Manchmal mache ich mit dem Vortragspublikum ein kurzes Spiel, oft in den Momenten, wo sich einige felsenfest davon überzeugt zeigen, dass es den Menschen „letztlich doch nur ums Geld“ ginge. Dann lade ich die Anwesenden ein, für 30 Sekunden die Augen zu schließen und den glücklichsten Moment ihres Lebens zu erinnern. Nach der kurzen Stille – die von vielen spürbar als Erholung erlebt wird – lade ich ein, die Schlüsselsituation, das aufgetauchte Bild mit einem Wort zu teilen. Häufig werden Momente der Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung genannt; noch häufiger Liebe, Familie, Beziehung und – einsame Spitze – Geburt. Auch verlässlich kommen Naturerfahrungen vom Sandstrand bis zum Sonnenuntergang. Und schließlich: spirituelle Momente und Begegnungen mit Gott.
Nüchtern analysiert handelt es sich um gelingende Beziehungen zu sich selbst, zu anderen Menschen, zur Natur und zum größeren Ganzen. Nie, wirklich nie, wird Geld genannt, ebenso wenig Konsum, Auto oder Einkaufszentrum. Damit ist eigentlich schon alles gesagt.
Wenn wir versuchen, unser Glück über den Weg des Konsums oder Kaufens zu finden, wird dies nicht gelingen. Das Glück erwächst aus tieferen Schichten des menschlichen Seins, aus Erkenntnissen, persönlicher Entwicklung und Beziehungen. „Ein Mensch ist umso reicher, auf je mehr Dinge zu verzichten er sich leisten kann“, besagt ein arabisches Sprichwort.
Doch es geht nicht nur um persönliches Glück. Es geht um das Glück aller – um das Gemeinwohl. Dazu zählt, dass wir unseren Kindern und Enkeln diesen Planeten in gleich intaktem Zustand hinterlassen, wie wir ihn vorgefunden haben.
Derzeit verbraucht der durschnittliche EU-Bürger dreimal so viel Umwelt, wie der Planet allen Menschen dauerhaft zu schenken imstande ist. Würden acht Milliarden Menschen so viel konsumieren, bräuchte es drei Planeten.
Weihnachten ist der vielleicht beste Anlass, individuell und kollektiv zu reflektieren, was wir eigentlich unter Wohlstand verstehen, was unser Glück ausmacht, was wir letztlich wirklich benötigen.
Eine Wirtschaftsordnung, die uns 365 Tage im Jahr die Ohren mit Wachstum, Profit, Rendite, Konsum und sogar noch „Weihnachtsgeschäft“ volldröhnt, hat hier keine überzeugende Kompetenz. Würde es sich um einige versprengte Wachstum-Freaks unter den Ökonomen handeln oder eine Handvoll Umsatz-Maximierer, die aus der Reihe nachhaltiger Unternehmen tanzen, gäbe es kein Problem. Doch es handelt sich um den Kern unseres aktuellen Wirtschaftssystems, und die meisten von uns stecken mittendrin. Und wie der Fisch selten über das Wasser nachdenkt, fällt uns die gegenwärtige Stromrichtung – Streben nach Finanzgewinn und Rendite – meist gar nicht mehr auf.
Dabei handelt es sich historisch betrachtet um eine Verkehrung von Zweck und Mittel im Wirtschaftsleben. Seit Aristoteles wird Geld oder Kapital zwar als wertvoll, doch nur als Mittel und nicht als Ziel des Wirtschaftens angesehen. Zweck ist das gute Leben für alle: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl“, heißt es in der bayerischen Verfassung.
Eigentlich steht das Ziel also fest, bloß messen wir Erfolg in der Wirtschaft nicht an seiner Erreichung. Sondern an der Mittelanhäufung: an Geld und Finanzindikatoren. Und das ist, nüchtern betrachtet, ein Methodenfehler. Würden Sie den Erfolg einer Operation daran messen, wie viele Werkzeuge verwendet wurden? Oder die Qualität eines Essens an der Größe der Küche? Das Gelingen einer Ehe an der Höhe der Mitgift?
Nirgendwo messen wir Erfolg primär an den Mitteln – die sind nicht zu verschmähen und in vielen Fällen essenziell –, sondern daran, worum es eigentlich geht. In der Wirtschaft geht es um das Gemeinwohl. Und wie könnte das Erreichen dieses Ziels gemessen werden? Naheliegender Weise mit einem Gemeinwohl-Produkt (anstelle des BIP) auf volkswirtschaftlicher Ebene, mit einer Gemeinwohl-Bilanz für Unternehmen und mit einer Gemeinwohl-Prüfung für Investitionen.
Das Projekt „Bank für Gemeinwohl“ in Österreich hat bereits eine Gemeinwohl-Prüfung entwickelt, nach deren erfolgreichem Bestehen die ersten fünf Nachhaltigkeitsprojekte crowdfinanziert wurden: von erneuerbarer Energie bis solidarische Landwirtschaft.
Das volkswirtschaftliche Gemeinwohl-Produkt könnte sich aus den 20 relevantesten Aspekten von Lebensqualität zusammensetzen, die von den souveränen Bürgern in dezentralen Beteiligungsprozessen ermittelt werden.
