Jede bestehende Wirklichkeit trägt den Keim der Veränderung. Jede Wirklichkeit ist somit eine von vielen vorstellbaren Möglichkeiten, die Welt zu erfinden und zu gestalten. Kinder können sich unendlich viele Wirklichkeiten vorstellen. Allerdings brauchen sie dazu Lernanlässe, die stimulierend wirken, um neue Ideen zu generieren und somit Kreativität zu entfalten.
Da jedes Lernen zugleich ein sozialer Vorgang ist, brauchen Kinder eine Lernumgebung, die dialogische Lernprozesse unterstützt. Der Dialog und damit die Sprache spielen eine herausragende Rolle beim Lernen. Denn der Dialog ist ein Vorgang der personalen Begegnung.
Im Dialog erfahren wir, was Kinder bereits wissen und wie sie über einen Sachverhalt denken. Im Dialog erfahren die Kinder auch, welche Vorstellungen die anderen Kinder über ein und denselben Sachverhalt haben. Somit erlangen sie eine größere Bewusstheit ihrer Wirklichkeit und ihres Denkens. Im Dialog stoßen die Kinder aber auch auf die Widersprüche ihres Weltverständnisses.
Lernen ist ein Vorgang der selbstständigen Modifizierung von vorhandenen Konzepten durch neue Erfahrungen. Lehrstrategien, die sich nicht den Denkmustern der Kinder anpassen, können keinen Zuwachs an Erfahrung und Wissen bewirken. Kreative Lernprozesse können nur durch ein Anknüpfen an das Vorwissen der Kinder stattfinden.
Ein Beispiel dafür, wie sich ein Gespräch entwickeln kann: In einem Vogelnest entdecken Kinder Haare. Wo hat der Vogel diese gefunden?, fragen sie. Ein Kind meint, die Friseure würden manchmal die Ladentür offen stehen lassen. Die Vöglein könnten schnell hineinfliegen und Haare klauen. Diese Hypothese wird jedoch von anderen Kindern verworfen. Einige Kinder meinen nun, dass es in der freien Natur auch Tiere gebe, die Haare verlören, so wie Hunde und Katzen. Einige Kinder meinen auch, dass alle Tiere im Winter ein dickeres Fell haben als im Sommer.
Hier findet eine Modifizierung der Konzepte statt. Hier haben die Kinder die Möglichkeit, etwas zum Gegenstand ihres Denkens zu machen. Eine unabdingbare Voraussetzung, Zusammenhänge zu verstehen.
Für viele Kinder ist die Begegnung mit anderen Kindern nur noch im Rahmen der Kitas möglich. Im Mikrokosmos der Kitas haben alle Kinder potenziell die Möglichkeit zu erfahren, über welche individuellen Fähigkeiten sie verfügen. Dabei sind sie auf die Hilfe und Anregung der Erwachsenen angewiesen, um sich ihren Anlagen entsprechend zu entwickeln; und Entwicklung bedeutet Veränderung. Kinder sind ohnehin potentielle Weltveränderer.
Heute kommen vielerorts in Kitas Kinder aus verschiedenen Nationen zusammen. Schaut man genauer hin, dann muss man feststellen, dass alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer kulturellen Verschiedenheit gleichermaßen befähigt sind, sich geistig und seelisch zu verändern. Mithin ist in keinem Alter die Bereitschaft, Neues aufzunehmen, sich anzupassen so ausgeprägt, wie in der Kindheit. Insofern sind das Elternhaus und die Kindertagestätten Lernorte von singulärer Bedeutung.
Kinder können nicht in Kategorien wie vernünftig, logisch, richtig oder falsch denken. Diese Freiheit verleiht ihnen das Privileg, ihr Denken, Handeln und Lernen uneingeschränkt von rationalen Strategien zu gestalten. Kinder haben aber auch die Gabe, zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden und somit ein Verständnis von Kausalzusammenhängen. All dies verleiht den Kindern Kompetenzen, die auch für das Forschen und Entdecken unabdingbar sind.
Die Kategorien "Kind als Forscher" und "Laborexperiment", geprägt von einigen Einrichtungen, entsprechen nicht den Denkmustern der Kinder. Sie sind irreführend. Der Entdeckergeist der Kinder geht nicht von einer Hypothese aus, die überprüft werden muss. Kinder entdecken ihre Welt ohne eine erkennbare Planung, Methode und Kontrolle. Gerade Planung, Methode, Technik und Kontrolle sind jedoch Kategorien, die einem forschenden Experiment von Erwachsenen inhärent sind.
