Überlastete Kommunen und überfüllte Sammelunterkünfte, Wohnraumknappheit, Menschenschlangen vor Behörden und überfüllte Flüchtlingsboote. Vielen schießen diese Bilder in den Kopf, wenn sie an Geflüchtete denken. Dabei vergessen wir häufig, dass hinter diesem Begriff Schicksale und Geschichten einzelner Menschen stehen – und nicht weniger, als das Recht auf Leben.
Spätestens seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und des Zuzugs vieler Ukrainer*innen nach Deutschland stehen die Kommunen vor großen Herausforderungen. Fest steht: Wir waren auf diese Situation nicht vorbereitet und wurden von ihr überrascht.
Der Rückblick zeigt allerdings auch, dass uns eine große Welle der gesellschaftlichen Solidarität vor dem Zusammenbruch gerettet hat: Tausende von Menschen empfingen die Kriegsflüchtlinge an Bahnhöfen, begleiteten sie zu Arztterminen oder nahmen sie bei sich zu Hause auf. Es wurde unglaublich viel Kleidung, Essen und Geld an Hilfsorganisationen gespendet.
Auf diese Weise wurden innerhalb von nur drei Monaten über eine Million Menschen aufgenommen und 70 Prozent von ihnen zunächst privat versorgt. Nicht zuletzt durch die geografische Nähe der Ukraine zu Deutschland wurde uns allen klar, was es bedeutet, von einem Krieg betroffen zu sein – und wir zeigten uns empathisch mit den Betroffenen.
Solidarität und politische Lösungen haben gezeigt: Wenn wir den Willen haben, Menschen zu helfen, gelingt uns das.
Während die Gesellschaft praktisch anpackte, wurde auf politischer Ebene über die Entlastung der Kommunen und Unterstützung der Menschen nachgedacht. Eine der Lösungen war, ihnen auch ohne Asylantrag direkt einen Schutzstatus zu erteilen. Damit erhielten geflohene Ukrainer*innen nicht nur Sicherheit, sondern auch sofort Zugang zu Sprachkursen, zu sozialen Leistungen und zum Arbeitsmarkt. Auch konnten sie ihren Wohnort frei wählen.
Das hat wesentlich dazu beigetragen, dass sie in Deutschland ankommen und ein neues Zuhause aufbauen konnten. Sowohl unsere Solidarität als auch die raschen politischen Lösungen haben gezeigt: Wenn wir den Willen haben, Menschen zu helfen, gelingt uns das. Schließlich haben wir in diesen wenigen Monaten so viele Menschen aufgenommen wie in den Jahren 2015 und 2016 zusammen.
Die Debatte um die Überlastung der Kommunen hat sich seither aber fortgesetzt und schlägt aktuell einen weitaus weniger lösungsorientierten und solidarischen Ton an. Es wird nicht mehr darüber gesprochen, was die Kommunen brauchen, um den Herausforderungen gerecht zu werden, sondern vielmehr nach Wegen gesucht, Menschen grundsätzlich vor einer Einreise in die Europäische Union abzuschrecken.
Hauptargument dabei ist: Die Zahl der in Deutschland schutzsuchenden Menschen würde die gesellschaftlichen und politischen Kapazitäten übersteigen und zudem würde es sich um „illegale“ Geflüchtete handeln. Mit dieser in der Debatte derzeit dominierenden Herabwürdigung fliehender Menschen als “Illegale” übergehen wir zwei wichtige Tatsachen: Zum einen gibt es für bedrohte Menschen in der Regel keine legalen Fluchtwege, diese wurden bisher nur für Ukrainer*innen geschaffen.
Der Gastautor
Tareq Alaows ist im Jahr 2015 selbst aus seinem Heimatland Syrien vor politischer Verfolgung nach Deutschland geflohen.
In Deutschland ist er seit vielen Jahren in diversen Organisationen für die Rechte von Geflüchteten aktiv.
Bei Pro Asyl gestaltet er seit November 2022 als flüchtlingspolitischer Sprecher und Referent verschiedene Kampagnen-, Bündnis- und Netzwerkarbeit.
Zum anderen wird die Schutzbedürftigkeit dieser Menschen in Frage gestellt, obwohl in den letzten beiden Jahren über 72 Prozent von ihnen rechtlich einen Schutzstatus erhalten haben. Sie fliehen vor dem Krieg in Syrien, vor politischer Verfolgung im Iran oder vor Verfolgung durch die Taliban in Afghanistan. Die Existenz dieser Menschen ist genauso bedroht wie jene der Ukrainer*innen. Ihr Leben ist genauso viel wert und für alle gilt ein Recht auf Zugang zu Asyl.
Um die Kommunen zu entlasten, könnte sich die Bundesregierung an der bewährten Aufnahme der Ukrainer:innen orientieren, also für einen schnellen Zugang zu Schutz, Arbeit, Wohnung und Bildung sorgen. Die Arbeitsverbote von hunderttausenden hier bereits lebenden Menschen müssen aufgehoben werden, damit diese für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen können.
