"MM"-Debatte

Was leistet unser Pflegesystem, Herr Weidner?

Dauerbaustelle Pflege: Verbesserungen sind nicht zum Nulltarif zu haben - und genau deshalb in der Politik so schwer zu erreichen. Nach der Reform ist vor der Reform, sagt Pflegewissenschaftler Frank Weidner. Ein Gastbeitrag.

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Frank Weidner
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Eins der größten Probleme in der Pflege ist der Fachkräftemangel: Was tun, wenn zu wenige Menschen bereit sind, sich um alte und hilfsbedürftige Menschen zu kümmern?

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Nun kommt er also endlich, der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Pflegeversicherung. Es wird sich herumgesprochen haben, dass ab 2017 Pflegebedürftige nicht mehr in drei Pflegestufen, sondern in fünf Pflegegraden eingestuft werden. Damit einher geht eine bessere Berücksichtigung von kognitiven (Funktionen, die mit Wahrnehmung, Denken, Lernen zu tun haben) Einschränkungen, was sich insbesondere für Betroffene, die unter Demenz leiden, positiv auswirken soll. Sie sollen bei den Begutachtungen durch den Medizinischen Dienst nun angemessener beurteilt werden können.

Ferner sind von der Bundesregierung mittels mehrerer Reformschritte noch weitere Verbesserungen rund um die Pflege auf den Weg gebracht worden. So sind Geld- und Sachleistungen für Pflegebedürftige aufgestockt worden und mehr Betreuungsangebote und -kräfte können nun mit Geld aus der Pflegeversicherung bezahlt und eingesetzt werden. Auch soll die Pflegeberatung durch eine größere Verantwortung der Kommunen verbessert werden. Dies soll den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen zugutekommen. Ist damit alles gut in der Pflege? Mitnichten, denn die ganze Sache hat eine gewaltige Schieflage.

Zwar sind mit den Pflegereformen in den vergangenen Jahren die Leistungsansprüche der Versicherten durchaus verbessert worden, aber die Frage, wer denn diese Leistungen zukünftig unter welchen Bedingungen erbringen soll, ist weitgehend unbeantwortet geblieben. Denn abgesehen vom Ausbau der Anzahl an gering qualifizierten Betreuungskräften leidet Deutschland unter einem inzwischen als verheerend zu bezeichnenden Fachkräftemangel in der Pflege. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge fehlen heute schon rund 100 000 Kranken- und Altenpfleger. Prognosen für die nächsten Jahre verheißen auch nichts Gutes. Bis 2030 soll sich der Fachkräftemangel sogar auf bis zu 500 000 Fachkräfte vervielfachen. Die schönen Pflegereformen der Bundesregierungen laufen somit Gefahr, leere Versprechungen zu werden, wenn letztendlich immer weniger Menschen bei uns bereit sind, den Pflegeberuf zu erlernen, und die, die ihn erlernt haben, wegen unzumutbarer Rahmenbedingungen in Scharen davonlaufen.

Es hat zwar in den vergangenen Jahren eine Reihe von Initiativen und Offensiven von Bund, Ländern und Arbeitgebern gegeben, beispielsweise Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben. Aktuell wirbt die Bundesagentur für Arbeit um philippinische Pflegekräfte. Auch wurden große Umschulungsprogramme aufgelegt. Viele werden sich noch an die sogenannten "Schlecker-Frauen" erinnern, die im großen Stile für den Pflegesektor gewonnen werden sollten. Fakt ist aber, dass der Fachkräftemangel sich trotz derartiger Aktionen immer weiter verschärft hat und sich die Erkenntnis langsam durchsetzt, dass die Hausaufgaben hierzulande und wohl grundsätzlicher erledigt werden müssen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat es in einer ihrer letzten Videobotschaften des Jahres kurz vor Weihnachten selbst angesprochen. Sie hat darin nicht zum ersten Mal den Pflegekräften Respekt gezollt für ihre Bereitschaft, die anstrengende Arbeit in der Pflege und die damit verbundene Verantwortung zu übernehmen. Das sieht auch ein Großteil der Bevölkerung so, die bei Befragungen nach den Berufen mit dem höchsten Ansehen und Vertrauen in der Bevölkerung, die Krankenschwester regelmäßig neben Feuerwehrleuten und Ärzten auf einen der drei ersten Plätze wählen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Fragt man Eltern, ob sie ihren Kindern raten würden, einen Pflegeberuf zu ergreifen, sieht die Sache schon ganz anders aus. Da fällt den meisten gleich ein, dass ja die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung in der Pflege gar nicht so rosig sind.

