Die Strahlkraft der deutschen Wirtschaft verblasst. Schlüsselindustrien wie die Automobilwirtschaft oder der Anlagen- und Maschinenbau sind zwar international weithin anerkannt, doch weltbewegende Innovationen sehen wir hierzulande nur noch selten. Wir ruhen uns auf den Erfolgen der Vergangenheit aus.
Der Gastautor
Andreas Haug hat Wirtschaft studiert und ist nach kurzer Konzern-tätigkeit seit Anfang der 90er Jahre im Digital Business aktiv: zunächst als Mehrfachgründer eigener Unternehmen und seit 20 Jahren als Business Angel sowie Mitbegründer und Investor von e.ventures bei Start-ups.
Im Januar erschien sein Buch „Deutschland, Startup!“ im Murmann-Verlag.
Diese Haltung ist gefährlich. Denn wir beobachten einen Paradigmenwechsel von einer industrie-getriebenen Welt in ein durch Technologie dominiertes Zeitalter. Zwar sind disruptive, also zerstörerische Innovationen nicht neu. Aber die Geschwindigkeit und die Wucht, mit der Digitalkonzerne und die Plattformökonomie die Welt erobern, ist in der Tat ein geschichtliches Novum. Umsätze und Gewinne werden nicht mehr allein in der realen Ökonomie geschaffen, sondern immer häufiger von Algorithmen und Datensammlungen. Das zwingt uns, eine fundamentale Antwort auf dieses „tektonische Beben“ zu finden.
Weg von der Vergangenheit
In Deutschland dominieren nach wie vor klassische Konzerne mit traditionellen Strukturen, die gegenüber den Technologieriesen in den USA und China wie Kleinunternehmen erscheinen. Allein Amazon ist an der Börse so viel wert wie drei Viertel aller DAX-Firmen zusammen. Apple hat ein höheres Forschungsbudget als alle deutschen Maschinenbauer gemeinsam. Wollen wir also unser lebenswertes Land, das ein gutes Sozialsystem und eine stabile Demokratie auszeichnet, gegenüber dem Turbokapitalismus oder autoritären Überwachungsstaaten verteidigen, dann sollten wir schleunigst die Voraussetzungen für eine innovative Digital-Wirtschaft schaffen, die durch Technologie und nicht Vergangenheit angetrieben wird. Nur so werden wir als europäische Alternative im globalen Wettbewerb bestehen.
Hohe Kundenorientierung
Die Technologie wird zum zentralen, globalen Wettbewerbsfaktor. Wie die Wertschaffung in der digitalen Welt funktioniert, zeigen uns Start-ups und ihre Gründer. Sie entwickeln neue, digitale Geschäftsmodelle und machen mit ihren schlanken, agilen Organisationen vor, wie Unternehmen im digitalen Zeitalter geführt werden und für rare Talente aus aller Welt attraktiv sind. Innovationen gedeihen am besten in kreativen, disruptiven Start-ups, nicht in trägen, hierarchischen Organisationen. Strukturverändernde Innovationen brauchen eben eine andere Organisationsform und Herangehensweise. So wurde etwa die Online-Rehabilitationsplattform „Caspar Health“, die gerade in Corona-Zeiten so nützlich ist, nicht in einem medizinischen Wissenschaftszentrum entwickelt und programmiert, sondern in einem Hinterhof in Berlin Mitte. Und Mehrfachgründer Christian Gaiser schuf sein kontaktloses Hospitality-Konzept „Cosi“ (Einziehen, Ausziehen und Zahlen per App), das ihm selbst in reiseschwachen Lockdown-Zeiten eine 90-prozentige Auslastung sichert, in einer Berliner Dreizimmerwohnung – und nicht als angestellter Manager eines Hotel-Konzerns.
Start-ups und ihre Gründer liefern uns für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit essenzielle Innovationen, die in Produkte oder Dienstleistungen einfließen und sich direkt am Bedarf der Kunden orientieren. Die Gründer geben zudem wichtige Impulse für die Modernisierung der Gesellschaft wie etwa die Schaffung von Zukunftsberufen, neue Arbeitsmodelle, die Integration von umworbenen Spezialisten aus dem Ausland, die Teilhabe der Mitarbeiter an Unternehmenswerten oder auch die Bewältigung von Zukunftsherausforderungen wie den Klimawandel.
Wie erfolgreich Technologie-Start-ups werden können und welche dominierende Rolle sie innerhalb kurzer Zeit in der globalen Wirtschaft einnehmen, lässt sich an der Liste der wertvollsten Unternehmen der Welt ablesen: Neun der zehn Top- Unternehmen sind Technologiekonzerne, von denen nahezu alle als Start-ups mit einer Risikokapitalfinanzierung gegründet wurden. Leider nicht in Deutschland. Ein hoher Anteil der wertvollsten, global marktführenden Unternehmen wie Airbnb, Google oder Tesla ist dabei kaum älter als 20 Jahre.
