Viele Erwachsene sind laut einer Erhebung der Postbank vom Januar 2024 unzufrieden mit ihrem Konsum digitaler Medien: Rund jeder dritte junge Mensch zwischen 18 und 39 Jahren denkt darüber nach, öfter für eine gewisse Zeit offline zu gehen. Dieselbe Gruppe, darunter viele junge Eltern, verbringt pro Woche allerdings auch im Schnitt 93 Stunden, also knapp vier Tage, online.
Zum Vergleich: Bei Kindern und Jugendlichen ab zwölf Jahren lag die tägliche Online-Zeit laut der JIM-Studie 2023 bei mehr als 14 Stunden pro Woche. 360 000 Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 17 Jahren, so eine Studie der Krankenkasse DAK-Gesundheit, nutzen Social Media in riskantem Maß.
Eine der wichtigsten Aufgaben bei der Gestaltung der Smartphone-Zeit: Differenzierung
Diese Nutzungsdauer ist für viele Eltern Alltag. Viele treibt die Frage um, wie viel Zeit vor dem Bildschirm wirklich gut für ihre Kinder ist – zumal sie oft an sich selbst spüren, wie die Zeit beim Wischen und Schauen nur so verfliegt. Der entscheidende Unterschied: Viele der heute Erwachsenen sind nicht von klein auf in einer digitalen Welt groß geworden, sondern haben das Digitale schrittweise erlernt. Doch wenn uns der verantwortungsvolle Umgang mit Smartphone und Tablet schon nicht leicht fällt, wie soll es da erst den Jüngeren gehen, die nie eine Welt ohne Smartphone kennengelernt haben?
Was so leicht daher gesagt klingt, ist eine große Verantwortung, die Eltern für die Zukunft ihrer Kinder haben – aber nicht nur sie, sondern wir als Gesellschaft. Eine der wichtigsten Aufgaben bei der Gestaltung der Smartphone-Zeit: Differenzierung.
Als Erwachsener kann ich mein Smartphone nutzen, um mit TED-Talks die Welt zu verstehen, mich mit Projekt Gutenberg durch die Weltliteratur zu lesen – oder lustige Pannenvideos auf YouTube schauen. Und genauso geht es auch unseren Kindern: Ob sie stundenlang passiv durch Instagram oder TikTok scrollen oder stattdessen selbst aktiv werden, ein Video kreieren, eine Diskussion führen oder eine Rede schreiben, macht einen gewaltigen Unterschied. Denn online verbrachte Zeit ist nicht automatisch mit Berieselung oder passiver Social-Media-Nutzung gleichzusetzen. Bildschirmzeit ist nicht gleich Bildschirmzeit.
Und noch etwas anderes, das für unser Aufwachsen galt, gilt für das Leben der heutigen Kinder umso mehr: Die Zukunft wird noch digitaler. Nur geht es nicht mehr darum, „EDV-Kenntnisse“ zu erlernen – wie ein Programm geöffnet oder geschlossen wird, verstehen Kinder heute ganz intuitiv. Für sie kommt es auf das Verstehen von Funktionsweise und Mechanismen an, auf die Übertragung von Gesehenem und Gehörtem in immer neue Kontexte. Es geht um die passenden Kompetenzen für das Betriebssystem der (Berufs-)Welt von morgen.
Wer das Einmaleins des Internets nicht versteht, wird zum passiven Scroller statt zur aktiven Gestalterin. Ein Beispiel: Wir alle lernen in der Schule auch heute noch Rechnen, obwohl sich viele Rechnungen mit Taschenrechner oder Excel längst schneller und fehlerfreier durchführen lassen – weil es uns als Grundfertigkeit dabei hilft, die Welt um uns herum zu verstehen.
Ein zumindest grundlegendes Verständnis von Programmiersprachen oder Algorithmen ist ebenfalls eine Grundfertigkeit der Zukunft. Denn wenn wir schon die grundlegenden Prinzipien einer digitalen Welt nicht verstehen, können wir sie nicht zu unseren Gunsten nutzen oder verbessern. Genau dieses Grundverständnis der digitalen Welt fehlt vielen. Nach welcher Logik funktioniert ein Algorithmus? Wie entsteht aus einer Programmiersprache eine App? Welche Mechanik steckt hinter sozialen Netzwerken?
Wer diese Fragen nicht beantworten kann oder gar nicht erst stellt, kann nicht verstehen, warum TikTok-Videos so viele Jugendliche und Erwachsene in ihren Bann ziehen oder warum ich auf Instagram immer wieder so passende Anzeigen erhalte. Wer das Einmaleins des Internets nicht versteht, wird zum passiven Konsumenten statt zur aktuellen Gestalterin seiner digitalen Umgebung. Und mehr noch: Wir müssen Kindern und Jugendlichen in diesen Themen bilden, weil sie auch eine Relevanz für das Fortbestehen unserer Demokratie haben. Auch hier sind aktive Köpfe gefragt, die zum Beispiel die Manipulation von Videos verstehen und nicht nur passive Hüllen, die alles Laute liken.
Die Gastautorin Amanda Maiwald
Amanda Maiwald ist Co-Gründerin und CEO von Complori. Mit dem 2020 gegründeten Start-up hat sich die Wirtschaftsinformatikerin der Mission verschrieben, Kinder mit den nötigen Future Skills auszustatten, um ihre (digitale) Zukunft selbst gestalten zu können.