Geborene Lerner sind die Kinder ohnehin, weil sie Kontrolle über Dinge erlangen wollen, um sich in der Welt zu bewähren.
Kinder werden nicht erst dann zu Forschern, wenn man sie mit Lupe, Becherglas und Pipette ausstattet. Dadurch lädt man sie ein, als gelenkte Forscher zu agieren. Dies widerspricht jedoch der geistigen Disposition des Kindes und grenzt seine Erfahrungsmöglichkeiten ein. Vielmehr brauchen Kinder Lernorte und Lernsituationen, die sie anregen, ihr Vorstellungsvermögen in Kommunikation mit anderen Kindern zu entfalten.
Es sind die alltäglichen Bilder und Orte, die Kinder einladen, genauer hinzusehen, Aspekte zu entdecken, die ihnen rätselhaft erscheinen und zu vielfältigen Fragestellungen herausfordern. Somit können Kinder über die Bewusstheit der äußeren Welt allmählich die Bewusstheit der inneren Welt erlangen.
Statt Gerätschaften brauchen Kinder Ermutigung, die Welt zu interpretieren. Interpretation ist stets auch Analyse, also das Bemühen, die Welt zu verstehen.
Auch wir Erwachsenen müssen umdenken, Einfachheit anstreben, lernen mit Kindern zu spielen und dabei dem Selbstverständlichen, dem Alltäglichen mit Neugier zu begegnen.
Ich arbeite oft in Offenbacher Kindertagesstätten. In dieser Stadt gibt es in allen Kitas eine Mehrheit von Kindern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Es gibt Kitas, die von über 90 Prozent nicht-deutschsprachigen Kindern besucht werden. Aber auch die deutschen Kinder haben erstaunlich geringe Sprachkenntnisse. Einige deutsche Eltern meinen, ihre Kinder seien unterfordert. Die Eltern der Kinder aus fremden Ländern dagegen verstehen nicht, dass ihre Kinder in der Kita nicht gleich Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Unabhängig von der jeweiligen nationalen Identität wünschen sich viele Eltern die Kitas als Orte der Wissensvermittlung. Und unter "Wissensvermittlung" verstehen sie die Akademisierung der Kindheit. Nicht "Wissensvermittlung" ist von Bedeutung, sondern die Frage, wie Kinder zur Deutschen Sprache kommen.
Nach meinen Erfahrungen in mehr als 38 Kitas in verschiedenen Bundesländern fällt mir auf, dass nicht hinreichend erkannt wird, welches kreative Potenzial die Kinder tatsächlich besitzen. In psychologischem Kontext betrachtet können Menschen nur dann kreativ handeln, wenn sie sich geborgen und frei fühlen können. Eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass Kinder sich vorbehaltlos angenommen fühlen, von Erwachsenen mit Empathie akzeptiert und ernst genommen werden. Ob ein Kind sich in diesem Sinne angenommen fühlt, erkennt man daran, dass es risikobereit ist, nach eigenen Vorstellungen handelt, neugierig auf neuen Situationen ist, ohne Aufforderung die Initiative ergreift, sich durch Fehler machen nicht entmutigen lässt und Eigenwilligkeit bewahrt.
Solche Qualifikationen werden nicht ererbt, sind also nicht angeboren, sondern müssen erworben werden. Daher brauchen Kinder Eltern, Erzieher, Lehrer und andere Bezugspersonen, die durch ihre Haltung den Kindern Hilfsbereitschaft vermitteln und bereit sind, gemeinsam mit ihnen neue Zusammenhänge zu entdecken.
Pädagogik ist eine nüchterne Aufgabe, bei der das Handwerkliche die größte Bedeutung hat. Ein guter Pädagoge zeichnet sich dadurch aus, dass er gelernt hat, sich selber zu verstehen. Denn nur dann kann er auch die Kinder verstehen und entsprechend sein pädagogisches Instrumentarium zur Geltung bringen. Wenn ein Tischler einen wackligen Tisch herstellt, dann muss er in der Lage sein, ihn zu stabilisieren. Kindertagestätten brauchen Pädagogen, die helfend unerwartete Probleme annehmen und diese bewältigen wollen.
Das sind hohe Anforderungen an die Person der Lehrenden. Doch zugleich sind sie, gemessen an der Verantwortung der Pädagogen, das Mindeste, was man erwarten kann. Die Zukunft der Kinder können wir nicht vertagen und auf bessere Zeiten oder Bildungsrevolutionen warten. Statt Aktionismus brauchen wir Konzepte des Lehrens und Lernens, die man heute und jetzt realisieren kann.
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