Die Unterstützung vieler Deutsch-Türken für das Verfassungsreferendum in der Türkei hat Diskussionen entfacht. Bei der Migrationsdebatte geht es vor allem um narzisstische Selbstbespiegelung und nicht um Politik, sagt Autor Zoran Terzic. Ein Gastbeitrag.
Ich traf einmal in Berlin auf einen Mann, der sich als iranischer Kommunist im Exil vorstellte. Er erzählte mir, dass er seit den 1980er Jahren in Deutschland lebe, dass er sich aber immer noch zu 70 Prozent als Iraner und zu 30 Prozent als Deutscher fühle. Die islamische Revolution habe ihn aus dem Iran vertrieben, die "4000-jährige persische Kultur" erfülle ihn mit Stolz. Ich erzählte ihm, dass auch ich ein Einwanderer sei und meine Familie in den 1970ern aus dem damaligen Jugoslawien nach Deutschland gekommen war. Er fragte mich nach meinen Prozentzahlen. "Wie viel Prozent deutsch bist du?" Ich machte ein Fifty-Fifty-Gesicht und sagte: "Als Kommunist weißt du sicherlich, was Marx schreibt, dass nämlich Arbeiter kein Vaterland haben." Ich wollte damit zum Ausdruck bringen, dass ich die Identitätsdebatte für intellektuelle Zeitverschwendung hielt. Das verstimmte den Mann etwas, und er beendete das Gespräch. Ich hatte einen Kommunisten, der sich als Kommunist ausgegeben hatte, irrtümlich für einen Kommunisten gehalten.
Dennoch hat die gefühlte Mathematik des Mannes ihre Berechtigung. Man kann sich nämlich Menschen ähnlich wie Lebensmittel nach Inhaltsstoffen zusammengesetzt vorstellen, zum Beispiel 20 Prozent Christ, 30 Prozent Buddhist, 10 Prozent Choleriker, 30 Prozent Vegetarier, 70 Prozent Demokrat, 90 Prozent Wasser. Da es sich hier um gefühlte Mathematik handelt, müssen die Anteile nicht 100 Prozent betragen. Wie die Migrationsdebatte verdeutlicht, folgen dabei politisch motivierte Gefühle bestimmten Regeln. So sollte etwa bei allen Bürgern das Demokratie-Gefühl möglichst hochprozentig sein und bei türkischen Migranten der Erdogan-Anteil unter 50 Prozent liegen. Es scheint auch nicht möglich, zu 50 Prozent Christ und zu 50 Prozent Muslim zu sein, auch wenn man "offen für Neues" ist oder in einer Patchworkfamilie lebt. Überhaupt wird die Gefühlsarithmetik in Deutschland mit einem hohen Deutsch-Anteil in Verbindung gebracht, nach dem Motto: "Wer zu uns kommt, muss sich an unsere Inhaltsstoffe anpassen." Nur so erklärt sich die Forderung mancher Politiker, dass sich Neuankömmlinge an die "geltenden Gesetze" zu halten haben - als ob es eine gesonderte Forderung dafür bräuchte.
Aus der Perspektive meiner Kunstsozialisation ist die so genannte "Integrationspolitik" keine Politik, sondern eher Kino, "großes Kino". Ich meine damit, dass sich beim Thema Migration politische und kulturelle Motive Verfolgungsjagden liefern, die vor einem Untergangsszenario spielen ("Deutschland schafft sich ab!"). Die hiesige Politik glaubt dennoch, bei den eingewanderten 'Integranten' eine Rationalität einfordern zu können, die weder das Stammtischvolk noch sie selbst besitzen. Der deutsche Innenminister kann sich 2016 erlauben, öffentlich über Wirtschaftsflüchtlinge zu lästern, sich aber im selben Atemzug darüber beklagen, dass sich manche Asylbewerber Taxis leisten könnten. Der Logikanteil liegt hier bei unter zehn Prozent. Mit der gleichen Denke entscheiden sich hiesige Deutsch-Türken, Erdogan einen Freifahrtschein auszustellen und zugleich die Politik Merkels zu unterstützen, ohne dabei den geringsten Widerspruch zu verspüren. In den 1990ern war es nicht anders, als sich Exil-Jugoslawen im Namen der Heimat hinter Kriegsverbrecher scharten, aber zuhause brav SPD wählten. Mit vergleichbarer Schizo-Logik entscheiden sich heute Briten für den Brexit, googeln dann aber einen Tag später, was Brexit oder EU bedeuten. Das ist alles emotional logisch, macht aber politisch keinen Sinn.
