Debatte

Wie können wir den Pflegenotstand verhindern, Frau Vogler?

Wenn die Regierung nichts unternimmt, kann Deutschland seine Pflegebedürftigen in wenigen Jahren nicht mehr versorgen, meint unsere Gastautorin. Diese fünf Maßnahmen könnten helfen. Ein Gastbeitrag

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Christine Vogler
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Deutschland sollte ein Grundrecht auf gute pflegerische Versorgung und gute Bedingungen für Pflegende einführen, fordert die Gastautorin Christine Vogler. © istock/Christine Vogler

Mannheim. Eine im Januar veröffentlichte Vorausberechnung des Statistischen Bundesamtes zeigt, dass bis zum Jahr 2049 zwischen 280 000 und 690 000 Pflegekräfte in Deutschlands Krankenhäusern, Pflegediensten und Pflegeheimen fehlen werden. Der Zeitraum mag lang erscheinen, doch bereits 2034 werden nach Einschätzung des Deutschen Pflegerats 500 000 Pflegekräfte fehlen. Ein Grund dafür ist deren hohe Altersstruktur: In Nordrhein-Westfalen ist laut der Pflegekammer NRW jede dritte Pflegefachperson über 55 Jahre alt und wird in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen. Dies bedeutet, dass ein großer Teil des Personals ersetzt werden muss.

Die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes berücksichtigen nicht das zusätzliche Pflegepersonal, das für eine sachgerechte Pflege notwendig ist. Allein in Pflegeheimen fehlen heute bundesweit bereits 115 000 Vollzeitstellen. Angesichts einer Teilzeitquote von über 70 Prozent in der Pflege kommen wir so auf die bereits erwähnten 500 000 fehlenden Pflegekräfte im Jahr 2034.

"Viele Mitarbeitende scheiden aus dem Berufsleben aus, die Zahl der pflegebedürftigen Menschen steigt an"

Das Ausscheiden der Baby-Boomer-Generation verschärft die Situation der Pflege weiter, titelt auch die DAK Gesundheit in ihrem Pflegereport. Bis 2029 erreichen Bundesländer wie Bremen und Bayern einen Kipppunkt, an dem der Pflegenachwuchs die altersbedingten Berufsaustritte nicht mehr ausgleichen kann. In Baden-Württemberg müssen in den nächsten zehn Jahren 23,4 Prozent der Pflegekräfte ersetzt werden, in Bremen sind es 26,5 Prozent und in Schleswig-Holstein 24,1 Prozent.

Der tatsächliche Bedarf dürfte jedoch höher sein, da die Pflegekräfte überdurchschnittlich hohen gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt sind. Laut DAK folgend lag die Zahl der Fehltage in der Langzeitpflege in der Altersgruppe ab 58 Jahren im Jahr 2022 im Schnitt bei über 50 Fehltagen. In anderen Berufsgruppen geht die Kasse in dieser Alterssparte von rund 30 Fehltagen aus.

Zudem steigt die Zahl der pflegebedürftigen Menschen kontinuierlich. Gleichzeitig gibt es aufgrund des demografischen Wandels immer weniger Menschen, die arbeiten oder eine Ausbildung in der Pflege beginnen können. Der Abstand zwischen Angebot und Nachfrage wird immer größer.

Ein Interview von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sorgte jüngst für Aufsehen. Er betonte, dass die Zahl der Pflegebedürftigen in den letzten Jahren explosionsartig gestiegen sei. Diese Zahlen haben uns selbst nicht überrascht. Sie zeigen jedoch eine deutliche Verschärfung der pflegerischen Situation. Letztere ist zudem davon geprägt, dass die Pflege immer anspruchsvoller wird, da die Multimorbidität der hilfebedürftigen Menschen zunimmt.

Deutschland steuert mit vollen Segeln auf einen Pflegenotstand zu. Bereits jetzt müssen vier von fünf Einrichtungen der Langzeitpflege ihre Angebote wegen Personalmangels einschränken, zeigt eine Umfrage des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Pflege (DEVAP). Das Versorgungsangebot schrumpft somit trotz steigender Nachfrage. Die pflegerische Versorgung ist vielerorts nicht mehr gewährleistet. Hilfebedürftige Menschen und ihre Angehörigen sind verzweifelt, weil sie keine Unterstützung finden. Das ist ein gravierendes gesellschaftliches Problem, dass, wenn es nicht schnell gelöst wird, unsere Demokratie gefährdet.

"Wir benötigen ein Grundrecht auf gute pflegerische Versorgung und gute Bedingungen für Pflegende"

Wo müssen wir ansetzen, um die Pflege zu sichern?

Punkt 1: Wie in der Schweiz benötigen wir ein Grundrecht auf gute pflegerische Versorgung und gute Rahmenbedingungen für Pflegende. Die Pflege ist eine Stütze unserer Gesellschaft. Es muss gewährleistet sein, dass genügend qualifizierte Pflegekräfte zur Verfügung stehen und entsprechend ihrer Kompetenzen eingesetzt werden.

