Die verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit hat sich bewährt. Die freiheitliche Demokratie schafft Frieden und Sicherheit, führt zu Wohlstand, garantiert ein selbstbestimmtes Leben und die Gleichheit vor dem Gesetz.
Der Mensch in Deutschland ist freiheitsbewusst, aber auch ein wenig freiheitsgesättigt. Deshalb müssen wir uns erneut der Idee der Freiheit vergewissern und die Freiheit gegen moderne Bedrohungen verteidigen und zurückgewinnen. Der Mensch scheint heute den Verführungen des staatlichen Goldenen Zügels zu erliegen, sich der Herrschaft der Geldwirtschaft zu unterwerfen, wird von einer Flut differenzierender, auch widersprüchlicher Normen bedrängt, muss in der digitalen Welt sich und seine Freiheit neu behaupten.
Der Staat gestaltet die Wirklichkeit grundsätzlich durch das Gesetz. Doch heute veranlasst er den Bürger auch durch Subventionsangebote, staatlichen Vorgaben zu folgen. Wer umweltgerechte Produkte nutzt, in strukturschwachen Gebieten investiert oder neue Techniken entwickelt, erhält staatliche Zuwendungen. Der Bürger wird käuflich.
Zudem steckt in jeder Subvention strukturell eine Ungleichheit. Wenn der Staat heute 80 Millionen Euro zu verschenken hätte und gäbe jedem Inländer einen Euro, wäre diese Aktion ersichtlich sinnlos. Bietet er aber 80 Bürgern je eine Million Euro an, gewinnt er Lenkungsmacht. Diese muss ähnlich der Gesetzgebungsmacht gemäßigt werden.
Jede Subvention drängt dem Freien Handlungsalternativen auf. Er steht vor der Wahl, sich entweder dem staatlichen Verhaltensprogramm zu unterwerfen und dafür einen Finanzvorteil zu empfangen, oder aber seine Freiheit zu bewahren, dafür aber bezahlen zu müssen. Diese anstrengungslosen Einnahmen lähmen und verführen zur Unvernunft.
Auch die moderne Geldwirtschaft begründet Abhängigkeiten der Menschen. Das erleben gegenwärtig die Sparer, wenn ihre Erwartung, am Jahresende drei Prozent Zinsen für ihre Guthaben zu erhalten, durch eine Politik des billigen Geldes enttäuscht wird. Auch der Geldanleger am Finanzmarkt fühlt sich oft ohnmächtig. Er ist dem Computer unterlegen, der die Wertentwicklungen an allen Börsen der Welt Millisekunden früher zur Kenntnis nimmt, darauf seine Dispositionen stützt und technisch Gewinne absaugt. Diese Transfers sind nicht vertraglich vereinbart, sondern technisch programmiert.
Das Recht bestimmt die Grundregeln unseres menschlichen Zusammenlebens, sichert den inneren und äußeren Frieden, ermöglicht Freiheit und organisiert soziale Zugehörigkeit. Doch gegenwärtig gerät die Gesetzgebung verstärkt in den Sog von Interessentengruppen und Interessentenwissen, das die Gesetzesordnung durch Ausnahmen und Sonderbestimmungen – im Datenschutzrecht, im Umweltrecht, im Steuerrecht – so kompliziert macht, dass der Betroffene sich bedrängt und durch die Fülle und Unverständlichkeit der Normen entmutigt fühlt. Deshalb sollte das Parlament in jedem Sachgebiet nur so viele Normen zulassen als der zuständige Ministerialrat aktiv im Gedächtnis behalten kann.
Die Entwicklung der Digitaltechnik bietet den Menschen ungeahnte Möglichkeiten des Wissensspeichers und der Wissenskombination, der Entlastung von körperlicher Arbeit und Arbeitsmonotonie, der Hilfen in Alltag, Produktion und Wissenschaft. Doch der Blick in den Computer zeigt den Menschen die Welt nur in der Auswahl und Enge dieses Formats. Er lässt seinen Blick nicht mehr in seiner Welt hin und her schweifen, sondern beobachtet in formatierter Freiheit nur noch Ausschnitte dieser Welt. Alles andere ist abgedunkelt. Und der Computer führt den Blick wertend in Teilperspektiven. Er zeigt Kamille im Rosenbeet als Unkraut, die im botanischen Beet ein Heilkraut ist.
Der Computer verdichtet unbedeutende Einzeldaten zu Persönlichkeitsprofilen, die viel über die Individualität des einzelnen Menschen und seine Geheimnisse aussagen. In „sozialen Medien“ können Teilnehmer aus der Anonymität sprechen, ihren Lehrer, ihren Richter und ihren Konkurrenten belasten. Dieses System organisiert Unverantwortlichkeit. Freiheitliche Meinungsäußerung meint den Sprecher, der mit seinem Namen und seinem Gesicht für seine Aussage eintritt. Anonymität belastet die Freiheitsidee, darf nicht Geschäftsmodell sein.