Schnell und flexibel
Die strukturelle Überlegenheit von Start-ups bei Innovationen zeigt sich auch in vielen weiteren Bereichen, wie beispielsweise in der Biotechnologie oder der Pharmaforschung. Es waren von privaten Investoren finanzierte Gründungen, die in kürzester Zeit die wirksamsten Impfstoffe gegen Covid-19 entwickelt haben. Und es war ein Migranten-Paar, das den weltweit begehrtesten Impfstoff Biontech entwickelt hat. Start-ups können eben ohne langen Vorlauf Chancen nutzen, innerhalb kürzester Zeit fundamentale Anpassungen vornehmen und sich damit besser an sich verändernde Marktbedingungen anpassen.
Zudem sorgen Start-ups für eine neue Fehlerkultur in unserem Land, wo eigentlich niemand verlieren darf: Gute Gründer halten bei ausbleibenden Erfolgen eben nicht stur an einer Richtung fest, sondern drehen sich einmal um die Achse, wenn sie feststecken, und gehen dann in eine andere Richtung weiter. Das Pivot, also das Umschwenken, ist eine der großen Stärken von Start-ups, die wie Speedboote im Nu ihren Kurs ändern können. Schwerfällige Konzerne haben diese Freiheit eher nicht, die schweren Tanker können kaum eben mal schnell ihren Kurs ändern, das Alte abwerfen und etwas Neues wagen. Sie haben Verantwortung für ihre Beschäftigten und Kunden, dürfen ihr Bestandsgeschäft und damit ihren Umsatz nicht einfach so aufgeben und müssen die Kostenstrukturen beachten.
Unsere erfolgreichen Gründer realisieren mit großen Ambitionen und viel Herzblut faire und nachhaltige digitale Geschäftsmodelle, die unser Leben und unseren Alltag ein Stück weit besser machen. Sie erkunden unsere nicht adressierten Probleme und finden Lösungen dafür. Sie öffnen Türen zu Märkten, die den meisten bislang verschlossen blieben. Die neue Generation der Gründer wird nicht von der Aussicht auf maximalen persönlichen Reichtum angetrieben. Viele von ihnen wollen mit ihren Start-ups der Gesellschaft einen Nutzen („Purpose“) erbringen – eben nicht die nächste, hippe Onlineplattform für T-Shirts bauen. Gründer engagieren sich häufig in sinnstiftenden Bereichen wie schadstofffreie Mobilität, Gesundheit oder Bildung. So tragen sie als Katalysator dazu bei, die Entwicklung einer Zukunftsvision für unsere Gesellschaft zu unterstützen. Und sie machen uns wieder Lust auf Spitzenleistungen und ehrgeizige Ziele („Moonshot-Thinking“).
Noch aber haben es Gründer in Deutschland sehr schwer. Traurig, aber wahr: Laut einer Untersuchung der Weltbank zu den Bedingungen für Gründer landet Deutschland auf Platz 114 von 190 Volkswirtschaften. Auch bei einer Studie der OECD und der Bertelsmann-Stiftung, die weltweit die Anziehungskraft von Ländern für Hochqualifizierte vergleicht, steht Deutschland nur auf Platz 12. Der überwältigende Erfolg amerikanischer und auch asiatischer Technologieunternehmen zeigt, dass sich nicht ein einzelnes Start-up isoliert erfolgreich entwickelt, sondern Start-ups eines Innovationsökosystems bedürfen, um zu entstehen. Das Silicon Valley ist das Vorzeigemodell aller Start-up-Ökosysteme. Seit vielen Jahrzehnten bilden dort technologisch qualifizierte Entrepreneure mit Universitäten, Investoren, Inkubatoren, Forschungseinrichtungen, großen Unternehmen und staatlichen Institutionen ein System, das immer wieder neue Start-ups hervorbringt und wachsen lässt.
Vernetzung notwendig
In Deutschland muss noch viel für die Entwicklung eines solchen bundesweiten Ökosystems getan werden. Noch wird auf Länderebene eher im Wettbewerb gegeneinander lokale Standortpolitik gemacht, um für das jeweilige Bundesland Vorteile zu erzielen. Durch diese Fragmentierung entstehen Ineffizienzen, etwa zu kleine Fördertöpfe oder die Fokussierung auf „local heroes“ statt auf wirkliche Potenzialträger, die international wettbewerbsfähig sind. Hier gilt es, alle Akteure des Ökosystems besser zu vernetzen. Unsere Gründer haben das Zeug, große, global relevante Technologieunternehmen aufzubauen. Damit können sie einen entscheidenden Beitrag für die Zukunftssicherung unserer Lebensbedingungen, Lebensweise und freiheitlichen Werte in Deutschland (und Europa) leisten. Wir können viel von den exzellenten Gründern lernen.