Wenn wir von Wohlstand reden, meinen wir damit in der Regel finanziellen Wohlstand: Wie viel Geld wir haben, wie viele Dinge wir besitzen. Aber was ist mit Zeitwohlstand? Einem Zustand, den der Soziologe Hartmut Rosa so beschreibt: „Wenn Menschen mehr Zeit haben, als für die Erledigung ihrer Pflichten erforderlich ist.“ Ähnlich wurde ursprünglich für den Acht-Stunden-Tag geworben: Acht Stunden für Arbeit, acht Stunden für Schlaf, acht Stunden für Freizeit. Aber dieses Versprechen hat sich schon längst aufgelöst. Die Arbeit hängt heute über all unserer Zeit - und die Zeit, die wir haben, versuchen wir mit möglichst viel vermeintlicher Produktivität zu füllen. Nach Wohlstand fühlt sich das nicht an. Aber was wäre, wenn wir das ändern würden?
In Island gibt es verschiedene Modelle, wie die verkürzte Arbeitszeit umgesetzt wird.
Um den Fachkräftemangel - und alles andere, was mit Arbeit nicht stimmt - zu lösen, wird gerne mal eine bestimmte Idee eingeworfen. Häufig von Männern um die 60, die auf hohen Positionen in Politik und Verbänden sitzen. Sie sind sich sicher: Wir müssen einfach alle mehr arbeiten. Mit „alle“ meinen sie in der Regel allerdings nicht sich selbst, sondern diejenigen, die in Krankenhäusern, Cafés und Flughäfen fehlen. Die Details ihrer Lösungen für Mehrarbeit variieren. Mal ist von der 42-Stunden-Woche die Rede, mal von mehr Überstunden, mal von einem späteren Renteneintritt. Aber der generelle Tenor ist klar: Wenn „diese jungen Leute“ alle mal ein bisschen mehr arbeiten würden, dann hätten wir diese Probleme mit dem Fachkräftemangel nicht. Wer das nie gut findet: Die Leute, die tatsächlich länger und mehr arbeiten sollen - obwohl sie jetzt schon nicht mehr können.
Immer nur mehr arbeiten ist Quatsch. Denn all diese Vorstöße - von der 42-Stunden-Woche, den extra Überstunden und der Rente ab 70 - ignorieren eine Sache: Dass mehr Arbeiten nicht gesund ist und damit auch keine Lösung für den Fachkräftemangel. Denn wenn mehr Menschen krank und ausgebrannt ausfallen, ist das nicht nur teuer, sondern verschärft die Situation nur. Die viel bessere Lösung wäre das Gegenteil dieses Vorschlags: Wir sollten alle (viel) weniger arbeiten.
Als leuchtendes Beispiel wird immer wieder Island genannt: Island hat mehrere Jahre lang mit 2500 Menschen in über 100 Arbeitsstätten getestet, wie sich eine reduzierte Arbeitszeit auf Menschen und Wirtschaft auswirkt. Ich telefoniere mit Gudmundur D. Haraldsson. Er ist Vorstandsmitglied bei Alda, der Association for Sustainable Democracy, die gemeinsam mit dem Thinktank Autonomy die Ergebnisse des Tests veröffentlicht hat. Haraldsson beschäftigt sich seit der Finanzkrise mit Arbeitszeiten. Damals wurde in Island diskutiert, ob nicht alle mehr arbeiten oder später in Rente gehen sollten. Also ungefähr so, wie gerade auch in Deutschland. Haraldsson fand diese Diskussionen seltsam: „Warum sollten wir mehr arbeiten, wenn wir mehr und bessere Technologie haben? Das macht doch keinen Sinn.“
Der Test in Island war so erfolgreich, dass mittlerweile fast alle Menschen dort kürzere Arbeitszeiten haben oder diese ihnen vertraglich zustehen. Dass die Arbeitszeit langfristig reduziert wurde, und dass die Tests überhaupt stattgefunden haben, haben die Isländerinnen und Isländer ihren starken Gewerkschaften zu verdanken. Fast alle Beschäftigten in Island - zwischen 85 und 90 Prozent - sind Mitglied einer Gewerkschaft. „Gewerkschaften sind hier politische Akteure“, erklärt mir Haraldsson. Sie haben in den 1970er-Jahren die 40-Stunden-Woche durchgesetzt und die gesetzlich verankerte Elternzeit eingefordert. Sie verhandeln über Gehalt und Arbeitsbedingungen, und sie unterstützen ihre Mitglieder, wenn diese krank werden, ausgebrannt sind oder finanzielle Probleme haben.