Punkt 2: Die Arbeitsbedingungen müssen verbessert werden. Es braucht mehr Kolleg:innen vor Ort. Der Gesetzgeber hat mit Personalbemessungsverfahren im Krankenhaus und in Pflegeheimen reagiert. Diese müssen nun Wirkung entfalten. Auch für Pflegedienste muss hierzu eine Lösung gefunden werden. Pflege muss gut bezahlt werden. In der Langzeitpflege greift seit 2022 die Tarif-Treue-Regelung. Demnach verdient eine Pflegefachperson in Baden-Württemberg bei Vollzeit rund 4200 Euro pro Monat, zuzüglich mögliche Zuschläge etwa für Wochenendarbeiten. Enormer Nachholbedarf besteht bei der Entbürokratisierung und auch bei der Organisation der Pflege selbst.

Punkt 3: Die Kompetenzen müssen neu geordnet werden. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach plant ein Pflegekompetenzgesetz, das den Pflegekräften gemäß ihrer Qualifikation mehr Kompetenzen und Eigenverantwortung geben soll. Pflege könne viel mehr als sie darf. Diesen großen Nachteil wolle man nun beheben, sagt hierzu der Minister völlig zu Recht. Das hört sich vielleicht unspektakulär an. In Wahrheit ist es jedoch eine der enormsten Verbesserung hin zur Sicherung der pflegerischen Versorgung. Es greift auf das zurück, was an Kompetenzen bereits heute bei den Pflegekräften da ist und nutzt diese.

Die Gastautorin



  • Christine Vogler ist ehrenamtliche Präsidentin des Deutschen Pflegerats, der auf Bundesebene rund 1,7 Millionen professionell Pflegende vertritt.
  • Sie leitet die Berliner Bildungscampus für Gesundheitsberufe, die größte Bildungseinrichtung für Gesundheitsberufe in Deutschland und die gemeinsame Ausbildungsstätte der Charité und Vivantes.
  • Seit über 30 Jahren ist sie im Gesundheitswesen tätig und hat als ausgebildete Krankenschwester einen Abschluss als Diplom-Pflegepädagogin, Management und Qualitätsauditorin.
  • 2018 wurde sie mit dem Berliner Frauenpreis ausgezeichnet, 2022 als Pflegemanagerin des Jahres geehrt.
  • Christine Vogler lebt in Berlin.

Punkt 4: Die Selbstverwaltung muss gestärkt werden. Rheinland-Pfalz und NRW zeigen mit ihren Pflegekammern, wie die Pflege gestärkt werden kann. Baden-Württemberg ist das Negativbeispiel. Der Deutsche Pflegerat ist tief besorgt über das Scheitern der Pflegekammer im Land und die mangelnde Unterstützung der Politik hier und in vielen weiteren Ländern gegenüber der Profession Pflege. Dieses Verhalten ist eine Gefahr für die Sicherstellung der Pflege. Die Länder müssen Verantwortung übernehmen und Maßnahmen zur Stärkung der Profession umsetzen, einschließlich der Errichtung von Kammern.

Punkt 5: Die Bildung fördern. Die Bildungswege in der Pflege müssen durchlässig und bundesweit einheitlich gestaltet werden. Dazu gehören alle Aus-, Weiterbildungs- und Studienwege. Der Deutsche Pflegerat hat hierzu eine Studie beauftragt, die die Herausforderungen einer künftigen Bildungsarchitektur der Pflege aufgreift. Entwickelt wurde eine „Bildungs- und Karrierematrix“, die nun diskutiert und umgesetzt werden muss. Auf den Weg gebracht werden muss endlich das bundeseinheitliche Pflegefachassistenzgesetz. Deutschland benötigt keine 16 unterschiedlichen Gesetze hierfür.

Diese fünf Punkte sind aus Sicht der Profession Pflege essenziell, um die Pflege attraktiv zu machen und mehr Mitarbeiter:innen zu gewinnen. Der Pflegeberuf ist sinnstiftend und verantwortungsvoll. Dieses Selbstverständnis muss hervorgehoben werden. So kann er insgesamt zu einem Magneten für Auszubildende und Arbeitssuchende werden.

Das alleine wird nicht reichen, um die Versorgung zu sichern. Darüber hinaus müssen weitere Themen wie der Abbau von Sektorengrenzen der Versorgung, die Stärkung der Angehörigen- und Nachbarschaftspflege, die Nutzung von Digitalisierung und KI, die Fachkräfteeinwanderung, die Verminderung der Teilzeitbeschäftigung, sichere und gesundheitserhaltende Arbeitsbedingungen sowie der Ausbau des Ehrenamts und der Prävention bis hin zu einem Schulfach Gesundheit in Angriff genommen werden.

"Wir benötigen ein gesellschaftliches Bewusstsein für unsere eigene Verantwortung für die Pflege"

Deutschland muss in die pflegerische Versorgung investieren. Denn ohne diese fehlen Mitarbeitende in der Industrie, die Produktion steht still, und es gibt weniger Verkäufer:innen, die im Laden bedienen, weniger Beschäftigte in der Verwaltung, Schulen und Kindergärten, weil sie im Bedarfsfall ihre Angehörige pflegen und betreuen müssen.

Die Lösungen gegen den Pflegenotstand liegen auf dem Tisch. Politik, Kassen, Sozialhilfeträger, Verbände und alle Unternehmen und Institutionen in der Pflege müssen den Mut und die Tatkraft haben, diese umzusetzen. Wir benötigen zudem ein umfassendes gesellschaftliches Bewusstsein für unsere eigene Verantwortung für die Pflege unserer Mitmenschen, beginnend in den Grundschulen und über den Renteneintritt hinaus.

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