Debatte: Nur 16 bis 26 Wochenarbeitsstunden pro Kopf nötig

Was soll überhaupt noch wachsen, Frau Ax?

Ob Einkommen fair verteilt sind, lässt sich nicht am Bruttoinlandsprodukt messen. Unsere Art zu Wirtschaften liege im Argen, sagt Christine Ax. Die Ökonomin und Philosophin zeigt auf, was uns stattdessen interessieren sollte. Ein Gastbeitrag.

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Christine Ax
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Geld zum Leben braucht man schon, doch wann hat man zu viel davon? Gastautorin Christine Ax sieht im Überfluss vor allem eins: eine Chance.

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Unendliches Wirtschaftswachstum in einer endlichen Welt? Solange jeder Euro, der heute ausgegeben wird, mit unverändert hohem Ressourcenverbrauch verbunden ist, ist diese Idee mit physikalischen Grundgesetzen nicht vereinbar.

Die Vorstellung, dass die Wirtschaft bei uns nicht mehr wächst, löst bei Menschen, die sich mit diesen Themen niemals beschäftigt haben, viele irrationale Ängste aus. Nullwachstum hört sich für sie nach Stillstand an und nach Arbeitslosigkeit.

Die Tochter einer Freundin fragte entsetzt, ob sie dann kein neues Handy mehr bekommt. Die Antwort lautete: "Doch. Aber nicht mehr so oft. Und einige Teile der neuen Handys könnten in Zukunft schon einmal genutzt worden sein."

"Null-Wachstum" bedeutet eigentlich nur, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) konstant ist und wir nur genauso viel konsumieren, investieren, forschen und entwickeln wie im letzten Jahr. Und das war - an unserem ökologischen Fußabdruck gemessen - bereits viel zu viel.

Das BIP, mit dem wir Wachstum messen, sagt nichts über den Zustand unserer Gesellschaft aus. Es ist nur die Summe aller Rechnungen, die in jedem Jahr geschrieben werden. Ganz gleich wofür. Wenn mehr Menschen krank sind, wächst das BIP. Wenn es zu Unwettern kommt, wächst das BIP. Wenn wir aufrüsten, wächst das BIP. Und am steilsten wächst die Kurve nach einem Krieg, weil dann alles endlich wiederaufgebaut werden darf.

Wir wissen, dass der Stress und die Arbeitsverdichtung, die mit dieser Art von Wachstum verbunden sind, immer mehr Menschen krank und unglücklich gemacht haben. Und ein immer größerer Teil unseres Wohlstandes exportiert wurde. Dabei wird oft vergessen, dass davon bei uns niemand direkt etwas hat.

Das BIP beschreibt auch nicht den Bestand. Wir führen uns selten vor Augen, wie groß das Vermögen ist, das in den letzten Jahrzehnten geschaffen wurde: die Geldvermögen, die technische Infrastruktur, die Schulen, die Museen, die Kunstschätze. Wir haben Mühe, das alles instandzuhalten.

Das gilt auch für die privaten Haushalte: Unsere Häuser sind gigantische Zwischenlager an wertlosen Dingen, die niemand braucht. Wollen wir das alles wirklich unseren Kindern zumuten?

Was machen die mit dem ganzen Plunder? Zwei Drittel aller Elektrogeräte, die auf dem Müll landen, sind funktionsfähig oder könnten repariert werden.

Die Weltbevölkerung wird Mitte dieses Jahrhunderts stagnieren und dann schrumpfen. In Europa findet das schon heute statt. Wer wird in Zukunft dann all das nutzen, instandhalten oder rückbauen? Ich habe nicht den Eindruck gewonnen, dass wir dazu bereit sind, diesen Wohlstand mit Zuwanderern zu teilen, um dieser demografischen Falle zu entkommen.

All die Güter und Dienstleistungen, die hergestellt, instandgehalten oder vor allem auch genutzt werden sollen, beruhen auf der Verfügbarkeit von lebendiger Arbeit. Daran wird auch die Digitalisierung nichts ändern. Lebendige Arbeit und die Zeit für Konsum (Lebenszeit) kann man nicht auf Lager legen, bevorraten. Nur Leben ist Reichtum.

Wie sehr diese Art zu Wirtschaften und der Zustand unserer Gesellschaften im Argen liegen, können wir auch daran messen, dass es Länder gibt, in denen die Bevölkerung es vorzieht, sich selber auszulöschen. In Japan oder in Russland zum Beispiel findet ein leises Sterben statt. Viele dort haben keine Lust mehr, unter diesen Bedingungen zu leben und zu arbeiten und gleichzeitig Kinder zu bekommen.

Wenn Politiker oder Wirtschaftswissenschaftler sich Jahr um Jahr um das Wirtschaftswachstum sorgen, dann hat das nichts mit der Sorge zu tun, es könnte uns an etwas Wichtigem mangeln.

