„Wie hältst Du’s mit der Religion?“ Als Goethe im Faust Gretchen ihren von Mephisto verführten Geliebten dies fragen ließ, war das Leben nicht nur in und um Weimar herum noch recht gut überschaubar. Wer damals von Religion sprach, meinte das Christentum. Geistliche und weltliche Herrscher legten fest, was erlaubt und was verboten war. Das Zusammenleben der Menschen war bestimmt von historisch gewachsenen sozialen Ordnungen. Und die hielten die meisten für gottgegeben und damit unveränderbar. Für freie Geister wie diesen Dr. Faustus war eine solche Welt schon damals viel zu eng. Er wollte wissen, was sie im Innersten zusammenhält. Deshalb hatte er ja diesen fatalen Pakt mit dem Teufel geschlossen.
Heute leben wir in einer von dieser geistigen Enge befreiten, globalisierten, digitalisierten und rund um den Globus vernetzten Welt. So steht es jedenfalls in den Zeitungen. Unsere Möglichkeiten haben sich immens erweitert, aber unser Zusammenleben ist dadurch nicht einfacher geworden. Vieles, was früher noch klar geregelt war, ist unübersichtlich geworden und durcheinander gekommen. „Fack ju Göhte“, einer der erfolgreichsten Kinofilme der letzten Jahre, macht das auf eindringliche Weise deutlich. Und die Schule ist ja immer ein Abbild der jeweiligen Beschaffenheit einer Gesellschaft.
Wie viele Menschen können mit der Gretchenfrage heute überhaupt noch etwas anfangen? Manche verstehen nicht genug Deutsch. Manche wissen nicht, was mit dem gemeint ist, was sie dazu auf Wikipedia finden. Manche fragen auch berechtigterweise zurück, welche Religion denn hier von diesem Gretchen gemeint sei. Was den vom Forschergeist besessenen Faust damals noch etwas irritiert hatte, stößt heute bei den meisten Menschen auf schulterzuckendes Unverständnis. Sogar viele Christen tun sich schwer mit einer klaren Antwort. Die Welt ist für so einfache Fragen ganz offenbar zu kompliziert geworden.
Vielleicht hat der Dalai Lama deshalb unlängst vorgeschlagen, der Ethik einen höheren Stellenwert einzuräumen als der Religion. Dahinter verbirgt sich die Hoffnung, eine über alle Religionen hinausreichende und in allen Religionen enthaltene ethische Dimension zur Grundlage unseres künftigen menschlichen Zusammenlebens machen zu können.
Aber sind ethische oder auch moralische Maßstäbe hierfür wirklich geeignet? Wird nicht das, was die Menschen in dem einen Kulturkreis als ethisch korrekt und moralisch rechtens betrachten, in einem anderen Kulturkreis ganz anders bewertet? Waren die jeweiligen ethischen und moralischen Vorstellungen nicht schon immer von dem bestimmt, was die Mehrzahl der Mitglieder einer Gemeinschaft für richtig und notwendig hielt?
Und das war ja niemals überall gleich und hat sich auch bei uns immer wieder verändert. Die Nazis hatten auch eine Moral und eine Ethik, aber das war eine andere als jene, die wir heute für akzeptabel halten. Und die ethischen und moralischen Werte, die von den Anhängern des gegenwärtigen US-amerikanischen Präsidenten vertreten werden, möchten die meisten hier bei uns wohl kaum zur Grundlage ihres Handelns machen.
Aber als soziale Wesen können wir die in uns angelegten Potentiale nur in Gemeinschaft mit anderen Menschen entfalten. Wir brauchen die Anderen, um von ihnen zu lernen, um uns mit ihnen auszutauschen, um uns aneinander und miteinander weiterzuentwickeln. Weil unser menschliches Gehirn aber so stark durch die jeweiligen individuellen Erfahrungen geprägt wird, die wir im Verlauf unseres Lebens machen, ist jeder Mensch einzigartig.
Aus diesem Grund sind wir alle so verschieden, und die daraus erwachsenden unterschiedlichen Interessen einzelner Personen oder auch einzelner Gruppen nur schwer unter einen Hut zu bekommen. Deshalb müssen wir eine soziale Ordnungsstruktur entwickeln, die uns hilft, unser Zusammenleben nicht nur einigermaßen erträglich, sondern auch fruchtbar zu machen.
Gewährleistet wurde das bisher über Jahrtausende hinweg durch schon zu biblischen Zeiten herausgebildete hierarchische Ordnungen. Sie haben sich bewährt und sich deshalb auch in alle gesellschaftlichen Bereiche ausgebreitet. Familien, Unternehmen, das Militär sowieso, aber sogar die Kirchen waren und sind zum Teil noch bis heute hierarchisch organisiert. Wir finden das ganz normal. Ohne diese soziale Ordnungsstruktur hätten wir als Gemeinschaften wohl auch kaum überleben, mit Sicherheit aber keine Kriege führen und unser Hab und Gut vor Angreifern verteidigen können.