Die Gastautorin
- Sara Weber, geboren 1987, ist Deutsch-Amerikanerin und lebt in München. Sie studierte Publizistik und Buchwissenschaft in Mainz und besuchte die Deutsche Journalistenschule (DJS) in München.
- Nach ihrer Zeit als freie Autorin für unter anderem die „Zeit“, „Süddeutsche Zeitung“ und „Spiegel“ war sie Redaktionsleiterin beim Netzwerk LinkedIn. Sie wurde von Kress Pro als eine der Chefredakteur*innen des Jahres 2019 ausgezeichnet.
- Heute arbeitet sie als Medienberaterin, Digitalstrategin und freie Journalistin. Zudem engagiert sie sich im Vorstand des Förderkreises der DJS und bei den Neuen Deutschen Medienmacher:innen.
- Gerade ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch ihr Buch „Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?“ erschienen.
In Deutschland sind - wie in Island auch - Gewerkschaften ein wichtiger Teil im Kampf um reduzierte Arbeitszeiten. Mit dem Slogan „Samstags gehört Vati mir“ hat der Deutsche Gewerkschaftsbund einst die 40-Stunden-Woche gefordert. 1956 lief dieser Satz in Werbefilmen im Fernsehen, in den 1960er-Jahren wurde dann die kürzere Arbeitszeit eingeführt. Und wer startet jetzt die Aktion „Freitags hat Mama auch mal frei“? Denn wir kennen es alle: Beim Zwei-Tage-Wochenende wird samstags geputzt, eingekauft und andere Hausarbeit erledigt. Sonntag ist dann frei - aber spätestens am Sonntagabend denkt man schon wieder über den Montag nach. Ein freier Freitag würde das entzerren und für mehr echte Erholungszeit sorgen.
Doch es muss gar nicht zwingend der freie Freitag sein: In Island gibt es verschiedene Modelle, wie die verkürzte Arbeitszeit umgesetzt wird. Teilweise beginnen und/oder enden Schichten früher. In Kindertagesstätten gehen Angestellte nach einem rotierenden System nacheinander in den Feierabend. In einer Polizeistation gibt es ein Zwei-Wochen-System: In der ersten Woche fällt für die eine Hälfte der Angestellten montags bis donnerstags eine Arbeitsstunde weg, freitags geht’s vier Stunden früher ins Wochenende. Diese erste Woche ist so acht Stunden kürzer, in der zweiten Woche wird dafür normal lange gearbeitet. Die andere Hälfte der Angestellten arbeitet im gegensätzlichen Rhythmus. Die Regeln können flexibel gestaltet werden, sodass sie zum Arbeitsplatz und den jeweiligen Aufgaben passen. Auch bei den Aufgaben wird an unterschiedlichen Stellen reduziert: Meetings werden gekürzt oder gestrichen. An einem Arbeitsplatz wurden Meetings nach 15 Uhr komplett abgeschafft. Aufgaben werden stärker priorisiert, delegiert oder umverteilt. In Kitas machen die Kinder nicht mehr gleichzeitig Mittagspause, sondern nacheinander in Gruppen. In vielen Betrieben wurden gemeinsam mit den Mitarbeitenden Modelle entwickelt, wie die verkürzte Arbeitszeit für sie am besten funktionieren kann. Eine kollektive Anstrengung, keine von oben auferlegte Entscheidung der Führungskräfte.
Wir können nicht damit rechnen, dass die Wirtschaft immer und immer weiter wächst.
Dass eine reduzierte Arbeitszeit in Krisenzeiten eine Lösung sein kann, um Arbeitsplätze zu halten, ist übrigens nicht neu. 2011 steckte Europa in der Schuldenkrise. Zu diesem Zeitpunkt schreibt die US-amerikanische Ökonomin und Soziologin Juliet Schor: „Ohne den Fortschritt der kürzeren Arbeitswoche, Urlaubstage, früheren Renteneintritt und späteren Eintritt in den Arbeitsmarkt hätten die Wirtschaftsnationen der OECD nie ein ,Goldenes Zeitalter’ von hoher Arbeitsmarktbeteiligung erreicht, das nach der Depression der 1930er-Jahre vorherrschte.“ Zwischen 1870 und 1970 hätten sich die gesamten Arbeitsstunden in etwa halbiert. „Wir brauchen kürzere Arbeitszeiten, weil es unrealistisch ist, auf ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes zu setzen, um all den aktuellen und künftigen ,Überschuss’ an Arbeit aufzufangen“, schreibt Schor. Oder anders gesagt: Wir können nicht damit rechnen, dass die Wirtschaft immer und immer weiter wächst. Alleine aus klimatischen Gründen wird es hier eine Umkehr geben müssen. Klassischerweise würde das zu steigender Arbeitslosigkeit führen. Wenn wir davon ausgehen, dass künftig weniger Arbeit zu verteilen ist, brauchen wir andere Methoden, um das abzufedern - und eine reduzierte Arbeitszeit ist ein sinnvolles Modell. In ihrem TED-Talk spricht sich Schor deshalb für die Vier-Tage-Woche aus. Es sei nicht möglich, CO2-Emissionen ausreichend zu senken, ohne die Arbeitszeit in Industrienationen zu reduzieren. Wer weniger arbeitet, pendelt auch weniger. Und: „Wenn Menschen Zeit statt Geld kriegen“, so Schor, „haben sie tendenziell einen kleineren CO2-Fußabdruck.“ Außerdem verringert sich mit der Arbeitszeit die Größe der gesamten Wirtschaft. Wenn wir Arbeitslosigkeit niedrig halten, Emissionen reduzieren und Menschen mehr Lebensqualität geben, so Schor, gewinnen wir durch die Vier-Tage-Woche dreifach.
