Wie können wir Armut bekämpfen, Herr Cremer?

Abstiegspanik hilft nicht. Der richtige Umgang mit den Fakten schon. Der Volkswirt Georg Cremer plädiert vor diesem Hintergrund für einen umfassenden Ansatz in der Politik. Ein Gastbeitrag.

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Georg Cremer
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Eine Mutter geht mit ihrem Sohn die Treppe hinunter. Neben Alleinerziehenden zählen auch Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte zu den am meisten vom Armutsrisiko gefährdeten Gruppen.

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Zuerst müssen wir uns darüber verständigen, was wir meinen, wenn wir über Armut sprechen. In einem reichen Land wie Deutschland ist es richtig, Armut und Armutsrisiko in Relation zu dem Lebensniveau der breiten Mitte zu erfassen. Sonst würden wir Armut bei uns schlicht ausblenden. Arm ist jeder, so die Definition des Rates der europäischen Gemeinschaften, der über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügt, dass er von der Lebensweise ausgeschlossen ist, die in dem Land, in dem er lebt, als Minimum annehmbar ist.

Dies wird versucht, mit der Armutsrisikoquote statistisch zu erfassen. Die Daten sind nützlich, wenn sie angemessen interpretiert werden. 15,7 Prozent der Menschen in Deutschland leben im Armutsrisiko, so sagt die Statistik. Immer wenn neue Daten bekannt werden, gibt es eine kurze, aber folgenlose Empörung.

„Die Einkommensungleichheit hat in Deutschland zwischen 1998 und 2005 deutlich zugenommen.“

Kann das sein, mehr als zwölf Millionen Arme in einem so reichen Land? Gemeint ist die relative Einkommensarmut; die Statistik erfasst alle, deren Einkommen unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Ein Alleinstehender ist arm in dem so definierten Sinne, wenn er ein verfügbares Einkommen (also nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben) von weniger als 942 Euro pro Monat hat, eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren, wenn sie über weniger als 1978 Euro verfügt. Die Statistiker sprechen bewusst von Armutsrisiko. Die Unterscheidung zwischen Armut und Armutsrisiko ist wichtig. So werden auch Studierende und Auszubildende erfasst, die nicht bei ihren Eltern leben und weniger als 942 Euro haben. Daher ist der Anteil der so berechneten Armen unter den 18- bis 24-Jährigen am höchsten. Kein Wunder. Viele junge Erwachsene sind noch in der Ausbildung. Sie haben vorübergehend wenig Geld, aber nicht wirklich ein Problem.

Wer aber über lange Jahre mit einem Einkommen unterhalb der 60-Prozent-Schwelle auskommen muss, kann an vielem, was in unserer Gesellschaft normal ist, nicht teilhaben. Die Statistik sagt uns genau, wer die Risikogruppen sind: Es sind Menschen, die keinen oder nur ungenügenden Zugang zu produktiver Arbeit haben, arbeitslose Menschen, Alleinerziehende, gering Qualifizierte. Wer keinen Berufsabschluss hat, der hat ein sehr hohes Risiko arbeitslos zu sein. Wer immer wieder während seines Berufslebens arbeitslos ist, wird er auch im Alter arm sein. Bildung für alle und Arbeit sind die beste Armutsprävention. Das gilt auch für die Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind.

Paare mit ein oder zwei Kindern haben kein überdurchschnittliches Armutsrisiko. Es stimmt also nicht, dass Kinder an sich arm machen. Aber besonders hoch ist die Armutsrisikoquote bei kinderreichen Familien. Dagegen könnte ein stärker nach Kinderzahl differenziertes Kindergeld helfen. Nicht in den Daten erfasst sind obdachlose Menschen, da sie von den Statistikern gar nicht erreicht werden. Sie brauchen spezifische Hilfen wie Straßensozialarbeit, medizinische Anlaufstellungen und kommunale Wohnraumvermittlung.

Die Armutsrisikoquote ist ein Maß der Verteilung mit dem Fokus auf die unteren Einkommensgruppen. Dieses Maß zeigt, dass die Einkommensungleichheit in Deutschland zwischen 1998 und 2005 deutlich zugenommen hat. Wichtigster Grund hierfür ist ein deutlicher Anstieg der Spreizung der Einkommen aus Arbeit. Die Wiedervereinigung war Teil einer historischen Zäsur; durch die plötzliche Öffnung der Volkswirtschaften Osteuropas wurden die Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland unter einen starken Wettbewerbsdruck gesetzt. In dieser Zäsur akzeptierten Gewerkschaften und Betriebsräte Zugeständnisse, um Arbeitsplätze in den Unternehmen zu sichern. Dies verbesserte deutlich die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen und schaffte damit die Grundlage für die beschäftigungspolitischen Erfolge nach 2005. Erkauft wurde dies durch sinkende Löhne am unteren Ende der Lohnverteilung.

„Das Bildungssyste könnte mehr leisten, damit Armut nicht vererbt wird.“

Nach 2005 ist die Situation wieder vergleichsweise stabil. Entgegen einer weit verbreiteten Wahrnehmung geht die Schere nicht immer weiter auseinander. Das heißt aber nicht, wir sollten die Hände in den Schoß legen.