Deswegen fordert die Gegenwart mehr denn je Antworten auf die Frage, was der Mensch kann und was der Mensch darf. Hat er eine Drohne entwickelt, wird diese unwegsame Regionen erschließen und Menschen aus Not in einer unzugänglichen Gebirgslandschaft retten. Doch im Krieg überträgt der Algorithmus der Drohne Zerstörungsaufgaben, die nach Programm ausgeführt werden, ohne vor Ort Sensibilität für die Betroffenen zu entwickeln.
Werden Massenprodukte wie Autos oder Kleider durch Computer und Roboter produziert, stellt sich die Frage, wem der Gewinn aus dieser Maschinenproduktion zusteht. Die herkömmliche Antwort lautet, ertragsberechtigt sei der Finanzier dieser technischen Produktion. Doch diese Gewinnzuweisung teilt die Gesellschaft in ertragreiche Kapitalgeber und ertraglose Menschen, die ehemals ihr Einkommen mit Kopf und Hand verdient haben. Das führt zu sozialen Verwerfungen, gefährdet auch die Wirtschaft, die bald kaum noch Käufer für die Maschinenprodukte findet. Deswegen muss der Erwerb von Einkommen neu konzipiert werden, zum Beispiel in Genossenschaften, im Entgelt für abgegebenes Wissen und in Anerkennung von familiären Leistungen.
In der Faszination dieses Umbruchs wird der Mensch sich neu zur Freiheit qualifizieren müssen. Er wird lernen müssen, kritisch Algorithmen zu nutzen und auch zurückzuweisen. Wer kein Musikinstrument zu spielen gelernt hat, gewinnt keine Freiheit zu musizieren. Wer keine Sportart trainiert, erwirbt nicht die Freiheit zu diesem Sport. Die Mündigkeit der Moderne setzt voraus, dass der Mensch so viel Mut, aber auch so viel Gelassenheit entwickelt, dass er sich dem verführenden Subventionsangebot entziehen kann, sich als Bürger gegen die Bevormundungen der Geldwirtschaft zu wehren weiß, als demokratischer Bürger in der öffentlichen Debatte für bessere Gesetze kämpft. Die Zukunft der Wirtschaft gehört dem ehrbaren Kaufmann, dem anständigen Bürger, dem nach bestem Wissen und Gewissen erklärenden Steuerpflichtigen. Je komplizierter unsere Welt wird, desto einfacher müssen die Rechtsstrukturen werden, die diese Welt ordnen. Grundlage dieser Vereinfachung sind das Vertrauen in Anstand und Redlichkeit, das Normen erübrigt, auch die Gelassenheit und der Mut, die alltägliche Gegenwehr gegen Unverstand und Unrecht in der Hand der Bürger zu belassen.
Die Freiheit der Gegenwart ist beherzte Freiheit. Diese hat zwei Inhalte. Der Mensch hat den Mut, seinen Verstand zu nutzen, aber auch das Recht, unbeschwert und unbekümmert sein Leben zu gestalten, zu lachen und zu weinen, zu staunen und zu bewundern, sich aufzuregen und zu empören. Er will auch einmal leichten Sinnes sein und dabei seinen eigenständigen Platz im Recht finden. Gerade in der Gegenwart von Massenverwaltung und digitalen Standards fordert Freiheit die Kraft, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen und das Individuelle, das Einzigartige und das Unkonventionelle den Mustern, Typisierungen und Konventionen entgegenzustellen. In dieser Beherztheit wird der Freie die Hochkultur unseres Verfassungsstaates mitgestalten und in der Demokratie zwar immer wieder einen Wechsel organisieren, gerade dadurch aber die Kontinuität unserer Werte und unserer Institutionen festigen.
Paul Kirchhof
Paul Kirchhof, 1943 geboren, studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten Freiburg und München. Nach der Promotion in München und der Habilitation in Heidelberg war er von 1975 bis 1981 ordentlicher Professor für Öffentliches Recht und Direktor des Instituts für Steuerrecht der Universität Münster.
Seit 1981 lehrte er als Ordentlicher Professor für öffentliches Recht an der Universität Heidelberg, war dort von 1981 bis 2013 Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht, 1984 und 1985 auch Dekan der Juristischen Fakultät.
1987 wurde er zum Richter des Bundesverfassungsgerichts berufen und wirkte dort bis 1999 als Mitglied des Zweiten Senats. Er war von 1999 bis 2006 Vorsitzender der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft, von 2004 bis 2008 Präsident des Deutschen Juristentages und von 2013 bis 2015 Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Seit 2013 ist er Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht der Universität Heidelberg.
Bei Herder ist sein Buch „Beherzte Freiheit“ erschienen, das einen Weg zu selbstbewusster und gelassener Freiheit in der Moderne von Finanzstaat, Digitalisierung und weltweiten Begegnens weist.
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