Im Buthan gibt es schon heute das „Bruttonationalglück“ und in der OECD den „Better Life Index“. Auch in der UNO wurden vor zwei Jahren 17 „Globale Nachhaltigkeitsziele“ beschlossen. Das Gemeinwohl-Produkt könnte ein demokratischer Bottom-up-Weg sein, diese Ziele messbar zu machen. Wenn das Gemeinwohl-Produkt wächst, werden nicht nur alle hinschauen, weil wir es selbst komponiert haben, sondern wir können dann auch gewiss sein, dass wir entweder gesünder oder gescheiter oder glücklicher geworden sind.
Das Herzstück der Gemeinwohl-Ökonomie ist die Gemeinwohl-Bilanz, sie misst, wie sehr ein Unternehmen die gesellschaftlichen Grundwerte erfüllt: Menschenwürde, Solidarität, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit oder Mitbestimmung. Schon 500 Unternehmen aus Deutschland, Österreich, Italien, der Schweiz, Spanien und bis nach Nord- und Südamerika haben ihre erste Gemeinwohl-Bilanz erstellt, darunter Banken, Biobauern und Hochschulen. Und machen damit sehr positive Erfahrungen bei Mitarbeitern, Kunden, Geldgebern und der allgemeinen Öffentlichkeit.
Mittels der Bilanz werden alle Unternehmensaktivitäten durchgescannt auf ihre Wirkungen auf das Gemeinwohl. 20 Themen – von der Sinnhaftigkeit des Produkts über die Umweltauswirkungen und Arbeitsbedingungen bis zu den Eigentums- und Verteilungsfragen – werden in 60 Aspekte und je vier Erreichungsstufen konkretisiert, die in Punkten bewertet werden. In Summe kann ein Unternehmen maximal 1000 Gemeinwohl-Punkte erreichen.
Durch Negativkriterien – für Kinderarbeit, die Verletzung der Menschenrechte, Nutzung von Steuroasen oder Nichteintragung ins Lobby-Register – kann das Bilanzergebnis sogar negativ ausfallen. Das ist deshalb sinnvoll, weil erstens das Gemeinwohl-Bilanz-Ergebnis auf allen Produkten aufscheinen soll, zum Beispiel in Form einer Ethik-Ampel, damit die Konsumenten erstmals wirklich eine freie – weil informierte – Wahl haben.
Transparenz ist aber nur die Basis. Sie kann noch nicht das verrückte Preisverhältnis korrigieren, dass die etischen Produkte heute teurer sind als die unethischen. Wer mehr Verantwortung übernimmt, humane, soziale und ökologische Rücksichten, hat höhere Kosten und Preise. Und damit das Nachsehen am gnadenlosen Weltmarkt. Das ist absurd. Deshalb sollte das Ergebnis der Gemeinwohl-Bilanz zu differenzierten Steuern, Zöllen, Zinsen und zu Vor- und Nachrang im öffentlichen Einkauf und bei der Wirtschaftsförderung führen. Bis die ethischen Produkte preisgünstiger sind und die verantwortlichen Unternehmen leichter leben als die Lohndrücker.
Utopie? Schon jetzt interessieren sich immer mehr Kommunen, Städte und Landkreise für dieses alternative Wirtschaftsmodell, die Region Valencia hat vier Fördergesetze beschlossen, der EU-Wirtschafts- und Sozialausschuss mit 86 Prozent für die Gemeinwohl-Ökonomie gestimmt. Hätten Volkswagen, Deutsche Bank und Monsanto schon vor zehn Jahren eine Gemeinwohl-Bilanz erstellen müssen – die Welt sähe heute anders aus.
Geld ist nicht alles, es ist Mittel. Ziel ist ein sinnerfülltes gutes Leben in einer gerechten und solidarischen Weltgesellschaft. Diese lässt sich umso leichter erreichen, wenn in der Wirtschaft alle den Blick auf das Wesentliche lenken: auf die Werte, die das Gemeinwohl konstituieren.
Wenn wir dieses Ziel in Zukunft auch messen und wirksame Anreize – von der Steuer bis zum Weltmarktzugang – daran knüpfen, dann können wir unsere gesellschaftlichen Ziele endlich auch erreichen. Anstatt sie immer nur in Sonntagsreden und Weihnachtskommentaren anzurufen.
Christian Felber
- Christian Felber, 1972 in Salzburg geboren, lebt als Autor in Wien.
- Der Österreicher ist Gründungsmitglied von Attac Österreich, eine gemeinnützige, globalisierungskritische Nichtregierungsorganisation.
- 2010 initiierte Felber die internationale Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung sowie das Projekt „Bank für Gemeinwohl“.
- Das alternative Wirtschaftsmodell wird von mehr als 2200 Unternehmen unterstützt. Für die Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung hat Felber dieses Jahr den „Zeit Wissen Nachhaltigkeitspreis“ gewonnen.
- Zudem ist sein neues Buch „Ethischer Welthandel. Alternativen zu TTIP, WTO & Co“ erschienen.
Info: www.christian-felber.at und www.ecogood.org
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