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Damit das richtig funktioniert, braucht es allerdings eine bessere Verteilung von Geld - und eine andere Wahrnehmung von Wohlstand. Zeitwohlstand eben. „Zeit ist besonders wertvoll in reichen Ländern, in denen die materiellen Bedürfnisse aller befriedigt werden können, und in denen Mangel allein von schlechter Verteilung von Einkommen und Reichtum verursacht wird“, schreibt Schor. Oder anders gesagt: Dass nicht alle genug Geld haben, ist ein Verteilungsproblem. Das muss gelöst werden - etwa indem kürzere Arbeitszeiten finanziell ausgeglichen werden, wie es bei den meisten Tests zur Vier-Tage-Woche auch geschieht. Die Arbeitszeit sinkt, das Gehalt bleibt gleich. Das ist auch gut fürs Klima: Diverse Studien zeigen den Zusammenhang zwischen reduzierter Arbeitszeit und Klimaschutz. Wird die Arbeitszeit reduziert, sinken Energienutzung und Treibhausemissionen. Wenn nicht gearbeitet wird, bleiben Büros und Fabriken dunkel, es muss nicht geheizt werden, die Computer bleiben aus. Würde der Freitag als Arbeitstag abgeschafft, könnten die Treibhausgasemissionen in Großbritannien bis zum Jahr 2025 um fast 20 Prozent reduziert werden.
„Freitage als Nicht-Arbeitstage zu fordern könnte für das 21. Jahrhundert das sein, was das Zwei-Tage-Wochenende für die Arbeiter*innenbewegung des 20. Jahrhunderts war“, schreiben Will Stronge und Kyle Lewis. Wenn das Ziel sei, Gleichberechtigung am Arbeitsplatz zu erreichen, dann müssten wir verstehen, dass der Arbeitsplatz nicht nur Büro, Lagerhalle oder Fabrik ist.
Weniger arbeiten darf nicht bedeuten, dass die Menschen prekäre Zweit- und Drittjobs annehmen müssen.
„Wir müssen uns daran erinnern, dass unsere Wirtschaft, unsere Familien und unsere Leben gestützt werden von typischerweise unbezahlten oder schlecht bezahlten Formen von Sorgearbeit, die hauptsächlich von Frauen in häuslichen Räumen verrichtet werden“, schreiben Stronge und Lewis. „Wir müssen anerkennen, dass Frauen außerdem an vorderster Front des Arbeitsmarktes stehen, dass sie oft in prekären Jobs arbeiten. Und letztlich müssen wir die Realitäten der zweiten und dritten Schichten anerkennen und auf Wege hinarbeiten, wie wir diese Arbeit umverteilen können, sodass wir alle weniger arbeiten können.“ Das bedeutet auch, dass die verkürzte Vollzeit - also etwa eine 32-Stunden-Woche - nicht schlechter bezahlt werden darf als die bisherige 40-Stunden-Woche. Längerfristig müssen wir das Problem der Umverteilung anders lösen, möglicherweise mit einem Grundeinkommen. Weniger arbeiten darf nicht bedeuten, dass die Menschen nicht mehr ihre Miete bezahlen können und prekäre Zweit- und Drittjobs annehmen müssen. Wir brauchen eine Entwicklung, wie wir sie in der Vergangenheit auch gesehen haben: eine echte Arbeitszeitreduktion, von der alle profitieren und die so mehr Gerechtigkeit schafft - und mehr Zeit für die wirklich wichtigen Dinge im Leben.
Aus: „Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?“ von Sara Weber, 2023, Kiepenheuer & Witsch
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