Wie nun Armut bekämpfen? Zum einen durch materielle Hilfen: das Arbeitslosengeld II (Hartz IV) und die Grundsicherung im Alter. Ihre Höhe ist aber auf Kante genäht. Das angewandte Berechnungsverfahren ist grundsätzlich geeignet, es sollten aber Inkonsistenzen und einige politisch motivierte Eingriffe korrigiert werden. Der Regelbedarf eines Alleinstehenden würde dann, so die Berechnungen des Deutschen Caritasverbandes, um etwa 60 Euro pro Monat steigen. Auch würde eine Flexibilitätsreserve, so der Vorschlag der Caritas, von 20 Euro pro Monat helfen, etwa um notwendige Anschaffungen ansparen zu können.

Was wäre aber, wenn die Politik diesem Vorschlag folgte und Hartz IV und die Grundsicherung im Alter deutlich erhöhte? Zwangsläufig würde dann die Zahl der Empfänger sehr deutlich zunehmen.

Denn mehr Beschäftigte mit niedrigen Löhnen erhielten ergänzendes Arbeitslosengeld II, mehr Bezieher niedriger Renten bekämen ergänzende Grundsicherung im Alter. Die Zahl stiege nicht, weil die sozialen Verhältnisse schlechter würden, sondern weil unser Hilfesystem besser würde. Dennoch wäre eine erneute Empörungswelle zu befürchten: "Noch mehr Menschen abhängig von Hartz IV, noch mehr Altersarmut!" Wer aber die Hilfen des Sozialstaats in dieser Weise diskreditiert, hilft den Armen nicht.

So wichtig ein leistungsfähiges Grundsicherungssystem ist, Armutsbekämpfung darf sich darin nicht erschöpfen. Das Bildungssystem könnte deutlich mehr leisten, damit Armut nicht vererbt wird. Regional große Disparitäten bei der Leistungsfähigkeit des Schulsystems zeigen, dass hier Handlungsoptionen für die Verantwortlichen vor Ort bestehen. Warum scheitert in manchen Kreisen jedes zehnte Kind in der Schule, in anderen Kreisen nur jedes 50.? Viel wäre bereits gewonnen, wenn überall das Maß an Bildungserfolgen gelänge, das sich anderenorts bereits als machbar erwiesen hat.

„Der Sozialstaat steht sich selbst im Weg. Zuständigkeiten verhindern Hilfe aus einer Hand.“

Die Arbeitsmarktpolitik seit 2005 war erfolgreich, aber sie erreicht nicht den harten Kern der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit. Hier bräuchte es mehr Mut zu einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, die durch sinnhafte Arbeit Teilhabe ermöglicht. Wir brauchen für eine klar umrissene, eng begrenzte Zielgruppe (und keineswegs als Masseninstrument!) einen sozialen Arbeitsmarkt, der Menschen unterstützt, die weder heute noch in naher Zukunft den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt schaffen können, aber die dennoch ein Recht auf Teilhabe haben.

Erfolgreiche Armutsbekämpfung erfordert einen präventiv ausgerichteten Sozialstaat. Aber das an sich gut ausgebaute Hilfenetz des Sozialstaats ist nur ungenügend auf die Prävention sozialer Notlagen und die Befähigung der Bürgerinnen und Bürger ausgerichtet. Der Sozialstaat steht sich häufig selbst im Weg. Gegenüber Menschen aus prekären Milieus verhindern aufgesplitterte Zuständigkeiten die Hilfe aus einer Hand. Hemmend wirken auch Konflikte um die Kostenverteilung zwischen den politischen Ebenen. Sie können neue Ansätze der Hilfe auch dann verhindern, wenn alle von ihrer Wirksamkeit überzeugt und ihre direkten Mehrkosten gering sind (sie mittelfristig sogar zu Einsparungen führten könnten). Hier Hemmnisse abzubauen, sollte Teil der Agenda für die nächste Legislaturperiode des Bundestags werden.

Nicht nur die Politik ist gefordert: Ob eine befähigende Sozialpolitik gelingt, hängt davon ab, wie wirksam Menschen dabei unterstützt werden, ihre Potentiale zu entfalten. Viele Bürger engagieren sich in Patenschaftsprojekten. Sie schenken Zeit, stiften vertrauensvolle Beziehungen, eröffnen informelle Lernchancen und helfen Kindern und Jugendlichen aus prekären Milieus, den Weg ins Leben zu finden. Es gibt bereits fundierte Forschungen, die zeigen, dass der Bildungserwerb der so unterstützten Kinder günstiger verläuft. Eine achtsame Zivilgesellschaft kann also helfen, dass der Zufall der Geburt auf die Lebenschancen nicht so prägend wirkt wie heute. Auch das wirkt gegen Armut.

Georg Cremer

  • Georg Cremer wurde am 27. März 1952 in Aachen geboren.
  • Der habilitierte Volkswirtschaftler arbeitete an der Universität Freiburg und war Leiter eines Entwicklungsprojekts in Indonesien, bevor er zum Deutschen Caritasverband kam.
  • Dort war er über 17 Jahre lang Generalsekretär und im Vorstand der Caritas für Sozialpolitik zuständig.
  • Er unterrichtet als außerplanmäßiger Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg.
  • Beim C. H. Beck Verlag ist im vergangenen Jahr sein Buch „Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln?“ erschienen.                                                                                 Mehr Informationen unter www.georg-cremer.de 

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