Es hat vor allem damit zu tun, dass sie keinen Ausweg gefunden haben (und finden wollten), keinen Ausweg aus einem System, dessen Dynamik sie nicht mehr beherrschen. Sie sind Getriebene von Teilsystemen, die so konstruiert wurden, dass sie auf Wirtschaftswachstum angewiesen sind. Aber stimmt das - einmal abgesehen von der privat finanzierten Alterssicherung - wirklich? Oder haben wir es nicht vor allem mit einer Angst zu tun, die notwendigen Korrekturen vorzunehmen? Denn das würde wehtun.

Unser Finanzsystem beruht auf dem Prinzip Zins und Zinseszins. Die Geldmenge wird von Banken im Rahmen der Schöpfung von Giralgeld (auch Buchgeld, steht als Guthaben in den Büchern der Banken und ist nicht wie Bargeld in Form von Noten und Münzen im Umlauf) ständig erhöht. Doch erstens hat sich diese Geldmenge von der Realwirtschaft entkoppelt. Und zweitens landet das Geld nicht dort, wo es wirklich noch gebraucht wird und Probleme löst, zum Beispiel in denjenigen Ländern weltweit, in denen Investitionen und Wirtschaftswachstum heute am meisten Sinn machen.

Dass die Unternehmen in Deutschland sich vom stetigen Investieren abwenden, hat gute Gründe. Es macht nur Sinn zu investieren, wenn man davon ausgehen kann, dass die Güter, die hergestellt werden, später auch nachgefragt werden. Aber die Märkte in Deutschland sind gesättigt. Die Bevölkerung altert und damit schrumpft der Konsum. Mehr Exporte machen nicht nur keinen Sinn - sie sorgen außenpolitisch inzwischen für immer mehr Konflikte und wachsende Ungleichheit.

Zweitens können wir nicht immer mehr herstellen und konsumieren, weil uns ökologisch Grenzen gesetzt sind. Die Natur ist mehr als ein "Sack von Ressourcen". Wer das ignoriert, verhält sich irrational und zerstört die eigenen Existenzbedingungen - und die anderer.

Die Macht des Geldes wird überschätzt. Geld kann nichts, ist nur ein Versprechen auf Leistungen, die Menschen in Zukunft erbringen könnten (oder auch nicht). Die extreme Konzentration von Vermögen in den Händen weniger wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Je höher der Konzentrationsgrad, desto schneller nimmt die Ungleichheit zu. Sinkende Erträge auf Kapital führen zu Fehlsteuerungen und gefährlichen Investitionsstrategien.

Für ein gutes Leben und die soziale Absicherung der Menschen ist nicht entscheidend, ob das BIP wächst. Entscheidend ist vielmehr, was wir unter Wohlstand verstehen und ob Einkommen und Vermögen fair verteilt sind. Die Summe der produktiven Stunden, die erforderlich sind, um unser heutiges Bruttosozialprodukt zu erzeugen, sind in der Vergangenheit immer weiter gesunken.

Je nachdem, wie man Erwerbsbevölkerung definiert, brauchen wir heute nur noch zwischen 16 und 26 Wochenarbeitsstunden pro Kopf, um unser Wohlstandsniveau zu halten und all die vielen Kinder, Studenten und Rentner mit zu versorgen. Die mit der Digitalisierung verbundenen Produktivitätsgewinne werden diese Entwicklung beschleunigen.

Wachsen darf aber nur noch das, was dazu beiträgt, dass wir in Zukunft CO2-frei produzieren und leben und möglichst wenige Ressourcen verbraucht.

Wenn wir immer weniger Menschen brauchen, um unseren Überfluss zu erzeugen, dann ist das zugleich eine Chance, weniger zu arbeiten und unser Leben friedvoller und im Einklang mit der Natur zu gestalten. Auch eine Chance dafür, mehr Zeit miteinander zu verbringen, sie in gute Arbeit zu investieren und bürgerschaftlichem Engagement mehr Raum zu geben. Was wir nicht verbrauchen, müssen wir auch nicht erarbeiten.

Dass ein bedingungsloses Grundeinkommen eine machbare Alternative zu unserem komplizierten und aufwendigen sozialen Sicherungssystem ist, dafür sprechen sich heute selbst solche Experten aus, denen man nicht unterstellen kann, sie wären "alternative Spinner" oder einfach nur faul. Verschwenden zu müssen, um arbeiten zu dürfen, ist eine zerstörerische, sinnlose und unmenschliche Strategie. Wir sollten es deshalb einfach bleiben lassen.

Christine Ax

Christine Ax ist tätig als Ökonomin, Philosophin und Autorin.

Sie forscht und schreibt seit Mitte der 1990er Jahre über Fragen des nachhaltigen Wirtschaftens mit einem Schwerpunkt auf lokaler Ökonomie und Handwerk.

In guter Arbeit, die ihren Lohn auch in sich selbst trägt, sieht Christine Ax eine wichtige Quelle von Wohlstand und Glück - und in einer als sinnvoll empfundenen Tätigkeit zugleich eine nachhaltige Alternative zu ressourcenintensivem Konsumverhalten. Bild: Privat

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