„Und dann ist da diese verdammte Angst…“ - als Seelsorger höre ich diesen Satz, jedenfalls so ähnlich, immer öfter, seit bald zwei Jahren nun. Mit jeder neuen Covid-Welle schwillt auch die Angst wieder an. Vor allem bei Angehörigen älterer, alter, hochbetagter Menschen, nicht nur wenn diese im Pflegeheim leben. Dann freilich besonders: diese Angst vor einem Ausbruch im Heim, im Krankenhaus. Lange Zeit waren deshalb Besuche nicht erlaubt, und auch jetzt sind sie es nur unter strengen Sicherheitsvorschriften. Diese bedeuten einerseits Schutz für die Besuchten, andererseits große Einschränkungen, auch für die Besuchenden. Die Besuche von Kindern bei ihren alten Eltern sind seltener geworden, dauern weniger lang, bringen weniger Nähe.
Und auch sonst höre ich immer wieder dieses Wort: Angst. Es ist die Angst von Eheleuten umeinander, von Alleinstehenden um Freunde und Bekannte, auch von Eltern um ihre Kinder. Meist kommt sie mir als Angst um andere entgegen. Aber ich weiß, dahinter steckt noch mehr. „Diese verdammte Angst“, sie ist nicht nur die Angst vor dem Verlust von geliebten Menschen. Darin steckt, mehr oder weniger verborgen, die Angst vor der eigenen Ansteckung, der eigenen Erkrankung. „Diese verdammte Angst“ ist im Kern die Angst vor dem eigenen Tod.
Seit bald zwei Jahren spielt der Tod eine andere Rolle in unserer Gesellschaft als vor dem Ausbruch der Pandemie. Er lauert wieder hinter der nächsten Ecke. Eine Umarmung könnte zur Krankheit, zum Tode führen. Gemeinsames Singen scheint plötzlich lebensgefährlich. Kinder werden zu potenziellen Überträgern. Die Grenzen der medizinischen Möglichkeiten sind wieder augenfällig. „Mitten wir im Leben sind / mit dem Tod umfangen.“ Seit dem Ende des Mittelalters war das Leben in Europa zu Friedenszeiten nicht mehr derart vom Tode gezeichnet wie seit dem Auftauchen des SARS-CoV II. Diese Anwesenheit des Todes mitten im Leben macht Angst.
Natürlich gibt es auch die von Natur aus weniger Ängstlichen. Die Unbekümmerten. Und es gibt Zeitgenossen, die die ganze Pandemie und ihre Bekämpfung für eine große Verschwörung halten. Nicht wenige meinen, nicht das Virus, sondern die Maßnahmen zu seiner Eindämmung seien das eigentliche Problem. Diese Menschen werden auch beim Lesen dieser Zeilen denken: Da schürt einer die Angst, die zu bekämpfen er vorgibt. Und einige werden irgendwelche dunklen Mächte, die darauf aus seien, unser Leben zu kontrollieren, am Werk sehen. Das ist natürlich barer Unsinn. Denn „diese verdammte Angst“, die mir immer wieder begegnet, ist kein unbestimmtes, waberndes Gefühl. Sie ist sehr rational: Es gibt (noch) kein wirksames Heilmittel. Sozialpsychologisch heißt die Angst vor dem Tod: Angst vor der Überlastung des Gesundheitswesens.
Erinnern wir uns . Im Januar 2020, zunächst nur von wenigen Experten und Expertinnen bemerkt, gab es den ersten Corona-Fall in Deutschland. Am 25. März 2020 wurde Corona offiziell zur „pandemischen Lage von nationaler Tragweite“ erklärt. Die Bilder aus Bergamo sind ikonisch geworden. Seither haben wir Lockdowns erlebt, Ausgangssperren, Maskenpflicht und Abstandsgebote. Restaurants, Kinos, Theater, Universitäten, Schulen und Kitas, ja sogar die Kirchen, Synagogen und Moscheen waren geschlossen. Sport: nur allein und im Freien bitte. Singen: lebensgefährlich. Kultur: am ehesten verzichtbar. Altenheime: isoliert. Studierende: vor die Bildschirme verbannt. Glücklich, wer einen Hund hat und ihn Gassi führen muss. Der durfte noch raus. Flugzeuge blieben am Boden, Schiffe in den Häfen. Grenzen wurden dichtgemacht. Wir lernten ganz neue Wörter: Sieben-Tage-Inzidenz. Übersterblichkeit. Maskendeals. Impfdurchbrüche. Hospitalisierungsgrad. Triage. Boostern. Und trotz aller Maßnahmen zur Eindämmung wird gestorben wie nie. Demnächst wird das einhunderttausendste Todesopfer im Zusammenhang mit dem SARS-CoV-2 zu beklagen sein.