Auch Bundeskanzlerin Merkel räumt ein, dass beispielsweise die Vergütung in der Pflege oftmals nicht ausreichend ist. So lag das monatliche Brutto-Einkommen eines Altenpflegers im Jahr 2013 durchschnittlich bei 2568 Euro in den alten Bundesländern und bei beschämenden 1945 Euro in den neuen Bundesländern. Ein Krankenpfleger verdient nicht selten für eine vergleichbare Verantwortung zwischen 600 und 800 Euro im Monat mehr. Fachkräfte anderer Branchen verdienen deutlich mehr als Altenpfleger.

Die Personalschlüssel in der Pflege sollten laut Merkel ebenfalls verbessert werden, also die Frage, für wie viele Patienten und Pflegebedürftige eine Fachkraft eigentlich zuständig sein kann und soll. Ein Blick in die europäischen Nachbarländer offenbart, dass Deutschland hier am Ende der Fahnenstange zu finden ist. Während in Norwegen durchschnittlich eine Pflegefachkraft im Krankenhaus für weniger als vier Patienten zuständig ist, in den Niederlanden für fünf, in der Schweiz für knapp sechs und in Großbritannien für knapp acht, sind es hierzulande im Durchschnitt mehr als zehn Patienten, um die sich eine Pflegefachkraft kümmern muss. Und in den Pflegeheimen sieht es nicht besser aus. Viele Einrichtungen können aufgrund des galoppierenden Fachkräftemangels die sogenannte Fachkraftquote von 50 Prozent nicht mehr einhalten. Studien belegen zwar, dass der Personalschlüssel einen maßgeblichen Einfluss auf die Qualität der Versorgung hat. Den Aufsichtsbehörden bleibt aber gar nichts anderes übrig, als Ausnahmegenehmigungen zu erteilen, um nicht dutzende von Altenheimen schließen zu müssen.

Letztlich soll laut Merkel auch die Pflegeausbildung verbessert werden. Und in der Tat hat die Bundesregierung Anfang 2016 eine Ausbildungsreform auf den Weg gebracht, die von Fachverbänden und der Pflegewissenschaft seit langem gefordert wurde. Ziel der Reform ist es, die drei nebeneinander bestehenden Pflegeberufe der Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege in einen zukunftsfähigen Pflegeberuf zusammenzuführen. Weltweit ist es Standard, dass man innerhalb von drei Jahren auf den Einsatz in der allgemeinen Pflege vorbereitet wird und sich danach erst durch Weiterbildungen spezialisiert. Studien und Modellprojekte der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass das auch in Deutschland gut funktionieren kann. Merkwürdig ist nur, dass Merkels Pflegeausbildungsreform ausgerechnet durch Kräfte in der Unionsfraktion im Bundestag seit Monaten ausgebremst wird. Die vordergründige Argumentation, dass mit der Reform zukünftig Hauptschüler keinen Zugang mehr zur Pflegefachausbildung hätten, überzeugt nicht. Vielmehr geht es wohl darum zu verhindern, dass es mit einer einheitlichen Pflegeausbildung auch zu einer Erhöhung der Vergütungen der in der Altenpflege Beschäftigten kommt. Dadurch würde die Pflege teurer werden, und dagegen machen vor allem die privaten Arbeitgeber und Träger von Pflegeeinrichtungen mobil. Teile der Unionsfraktion haben sich deren Argumentation zu eigen gemacht und fallen damit nicht nur Merkel, sondern auch ihrem Bundesgesundheitsminister Gröhe (CDU) in den Rücken.

