Welche Rolle sollte Religion heute spielen, Herr Möller?

Das Religiöse behelligt auch die, die nicht an Gott glauben. Liberale Demokratie funktioniert aber nur, wenn Religion Privatsache ist, sagt Philipp Möller. Der Bestsellerautor hat zwölf ganz konkrete Vorschläge, wie Säkularisierung gelingen kann. Ein Gastbeitrag.

Von 
Philipp Möller
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Das heute existierende Kirchensteuersystem ist nicht zeitgemäß, wird maßgeblich von Steuerzahlern finanziert und sollte abgeschafft werden. Momentan müssen alle deutschen Steuerzahler, die von ihren Eltern getauft wurden, acht bis neun Prozent ihrer Einkommenssteuer an die Kirchen abtreten. Wollen sie dies nicht mehr, müssen sie aus der Steuer- und Glaubensgemeinschaft austreten, in die sie nie aktiv eingetreten sind. Der Einzug dieser Kirchensteuer kostet rund 1,8 Milliarden Euro im Jahr, von denen die Kirchen etwa 300 Millionen zahlen. Der eigentliche Skandal der Kirchensteuer liegt aber in ihrer Verwendung, denn entgegen dem allgemeinen Volksglauben fließen nur etwa fünf bis zehn Prozent der rund zehn Milliarden Euro in die soziale Arbeit von Caritas und Diakonie, der Rest hingegen wird zu großen Teilen von Personal- und Verwaltungskosten verschlungen – und von den Kosten für das wichtigste Rekrutierungsinstrument der Kirchen: die Kinder- und Jugendarbeit. Kirchen sollten vielmehr Verträge mit geschäftsfähigen Personen abschließen müssen, um von diesen einen Mitgliedsbeitrag einziehen zu dürfen – auf eigene Verwaltungskosten.

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Schulen sind die Kreißsäle der Demokratie und ihr Auftrag besteht darin, Erkenntnisse zu vermitteln. Kirchen hingegen sind bis heute undemokratisch und fordern Bekenntnisse. Entsprechend hat Religionsunterricht nicht das Ziel, Kinder über Religion aufzuklären, sondern, so das Bundesverfassungsgericht 1987, die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft als bestehende Wahrheiten zu vermitteln – und das hat an Schulen nichts zu suchen! Religion darf an Schulen keineswegs tabuisiert werden, ganz im Gegenteil: Kinder und Jugendliche müssen sehr wohl lernen, dass es verschiedene Weltanschauungen gibt, die unterschiedlich begründet sind. In einer liberalen Demokratie dürfen Schulen aber nicht dazu missbraucht werden, verletzlichen Kinderhirnen zu sagen, was sie denken sollen, sondern dort müssen sie lernen, wie eigenständiges Denken funktioniert.

Entsprechend muss der konfessionelle Religionsunterricht an allen Schulen Deutschlands durch einen staatlich organisierten Ethikunterricht ersetzt werden, deren Lehrpersonal und -inhalte nicht von den Kirchen, sondern vom Staat eingesetzt und gestaltet werden.

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Aufgrund des Selbstbestimmungsparagrafen der Religionsgemeinschaften halten deutsche Gesetzgeber es für richtig, die Einrichtungen der Caritas und Diakonie von den zwei wichtigsten arbeitsrechtlichen Bestimmungen der Bundesrepublik Deutschland zu befreien: dem Betriebsverfassungsgesetz und dem Allgemeinen Gleichstellungsgesetz. Entsprechend haben die Kirchen sich ihr eigenes Arbeitsrecht geschrieben, nach dem Beschäftigte dort zum Beispiel nicht streiken und keinen Betriebsrat gründen dürfen und den moralischen Vorgaben ihres Arbeitgebers entsprechen müssen – und zwar auch dann, wenn sie keine Verkündungsarbeit leisten. Mit anderen Worten: Ob Reinigungskraft, Erzieherin oder Krankenpfleger – Atheisten, Juden, Muslime, Homosexuelle dürfen hier nicht rein oder können fristlos fliegen! Nun könnte man sagen, das seien eben Einrichtungen der Kirche, die können sich ihre Angestellten aussuchen – oder? Nein, denn erstens gelten für alle anderen Betriebe die gleichen Gesetze, die derartige Diskriminierungen zurecht verbieten, und zweitens sind Caritas und Diakonie nur auf dem Papier kirchliche Einrichtungen – finanziert werden die 42 Milliarden Euro, die diese sehr wichtigen Einrichtungen jährlich kosten, zu 98,2 Prozent aus öffentlichen Geldern, nicht etwa von den Kirchen.

Wer in Deutschland Menschen beschäftigt, für den muss auch deutsches Arbeitsrecht gelten – keine Extrawurst für die selbst ernannten Gottesvertreter, denn momentan sind deren über 1,2 Millionen Arbeitnehmer nicht durch deutsches Arbeitsrecht geschützt.

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Theologie ist keine Wissenschaft, sondern der größtenteils unwissenschaftliche Versuch, Gottes Existenz und religiöse Überzeugungen gegen sämtliche Evidenzen zu verteidigen – zumeist mit rhetorischen Nebelkerzen. Und obwohl sich jegliche christliche Tatsachenbehauptung – vom geozentrischen Weltbild bis zum Schöpfungsmythos – als falsch herausgestellt hat, wird Theologie noch immer als Wissenschaft dargestellt und entsprechend finanziert und anerkannt. Theologische Fakultäten sind also vom hohen universitären Anspruch ausgenommen, ihre Lehrstühle werden von den Kirchen besetzt, und bezahlt wird das ganze vom Steuerzahler.