„Und dann ist da diese verdammte Angst…“ - Wörtlich gesagt hat mir diesen Satz eine Long-Covid-Patientin. Sie hat, gemeinsam mit ihrer Schwester, ihre an Covid erkrankte Mutter gepflegt, in häuslicher Quarantäne. Ein Krankenhausaufenthalt kam für Mutter und Töchter nicht in Frage: „Wir hätten unsere Mutter nicht mehr besuchen können. Als Krankenschwester kenne ich die Zustände im Krankenhaus genau. Sie wäre vermutlich trotzdem gestorben, aber alleine. Ohne dass wir bei ihr hätten sein können. Ohne dass wir ihre Hand hätten halten können. Ohne Kerze, ohne Gebet, ohne Trost. Das wollte sie nicht. Das wollten wir auch nicht. Zum Glück fanden wir einen Hausarzt, der sie in ihrer letzten Woche gut begleitet hat. So konnte sie in Frieden sterben.“ Da hatte eine keine Angst vor dem Tod ihrer Lieben. Vielleicht, weil sie ihn als Freund kommen sah, nicht als Feind. Vielleicht war sie schon mit ihm vertraut. „Diese verdammte Angst“ kroch erst in ihr hoch, als sie selbst erkrankte. Ein schwerer Verlauf. Es folgten Monate der Rekonvaleszenz. Treppensteigen, überhaupt körperliche Belastungen waren kaum möglich. Und jedes Mal, wenn der Puls nach oben ging, war sie wieder da: „diese verdammte Angst“. Und sie blieb, auch in den Monaten nach der Wiedereingliederung. Heute ist es die Angst davor, dass alles wieder von vorn losgeht. Und dass die Pandemie nie ein Ende hat.
Als Seelsorger bin ich davon überzeugt: Die Angst vor dem Tod ist zurzeit so groß wie seit dem Krieg nicht mehr. Und nicht nur als Seelsorger. Auch als Leiter einer Gemeinde, die Gottesdienste feiert, Bildungsangebote organisiert, Geselligkeit veranstaltet. Alles, was wir tun, ist von dieser rationalen Angst vor dem Tod bestimmt. Nicht nur unsere Zugangsbeschränkungen erzählen von ihr, sondern auch die Art, wie wir einander begegnen. Händereichen ist abgeschafft. Masken verdecken den Großteil der Mimik. Der räumliche Abstand ist größer geworden, auch da, wo keine Bodenmarkierungen vorhanden sind. Social Distancing hat uns voll im Griff. Und manchmal frage ich mich, ob „diese verdammte Angst“, die Angst vor dem Tod, nicht droht, sich zur Angst vor dem Leben auszuwachsen?
Am Sonntag feiert die evangelische Kirche Totensonntag. In den Gottesdiensten werden die Namen der Verstorbenen des letzten Jahres verlesen. Bei uns in der Christuskirche entzünden Konfirmanden und Konfirmandinnen für jede und jeden eine Kerze, tragen sie in einer Lichterprozession zum Altar, stellen sie in Kreuzform auf. Bei weitem nicht alle Toten des letzten Jahres sind mit oder an Corona verstorben. Aber alle, die um ihre Lieben trauern, sind in gleicher Weise „vom Tod umfangen“, mitten in ihrem je eigenen Leben. Was hilft gegen die Angst? Ich bin überzeugt davon, dass gegen die Angst vor dem Tod nur eines hilft: der Glaube an das Leben. An die Tragfähigkeit des Lebens trotz seiner Bedrohungen. An die Verlässlichkeit des Lebens trotz seiner Verletzlichkeit.
Deshalb verbindet sich in jeder Religion die jeweilige Gemeinschaft mit ihren Toten und mit denen, die um sie trauern. Wir Christen und Christinnen stellen sie in den Horizont von Jesu Tod und Auferstehung. Natürlich ist ein solcher Glaube an das Leben nicht beweisbar und deshalb sehr persönlich. Der Glaube an das Leben angesichts des Todes bleibt ein zartes Pflänzchen. Aber ich wünsche mir, er könnte wieder wachsen - weil er helfen kann gegen die Angst.
Der Long-Covid-Patientin hat der Glaube an das Leben geholfen, den Tod nicht als Feind zu sehen, wenn er auch ungebeten und zur Unzeit kommt. Und er wird ihr helfen, wieder Zutrauen in die Zukunft zu fassen, davon bin ich überzeugt. Aber auch unserer Gesellschaft als ganzer könnte der Glaube an die Kraft des Lebens helfen. Wir würden dann die Aufmerksamkeit wieder mehr auf das richten, was unser Leben ausmacht: gemeinsame Erfahrungen, Lachen und Weinen, Kultur und Sport, Essen und Trinken, Lernen und Wachsen, Nähe und Mitmenschlichkeit, lebenslang. Totensonntag im Jahr 2021. Trotz, ja wegen unserer Angst vor dem Tod: Wir umarmen die Kraft des Lebens.
Pfarrer Stefan Scholpp
Stefan Scholpp ist seit September 2013 Pfarrer in der Evangelischen ChristusFriedenGemeinde in Mannheim.
Zum Reformationsjubiläum 2017 hatte er die Idee für das Projekt „Mannheimer Bibel“, bei dem am Ende mehr als 3600 handschriftliche Seiten in fünf Bänden entstanden: Mehr als 600 Menschen schrieben die Bibel von Hand ab, mit dabei waren unter anderem auch Schulen aus der Region.
Zuvor war er mehr als zehn Jahre Pfarrer in der Evangelischen Kirchengemeinde Hockenheim. Sein kirchliches Examen legte er an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg ab und machte außerdem beruflich Station am Predigerseminar Petersstift. Bild: Prosswitz/Archiv
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