Werden wir faul, wenn wir nicht arbeiten müssen, Herr Kovce?

Nein, im Gegenteil: Wir werden faul, wenn wir arbeiten müssen. Das meint der Ökonom und Philosoph Philip Kovce - und fordert deshalb ein bedingungsloses Grundeinkommen. Ein Gastbeitrag.

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Philip Kovce
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Für ihre träge Lebensweise werden Faultiere oft belächelt. Menschen, die nicht arbeiten, gelten dagegen schnell als Nichtsnutz. © Istock/ Boes

Wer faulenzt, der hat es schwer heute. Überall wird ihm ein Strick daraus gedreht. Er wird als Schmarotzer an den Pranger gestellt. Er gilt als Ausbeuter, Nichtsnutz, Arbeitsverweigerer. Ihm drohen andauernd Ärger und Verachtung - dabei könnte er uns ein Vorbild sein!

Wer es mit dem Faulenzen wirklich ernst meint, der rüstet sich für ein postindustrielles Zeitalter, in dem wir uns unserer Identität nicht mehr dadurch versichern, ein funktionierendes Rädchen im Getriebe der Arbeitsgesellschaft zu sein. Wer sich bereits heute dem gepflegten Müßiggang hingibt und dafür angefeindet wird, der könnte schon morgen genau dafür bewundert werden.

Was wir dieser Tage schimpflich Faulheit nennen, das nannten die alten Griechen löblich Muße. Arbeit? Bloß nicht! Dafür gab es in der Antike Maschinen, die Sklaven genannt wurden und eigentlich Menschen waren. Doch für die Muße, dafür brauchte es Menschen; freie Bürger, die sich inspirieren ließen von den Musen - für das Schöne, Wahre, Gute. Politik galt den Antiken entsprechend nicht als Arbeit, sondern als Kunst - als Gestaltung des öffentlichen Raumes, wofür man offen für göttliche Inspirationen sein musste.

Rasender Stillstand? Andauernde Alternativlosigkeit? Fehlanzeige! Es ging darum, das Gemeinwesen voranzubringen und zu regieren, nicht bloß darum, es zu verwalten und zu reagieren. Wenn wir von den alten Griechen heute etwas lernen wollen, dann dies: dass sich die Zukunft nicht dadurch gestalten lässt, dass wir sie mit geschäftigem Fatalismus über uns ergehen lassen, sondern dass wir nur dann zukünftig handeln können, wenn wir ebenso in der Lage sind, erstmal nichts zu tun - auf gut Deutsch: zu faulenzen. Dabei gilt es zu beachten, dass das, was wir hier Faulheit nennen, kein Selbstzweck ist. Es geht nicht um Faulheit um der Faulheit willen. Aber es geht auch nicht darum, die Faulheit kurzerhand ihrem Zweck zu entfremden. Nein, es geht darum zu erkennen, dass allein in der Faulheit die Kraft für neue Ideen und Initiativen schlummert, die ohne sie niemals reifen würden. Deshalb lässt sich die Faulheit nicht einfach verdrängen. Auch Blumen blühen nicht alle Tage.

Doch genug der schönen Worte! Wenn wir auf die gegenwärtigen Verhältnisse blicken, dann begegnet uns Faulheit meistens nicht in jener musischen Form der Antike, die für wunderbare Inspirationen offen ist, sondern als Blockade, Lethargie, Depression. Als Krankheit. Freiwillig und aus voller Überzeugung faul sind die wenigsten! Viel eher ist Faulheit heutzutage ein Indikator für faule Verhältnisse. Und damit eine gesunde Reaktion: Wer angesichts fauler Verhältnisse faul wird, der entzieht sich - sei es durch Verweigerung oder Krankheit - ebendiesen Verhältnissen. Damit ist er kein Sozialschmarotzer, sondern Spiegel sozialer Fäulnis.

Ausgerechnet dann, wenn es um Arbeit geht, sind die gegenwärtigen Verhältnisse besonders faul. Weshalb viele, ausgerechnet dann, wenn es um Arbeit geht, heute faul werden. Sie dösen am Arbeitsplatz, leisten bloß noch Dienst nach Vorschrift, melden sich bei jeder Gelegenheit krank, finden ihre Vorgesetzten doof und Feierabend und Ferien super. Oder sie gehen erst gar nicht mehr zur Arbeit - und lassen sich auch von Arbeitsämtern oder Jobcentern nicht zur Arbeit zwingen. Womit wir beim Zwang wären: Wer sich zur Arbeit gezwungen sieht - egal ob aus finanziellen Gründen oder um den Ansprüchen anderer zu genügen -, der leistet Zwangsarbeit. Dabei entfaltet er nicht seine freie Persönlichkeit, sondern er entfremdet sich von sich selbst und anderen.