Aber diese hierarchischen Ordnungen haben einen interessanten Nebeneffekt. In allen diesen Hierarchien strengen sich diejenigen, die weiter unten stehen, ständig und sehr beharrlich an, um auf der Stufenleiter weiter nach oben zu kommen. Sie leisten etwas, sie entdecken etwas, sie erfinden etwas – kurz: Sie bringen ständig etwas Neues in die Welt. Dabei handelt es sich nicht nur um neues Wissen, um Entdeckungen und Erfindungen, sondern auch um innovative Technologien. All das wird dann von anderen übernommen und breitet sich in der Gesellschaft aus. Zwangsläufig wird aber dadurch die Lebenswelt der Menschen zunehmend komplexer – bis schließlich ihr Zusammenleben durch diese bis dahin so gut funktionierenden hierarchischen Ordnungen nicht mehr steuerbar ist. Genau an diesem Punkt sind wir gegenwärtig in unserer vernetzten, globalisierten und digitalisierten Welt angekommen.
Das in allen Hierarchien angelegte Aufstiegsstreben macht die Welt also solange immer komplexer, bis sich unser Zusammenleben nicht mehr durch hierarchische Ordnungsstrukturen regeln lässt. Erneut lässt Goethe grüßen, diesmal mit dem Gedicht vom Zauberlehrling.
Nun wird aber auch verständlich, weshalb sich so viele verunsicherte Menschen zu Wort melden und Gruppierungen bilden, die sich eine Wiederherstellung dieser alten, verloren gegangenen Ordnung wünschen. Aber die Wiederherstellung einer Hierarchie kann ja nur dann funktionieren, wenn wir unsere Welt wieder so einfach und überschaubar machen, wie sie einmal war. Das ließe sich beispielsweise durch einen möglichst zerstörerischen Krieg erreichen. Wenn wir das vermeiden wollen, bleibt uns nur die Möglichkeit, uns gegenseitig und über alle Grenzen hinweg dabei zu helfen, uns dessen bewusst zu werden, was unser eigentliches Menschsein ausmacht.
Wir müssten einander also ermutigen, in uns selbst so etwas wie einen inneren Kompass zu entwickeln und zu stärken, der uns Orientierung für die Gestaltung eines menschenwürdigen Zusammenlebens bietet. Und zwar ohne, dass uns jemand „von da oben“ sagt, wie wir uns zu verhalten, was wir zu tun und zu lassen haben, damit unser Zusammenleben einigermaßen funktioniert.
Auf der gesellschaftlichen Entwicklungsstufe, auf der wir inzwischen angekommen sind, bleibt uns nun wohl nicht anderes übrig, als zu der Einsicht zu kommen, dass es bei der Gestaltung unseres Lebens und unseres Zusammenlebens mit anderen Menschen, auch mit anderen Lebewesen, nur um eines gehen kann: um die Wahrung unserer eigenen Würde. Denn wer sich seiner eigenen Würde bewusst geworden ist, kann die Würde anderer auch nicht mehr verletzten. So jemand stellt sich anderen nicht mehr als Objekt für die Verfolgung von deren Interessen zur Verfügung. Solche Menschen sind dann auch nicht mehr verführbar. Und sie machen auch keinen anderen zum Objekt ihrer Interessen und Absichten, ihrer Erwartungen und Bewertungen, ihrer Belehrungen und Maßnahmen. Das wäre unter ihrer Würde.
Wie halten Sie es mit Ihrer Würde? Ist das, was Sie tagtäglich tun und wie Sie Ihr Zusammenleben mit anderen Menschen gestalten, mit der Vorstellung Ihrer eigenen Würde vereinbar? Das war die Frage. Und meine persönliche Antwort lautet: Ich versuche es und ich werde es jeden Tag weiter versuchen, auch wenn es mir nicht – noch nicht – immer gelingt.
Gerald Hüther
- Dr.Gerald Hüther, geboren 1951, hat am Max-Planck-Institut und der Universität Göttingen als Professor für Neurobiologe geforscht. Er ist bekannter Autor populärwissenschaftlicher Bücher, darunter mehrere Bestseller, zuletzt „Die Demenzfalle“ und „Würde“.
- Gerald Hüther ist Gründer und Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung (www.akademiefuerpotentialentfaltung.org) und Begründer der Initiative Würdekompass (www.wuerdekompass.de), die den Aufbau von „Würdekompass-Gruppen“ in Städten und Gemeinden unterstützt. Darüber wird er im Oktober beim EduAction Bildungsgipfel in Mannheim sprechen. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Göttingen.
Ihre Meinung zählt!
Schreiben Sie uns!
Liebe Leserinnen und Leser dieser Zeitung, was halten Sie von diesem Beitrag? Schreiben Sie uns Ihre Meinung! „Mannheimer Morgen“ Debatte Postfach 102164 68021 Mannheim, E-Mail: leserbriefe@mamo.de
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/meinung/debatte_artikel,-debatte-wie-halten-sie-es-mit-der-wuerde-herr-huether-_arid,1251815.html