Complori ist laut eigenen Angaben die digitale Future Skills Academy für Kinder und Jugendliche. Auf der Lernplattform lernen junge Menschen die Fähigkeiten, die sie im 21. Jahrhundert brauchen. Bisher konnten bereits über 60 000 Kinder die Lernplattform nutzen, Programmieren lernen und ihr logisches Denken und technologisches Verständnis stärken, heißt es weiter.
Für ihr Engagement im Bereich Digitale Bildung wurde Maiwald mit Complori unter anderem mit dem Digital Female Leader Award (2021), dem Tech Award (2022) oder dem KfW Award Gründen für das Land Berlin (2023) ausgezeichnet und 2022 von Forbes zu einer der 30 wichtigsten Persönlichkeiten unter 30 gewählt.
Digital verbrachte Zeit wegen der möglichen Nachteile einfach pauschal zu verbieten, greift also zu kurz, mehr noch – es beschneidet die Chance von Kindern, in passenden Apps logisches Denken oder Problemlösungskompetenz zu trainieren. So kann ein Kind, das mit anderen an einer Minecraft-Welt baut, unter der richtigen Anleitung seine Kooperationsfähigkeit und Teamkompetenz stärken – und gleichzeitig noch jede Menge Spaß haben.
Was also langfristig wirksamer für das Kind, aber zeitaufwendiger für die Eltern ist, ist das gemeinsame Entdecken. Eltern tun gut daran, wenn sie ihre Kinder an die Hand nehmen, gemeinsam über die Chancen und Risiken verschiedener Formen von Bildschirmzeit sprechen und verhandeln, welche davon wie viel Zeit einnehmen sollte. Um es klar zu sagen: Diese Bildschirmzeit darf natürlich wie bei Erwachsenen auch Spaß beinhalten. Aber genau so, wie wir den Abend über nicht vor lauter Videos das Leben vergessen sollten, sollten wir unsere Kinder ermutigen, ihre Bildschirmzeit mit Bedacht zu füllen – und nicht die Netzwerke mit ihrer Sogwirkung entscheiden lassen, wie lange unsere Kinder sie nutzen.
Digital verbrachte Zeit wegen der möglichen Nachteile einfach pauschal zu verbieten, greift zu kurz
Vier Aspekte erscheinen mir wichtig, damit Kinder eine positive Beziehung zu digitalen Technologien entwickeln können und vor dem Bildschirm etwas lernen:
Erstens: Die Interessen des Kindes als Ausgangspunkt nutzen. Jedes Kind hat einzigartige Interessen und Leidenschaften. Nutzen Sie diese als Sprungbrett. Wenn Ihr Kind beispielsweise von Dinosauriern fasziniert ist, suchen Sie nach Apps oder Online-Kursen, die spielerisch Programmieren mit paläontologischen Fakten verbinden. Wer sich mit etwas beschäftigt, das Spaß macht, dem fällt auch das Lernen leichter.
Zweitens: Qualität vor Quantität setzen. Recherchieren Sie im Netz nach pädagogisch wertvollen Inhalten und Angeboten, die kognitive Fähigkeiten wie kritisches Denken, Problemlösung und Kreativität fördern. Es gibt zahlreiche Angebote zur digitalen Bildung mit Kursen, die nachmittags oder in den Ferien, online oder offline stattfinden – das kann Eltern durchaus auch eine zeitliche Entlastung bieten.
Drittens: Ein ausgewogenes Verhältnis schaffen. Auch wenn es nicht immer leicht fällt: Stellen Sie sicher, dass neben der Bildschirmzeit Ihres Kindes auch genügend Raum für physische Aktivitäten, andere soziale Interaktionen und Ruhephasen bleibt. Anders gesagt: Strukturieren Sie den Tag so, dass Bildschirmzeit nicht zum Dauerzustand wird.
Viertens: Diskussionen über Technologie führen. Sprechen Sie mit Ihren Kindern über die Technologien, die sie nutzen. Diskutieren Sie über die Funktionsweise von Apps, die Bedeutung von Datenschutz oder die Risiken von Cybermobbing – oder schauen Sie gemeinsam nach Videos oder Bildungsangeboten, die diese Aspekte kindgerecht erklären. Dies fördert bei Ihrem Kind nicht nur das Verständnis für die digitale Welt, sondern auch die Fähigkeit zur kritischen Reflexion.
Wir alle sollten uns regelmäßig hinterfragen, wie wir die Bildschirmzeit verbringen
Bildschirmzeit als reines Übel zu verteufeln, ist ein schlechter Rat. Stattdessen sollten wir alle uns regelmäßig hinterfragen, wie wir diese Zeit verbringen – ob es Wege gibt, auf diese Weise kreativer, produktiver und vielleicht sogar solidarischer als Gesellschaft zu werden. Doch die Grundlagen dafür müssen wir schon in der Kindheit legen. Wer das gesamte Instrumentarium digitaler Technologien früh beherrscht, wird deutlich besser gewappnet sein, ihre Risiken zu bewältigen und ihre Chancen zu nutzen.
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