Wer nicht mit Feuer bei der Sache ist, der brennt früher oder später aus. Und vor allem: Er tut nichts Gutes. Nichts ist für ein Unternehmen schädlicher als unmotivierte Mitarbeiter. Sie leisten schlechte Arbeit, verpesten das Betriebsklima, vergraulen die Kundschaft - kurzum: Es wäre für alle besser, könnten die Zwangsarbeiter endlich aufhören, zwangszuarbeiten. Das wäre inzwischen überhaupt kein Problem: Wir leben längst in einer weltweiten, arbeitsteiligen Fremdversorgungswirtschaft, welche den Mangel im letzten Jahrhundert besiegt hat - und mit diesem Sieg bis heute nicht fertig geworden ist. Ökonomische Theorien gehen weiterhin vom Mangel aus, als wäre nichts gewesen, und auch wir gehen weiterhin miteinander um, als gelte es, im Arbeitsleben noch immer auf die Jagd zu gehen und dabei möglichst viel von dem Wenigen zu erbeuten. Welch ein Irrtum! Der Arbeitszwang von heute ist nicht mehr in den mangelhaften Verhältnissen von gestern begründet. Ihm liegt keine äußere Notwendigkeit mehr zugrunde. Nein, das, was wir heute weiterhin als Arbeitszwang erleben, resultiert aus unserem mangelhaften Umgang mit der neuen Fülle. Wir zwingen uns weiterhin den Mangel auf, anstatt aus dem Vollen zu schöpfen. Wir tun weiterhin so, als täten wir nichts, wenn wir dazu nicht gezwungen würden. Dabei ist das Gegenteil richtig: Wir beginnen, etwas Gutes zu tun, wenn wir es nicht zwangsläufig erledigen, sondern freiwillig ergreifen.

Wer Zwangsarbeit überwinden will, der muss dafür sorgen, dass Freiheit die Bedingung der Arbeit ist. Wenn Freiheit die Bedingung der Arbeit ist, dann ist Arbeit selbstbestimmte Tätigkeit. Angesichts selbstbestimmter Tätigkeit werden wir nicht faul, sondern kreativ. Um diese Herausforderung annehmen zu können, bedarf es der Muße, welche die alten Griechen kultivierten. Aus dieser Muße heraus folgt dann keine Faulheit, sondern Tätigkeit. Wer freiwillig tätig ist, der wird nicht faul; faul wird gerade, wer unfreiwillig schuften muss.

Überhaupt ist dort die Zukunft menschlicher Arbeit anzusiedeln, wo wir freiwillig tätig sind. Denn für alles andere werden wir früher oder später Maschinen einsetzen. Das Grundgesetz der Digitalisierung lautet: Alles, was sich berechnen lässt, lässt sich automatisieren. Jede Stellenausschreibung, die derzeit noch auf solche Fähigkeiten abzielt, wird dereinst zur Bedienungsanleitung einer Maschine werden. Wir werden dann nur noch das zu tun haben, was Maschinen nicht können: das Unberechenbare, Persönliche, Wesentliche. Angesichts des technologischen Fortschritts und unseres mangelhaften Umgangs damit, schreibt der Wirtschaftsnobelpreisträger Wassily Leontief: "Die Geschichte des technologischen Fortschritts ist im Grunde die Geschichte der Menschheit, sich langsam und stetig einen Weg zurück ins Paradies zu bahnen.

Was würde aber geschehen, wenn wir uns plötzlich dort wiederfänden? Alle Güter und Dienstleistungen wären ohne Arbeit zu haben, sodass niemand mehr beschäftigt würde. Arbeitslos sein hieße aber, keinen Lohn zu bekommen. Folglich würde jeder so lange im Paradies hungern, bis eine neue, den veränderten technologischen Bedingungen angepasste Einkommenspolitik formuliert würde." Die "angepasste Einkommenspolitik", welche Wassily Leontief fordert, würde ein bedingungsloses Grundeinkommen realisieren. Es bezahlt nicht Arbeit, sondern es beauftragt sie. Es ermöglicht uns, dass wir uns mit uns selbst beschäftigen und trotzdem für andere arbeiten können. Es lässt uns müßig, aber nicht faul werden. Es tritt den faulen Verhältnissen von heute entgegen, indem es den Arbeitszwang endlich abschafft.

Und dann? Dann werden wir unsere Identität nicht mehr auf Zwangshandlungen gründen, wie dies im Zeitalter der industriellen Arbeitsgesellschaft noch die Regel gewesen ist. Vielmehr wird es dann darauf ankommen, was wir eigentlich tun und wie wir wirklich miteinander umgehen wollen. Der Soziologe Norbert Elias formuliert es treffend: "Die 'Umstände', die sich ändern, sind nichts, was gleichsam von 'außen' an den Menschen herankommt; die 'Umstände', die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst."

Wenn wir unter veränderten Umständen glücklich werden wollen, müssen wir uns als deren Gestalter begreifen. Was dabei auf dem Spiel steht, ist nichts weniger als unsere Zukunft.

Philip Kovce

  • Philip Kovce wurde 1986 in Göttingen geboren.
  • Er ist Ökonom und Philosoph.
  • Kovce forscht am Basler Philosophicum sowie an der Seniorprofessur für Wirtschaft und Philosophie der Universität Witten/Herdecke.
  • Außerdem lehrt er im Studium Generale der Berliner Universität der Künste.
  • Kovce gehört dem Think Tank 30 des Club of Rome an und ist Co-Autor der Bücher:
  • "Was würdest du arbeiten, wenn für dein Einkommen gesorgt wäre? Manifest zum Grundeinkommen" (2017) sowie "Was fehlt, wenn alles da ist? Warum das bedingungslose Grundeinkommen die richtigen Fragen stellt" (2015).

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