Religionsgemeinschaften sollten daher die Ausbildung ihres Nachwuchses selbst organisieren, während der Staat effizient Mittel investiert, um zu kontrollieren, ob die dort vermittelten Grundsätze und Praktiken den Gesetzen unseres Landes entsprechen.

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Der besondere Schutz religiöser Überzeugungen vor Kritik und Satire steht in krassem Konflikt zur modernen rechtsstaatlichen Auffassung, nach der alle Menschen und Überzeugungen gleichbehandelt werden müssen. Religiöse Überzeugungen dürfen dabei keine Ausnahme darstellen – sie stehen nicht unter Denkmalschutz und müssen genau so hinterfragt, kritisiert, parodiert oder auch schonungslos durch den Kakao gezogen werden dürfen, wie alle anderen Überzeugungen auch.

Entsprechend muss der „Blasphemieparagraf“, Paragraf 166 des Strafgesetzbuches (StGB), ersatzlos gestrichen werden.

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Als das Kölner Landgericht urteilte, dass eine medizinisch unnötige Amputation bei einem nicht einwilligungsfähigen Patienten – die Knabenbeschneidung – eine Straftat darstellt, war die religiöse Empörung groß. So groß, dass unsere Bundesregierung in Rekordzeit ein Gesetz entworfen und verabschiedet hat, das die Gotteslobbyisten wieder beruhigt hat: Paragraf 1631d des Bürgerlichen Gesetzbuches setzt fest, dass Entscheidungen über religiös motivierte Genitalbeschneidungen bei Jungen im Rahmen des Sorgerechts der Eltern liegen – jeglichen medizinischen, psychologischen und juristischen Argumenten zum Trotz. Aus säkularer Perspektive ist das der Super-GAU: Kollektivistisch-religiöse Vorstellungen werden 2012 durch unsere Gesetzgeber höher bewertet als das individuelle Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und auf religiöse Selbstbestimmung – eine Gesetz, das umgehend gestrichen werden muss!

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Wenig später trägt sich ein ähnlicher juristischer Vorfall zu: die Sterbehilfe, die in Deutschland bisher straffrei war, wird 2015 nach jahrelanger kirchlicher Lobbyarbeit kriminalisiert – ebenso entgegen jeglicher sachlicher Argumentation und gegen die Haltung von etwa 80 Prozent der Bevölkerung. Auch dieser Vorfall zeigt: Die deutsche Bevölkerung ist aufgeklärter als der Großteil ihrer Regierung.

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Viele Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten, tun dies aus Gründen der Verfolgung, unter anderem durch religiöse Terroristen und Fundamentalisten, die ihnen ein Leben in Freiheit und Frieden unmöglich machen. Dass geflüchtete Menschen in deutschen Flüchtlingsheimen auf dieselben Strukturen treffen, vor denen sie geflohen sind, ist ein untragbarer Zustand.

Wer in Deutschland Asyl will, muss die Freiheitsrechte des Individuums achten – auch wenn diese der eigenen (religiösen) Überzeugung widersprechen. Menschen, die vor religiös motivierter Unterdrückung geflüchtet sind, müssen im säkularen Deutschland konsequent vor Religion geschützt werden.

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Religiöse Vielfalt und Religionsfreiheit sind gut und wichtig, aber nur solange sie das friedliche und respektvolle Zusammenleben von Menschen nicht stören – insbesondere in einer bunten Gesellschaft wie unserer. Religiöse Hassprediger, die ihre Landsleute gegen unsere „gottlose Gesellschaft“ aufhetzen und sie von der Integration abhalten, müssen ebenso scharf kritisiert und notfalls verurteilt werden, wie nationalistische und fremdenfeindliche Hassprediger – keine Toleranz der Intoleranz, egal wie sie motiviert ist!

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Dass Religionsvertreter in Rundfunkräten sitzen wäre gerechtfertigt, wenn säkulare Vertreter dort ein vergleichbares Mitspracherecht hätten. Haben sie aber nicht, weshalb unsere öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten noch immer zur Verbreitung religiöser Überzeugungen genutzt werden – und zwar auch im Kinderkanal.

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Wer den Klang schallender Glocken am Sonntagmorgen mag, der kann sich einen entsprechenden Wecker stellen – etwa per Bluetooth-Lautsprecher im eigenen Schlafzimmer. Alle anderen müssen von religiöser Lärmbelästigung verschont bleiben.

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Juristische Sonderregelungen für Religionsgemeinschaften begünstigen religiöse Narrenfreiheit und verstoßen gegen alle Gleichbehandlungsgrundsätze unseres Rechtsstaates. Die Forderung, dass sich auch Religiöse an die Gesetze unseres Landes halten müssen, ist keine Einschränkung ihrer Religionsfreiheit – sondern eine säkulare Selbstverständlichkeit.

Philipp Möller

  • Philipp Möller, 1980 in Berlin geboren, lebt als freier Autor in seiner Heimatstadt.
  • Mit zehn Jahren beschloss er, am Religionsunterricht nicht mehr teilzunehmen.
  • Er studierte Pädagogik mit Schwerpunkt Erwachsenenbildung an der Freien Universität Berlin, unterrichtete zeitweise an Berliner Grundschulen. Danach arbeitete er als Pressereferent für die Giordano-Bruno-Stiftung, wechselte später in den Beirat.
  • Als Mitglied der Giordano-Bruno-Stiftung setzt er sich für Aufklärung und die Privatisierung der Religion ein.
  • Im Fischer Verlag ist sein jüngstes Buch erschienen: Gottlos glücklich – Warum wir ohne Religion besser dran wären.

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