An diesen Beispielen wird deutlich, wie wichtig bei allen Beteuerungen um die Bedeutung der Pflege für die Gesellschaft nicht zuletzt die finanziellen Fragen sind. Es gibt in Deutschland weit mehr als eine Million Pflegekräfte in den Krankenhäusern, Altenheimen und ambulanten Diensten. Da liegt es auf der Hand, dass Änderungen in der Vergütung oder den Rahmenbedingungen gleich in die Milliarden gehen können. Politiker werden angesichts solcher Zahlen sehr schnell vorsichtig, denn es droht mit einer spürbaren Verbesserung ein deutlicher Anstieg der Kosten und damit auch der Versichertenbeiträge. Diese Angst und Mutlosigkeit der Politik kann erklären, warum wir in den Reformen bezüglich der Pflegeberufe nicht wirklich vorankommen.

Ein weiterer Grund ist bei den Beschäftigten selbst zu finden. Sie sind schlecht organisiert. Anders als beispielsweise in typischen Männerberufen ist bestenfalls jede zehnte Pflegekraft Mitglied in einer Gewerkschaft oder einem Berufsverband. Das ist zu wenig, um zeitgemäßen Forderungen gelegentlich den notwendigen Nachdruck etwa durch Streiks zu verleihen. So ist die riesige Berufsgruppe der Pflege doch nur ein schlafender Riese, der den starken Mächten und Lobbyisten in der Gesundheitspolitik einigermaßen hilflos ausgeliefert ist.

Wollen wir in der Pflege also wirklich vorankommen und den Versprechen der Bundesregierung zukunftsfähige Leistungsangebote der Pflege gegenüberstellen, sind nicht nur weitere Reformen unverzichtbar. Wir brauchen die Einsicht, dass die Pflege im Ganzen in den Blick zu nehmen ist und die Ehrlichkeit, dass diese Reformen nicht zum Nulltarif zu haben sind. Und wir brauchen eine Berufsgruppe der Pflege, die erkennt, dass Solidarität und Organisation unverzichtbar ist, um sich in Reformen auch einmal Gehör zu verschaffen und gegen Widerstände durchsetzen zu können. Es geht um nichts weniger als eine bessere Qualifizierung, bessere Arbeitsbedingungen und bessere Vergütungen in der Pflege, um die Versorgung der Pflegebedürftigen auch in der Zukunft zu sichern. Die Bundeskanzlerin weiß das und kann, wenn sie will, jetzt noch etwas dafür tun.

Frank WEidner

Prof. Dr. Frank Weidner ist Direktor des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung in Köln.

Er hat einen Lehrstuhl für Pflegewissenschaft an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar bei Koblenz inne.

Weidner, 1962 in Marl in Westfalen geboren, ist außerdem berufserfahrener Gesundheits- und Krankenpfleger.

2013 erhielt er den Deutschen Pflegepreis vom Deutschen Pflegerat.

Internet: www.fweidner.de; www.dip.de

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Pflegereform

Zum 1. Januar 2017 ändert sich durch das Pflegestärkungsgesetz II einiges. Das Wichtigste:

Die Einstufung in die Pflegestufen 0 bis 3 ist Vergangenheit. Künftig gelten die Pflegegrade 1 bis 5.

Menschen, die bereits eine Pflegestufe haben, wird automatisch der neue Pflegegrad zugewiesen.

Das Bundesgesundheitsministerium sichert allen Pflegebedürftigen einen Bestandsschutz für ihre derzeitigen Leistungen zu. tö

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