Geflüchteten muss zudem erlaubt werden, bei Familienmitgliedern, Freund*innen oder Lebenspartner*innen aufgenommen zu werden, wenn diese Platz bei sich haben. Das würde nicht nur die Sammelunterkünfte entlasten, sondern den Geflüchteten mit der Unterstützung nahe stehender Menschen ein besseres Ankommen ermöglichen. Dazu braucht es unbürokratische rechtliche Vorgaben, die die aktuellen Wohnverpflichtungen in Sammelunterkünften und Erstaufnahmeeinrichtungen aufheben, wie bei Menschen aus der Ukraine geschehen.
Die Regierung könnte digitale Antragsverfahren einführen, um monatelange Wartezeiten für Betroffene zu verkürzen.
Stattdessen werden Asylsuchende weiterhin einem Bundesland oder Landkreis zugeteilt, wo sie in Sammelunterkünften leben müssen, auch wenn sie die Möglichkeit hätten, zum Beispiel bei Verwandten in einem anderen Bundesland privat unterzukommen. Zusammen mit der ohnehin angespannten Situation auf dem Wohnungsmarkt führen solche Vorgaben zu der beklagten Überlastung der Sammelunterkünfte.
Die Bundesregierung könnte digitale Antragsverfahren einführen, um die Kommunalbehörden weiter zu entlasten und monatelange Wartezeiten für Betroffene zu verkürzen. Um nachhaltig Stabilität bei Kitaplätzen, Schulplätzen, Sprachkursen und menschenwürdiger Unterbringung zu schaffen, brauchen die Kommunen zudem eine Pro-Kopf-Pauschale für jede aufgenommene Person (und nicht wie bisher festgelegte Beträge, die die tatsächliche Zahl aufgenommener Geflüchtete nicht berücksichtigt).
Ähnlich wie das Sondervermögen für Verteidigung, könnte die Bundesregierung ein Sondervermögen für Soziales einrichten, nicht nur um Aufnahmestrukturen für Geflüchtete zu unterstützen, sondern auch andere gesamtgesellschaftliche Probleme anzugehen wie etwa mangelnder Wohnraum.
Anstatt solche pragmatischen Lösungen zu verfolgen, instrumentalisieren viele Politiker*innen die berechtigten Forderungen der Kommunen nach mehr Unterstützung für ihre Agenda der Abschottung: Obergrenze, Sachleistungen, Abschiebungen, haftähnliche Lager an den Außengrenzen. Die Liste der schlechten Ideen ist lang, die den Kommunen aber nicht helfen werden. Vielmehr führen einige dieser Vorschlägen de facto zur Abschaffung des Asylrechts. Zudem ist wissenschaftlich längst nachgewiesen, dass die Entscheidung, sich auf einen tödlichen Fluchtweg zu begeben, kaum von Pull-Faktoren beeinflusst wird. Menschen fliehen ganz überwiegend vor lebensbedrohlichen Situationen.
So erging es auch mir, als ich 2015 Syrien verlassen musste. Dabei haben für mich weder Arzttermine in Deutschland oder soziale Leistungen eine Rolle gespielt, noch haben mich fehlende Seenotrettung, drohenden illegale Zurückweisungen oder Gewalt an den Grenzen abgeschreckt. Es war eine Frage meiner Existenz: Entweder sterbe ich dort, wo ich herkomme, oder ich fliehe trotz all dieser Risiken und bleibe vielleicht am Leben. Vor dieser Abwägung stehen fast alle Menschen, die fliehen müssen.
Entweder sterbe ich dort, wo ich herkomme, oder ich fliehe trotz all dieser Risiken und bleibe vielleicht am Leben.
Deshalb werden die derzeit diskutierten vermeintlichen Lösungen wie Abschreckung, Abweisung und Abschiebung nicht verhindern, dass Menschen fliehen – sie werden aber dazu führen, dass mehr Menschen sterben. Umgekehrt wird eine menschenrechtsbasierte und würdige Behandlung von Schutzsuchenden nicht dazu führen, dass mehr Menschen fliehen und ihr Leben riskieren. Aber für uns als Gesellschaft wird es einen Unterschied machen, ob wir anfangen, die Grundrechte für die vulnerabelsten Menschen abzuschaffen oder, ob wir an den Menschenrechten festhalten und dadurch auch unsere Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schützen.
Entscheidend ist unser Menschenbild: Sehen wir Menschen als Bedrohung, entmenschlichen wir sie und bezeichnen sie als „Waffen einer hybriden Kriegsführung“, dann entwickeln wir Strategien, um sie fernzuhalten. Sehen wir sie als schutzbedürftige und gleichwertige Menschen an, entwickeln wir menschenrechtsbasierte und pragmatische Lösungen; und verzichten auf populistische Stimmungsmache.
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