir ernstnehmen. Es sind Kinder aus unserer Gesellschaft, die sich in unserer Gesellschaft radikalisiert haben, und in unserer Gesellschaft müssen wir dieses Problem auch lösen. Jede Familie kann betroffen sein. Es sind nicht nur Jugendliche aus prekären Lebensverhältnissen. Das Spektrum an Familien, die wir bislang beraten haben, zeigt: Niemand ist davor gefeit, dass sein Kind den Seelenfängern verfällt.
Lange reagierte die Politik in Deutschland einseitig auf dieses Phänomen des Extremismus. Die Angst vor Anschlägen führte zu einem erhöhten Sicherheitsdenken, für präventive Maßnahmen fehlte aber oft die notwendige Unterstützung. Sicherheitspolitische Anstrengungen alleine reichen nicht aus, denn sie können das Denken der Menschen nicht verändern. Niemandem ist geholfen, wenn Wegsehen und Wegsperren die einzigen Reaktionen auf Radikalisierung sind - weder den Jugendlichen noch der Gesellschaft insgesamt.
Wir müssen versuchen zu verstehen, was denen vorgeht, die bereit sind, sich im Dschihad selbst aufzugeben. Nur so kann es gelingen, sie aus dem extremistischen Milieu wieder herauszuführen, sie in die Gesellschaft zurückzuholen.
Durch die langjährige Erfahrung mit radikalisierten Jugendlichen gibt es in Deutschland bereits nachhaltige Konzepte gegen die extremistischen Gefährdungen junger Menschen: Es gibt unter anderem präventive Bildungsangebote, Angehörigen-Beratung, die Arbeit im Vollzug, Ausstiegsbegleitungen und gefährdete Jugendliche werden aufgesucht. Zahlreiche junge Menschen konnten so an lebensgefährlichen Ausreisen gehindert werden, viele - auch Rückkehrer - konnten wieder in die Gesellschaft integriert werden.
Wir haben in den letzten Jahren viel Wissen angesammelt, welche Maßnahmen tatsächlich wirken. Jetzt müssen diese Angebote breit umgesetzt werden. Nach den Anschlägen von Paris haben die meisten Bundesländer eigene Programme aufgestellt, und verschiedene Bundesministerien fördern ebenfalls Präventionsprojekte.
Doch die Zahl der Fälle ist hoch, die der Berater im Vergleich immer noch gering. Die Angebote müssen langfristig gesichert werden. Denn Extremismusabwehr hat nur dann eine Chance, wenn wir junge Menschen einerseits ein Vorbild für ein tolerantes Zusammenleben sind und sie andererseits stärken gegen extremistische Verführer, auch in dem wir auf ihre Probleme früher reagieren als die Extremisten.
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