Ich denke, man muss die Integrationsdebatte in einem therapeutischen Rahmen verstehen: nämlich der Unfähigkeit, die reale Konsequenz eigener politischer Positionen zu begreifen. Psychologisch ist das als Dunning-Kruger-Effekt bekannt. Aber schon Alfred Jarry hat im ausgehenden 19. Jahrhundert mit seinem König Ubu den Prototypen dieses modernen unfähigen Menschen geschaffen. Mama Ubu drängt Papa Ubu, König zu werden. Ubu wird König, es geht ihm aber nur um Selbstbereicherung und Ego-Tyrannei. Er versteht nicht, was König-Sein bedeutet, denn sobald Widerstand auftaucht, bricht die Staffage in sich zusammen, Ubu weint und versteckt sich unterm Tisch. Er begreift die reale Konsequenz seines Handelns nicht. "Scheiße!", schimpft er. Ein Wutbürger als König. Ein Trump als Präsident. Aber es gibt viele Namen für dieses Verhalten, das zu einer Art modus operandi des gesellschaftlichen Lebens geworden ist. Wie David Foster Wallace in seinem Essay "This is Water" schildert, platzieren sich die meisten Menschen im Zentrum ihres ptolemäischen Weltbildes (nach dem die Erde im Mittelpunkt des Universums steht). Überall stolzieren Majestäten, deren Meinung ihr Königreich und deren Zepter ihr Emotikon ist.
Es ist daher kein Zufall, dass in Online-Memes (etwa Bilder, die sich schnell übers Internet verbreiten) die Erde neuerdings wieder zur Scheibe erklärt wird. Christopher Laschs Studie "Culture of Narcissism" aus den 1970ern beschäftigte sich damit, wie Individuen die Gesellschaft als Repräsentation ihrer Wunschmaschine verkennen. Auch der heutige Narziss reflektiert nicht, sondern stürzt sich blind in die Datenfluten seines digitalen Glücks. Was Marx einst als "Idiotismus des Bürgertums" verspottete, spinnen Gesellschaftstheoretiker heute als "Idiotenparadigma" (Matthew Poole) oder "Herrschaft der Blödmaschinen" (Metz & Seeßlen) weiter. Gemeint ist eine vollständig durchökonomisierte Welt, in der jeder Widerspruch zum Argument, jeder Nonsens zur Ware und jeder Blödsinn zur Politik werden kann (Trump: "I will build a wall!"). Der Philosoph Harry G. Frankfurt hat das Phänomen vor Jahren als Bullshit-Kultur beschrieben, die gefährlicher als die Lüge sei, "denn das Wesen des Bullshits ist nicht, dass er falsch, sondern dass er fadenscheinig ist". Sich selbst etwas vorzumachen, etwas für wahr zu halten, weil man es wahr haben will, mehr können zu wollen, als man kann, mehr zu behaupten, als da ist: Darin liegt auch eine politische Gefahr. Im Feuilleton spricht man gerne von postfaktischer Gesellschaft, aber die Diagnose reicht über den rechtspopulistischen Tellerrand hinaus. Auch die liberalsten Vorstellungen von Kultur, Nation und Identität beruhen auf postfaktischen Zurechtlegungen - Bequemlichkeiten, Denkfaulheiten, Fantasmen - und doch akzeptieren wir sie, um unserem Leben eine gewisse Erhabenheit zuzusprechen. Louis Aragon nannte das einmal "Wahr-Lügen". Jedes Mal, wenn ich auf dem Berliner Kreuzberg am Nationaldenkmal der deutschen Befreiungskriege vorbeigehe, denke ich daran: Schinkels gusseisernes Tabernakel entstand 1821, als man davon überzeugt war, dass der gotische Baustil aus Deutschland stamme, während er in Wirklichkeit typisch für die französische Architektur des Mittelalters war. Ausgerechnet Goethe hatte diesen Fake News in seinem Aufsatz über "deutsche Baukunst" Vorschub geleistet. Über Berlin prangt also ein postfaktisches Stück neugotischer Ignoranz, das sich als eiserner Nationalstolz ausgibt.
Die heutige Migrationsdebatte ist Teil dieser grotesken Verfassung: Man erkennt im Spiegel der Geschichte vor allem das eigene Antlitz, ohne den Ursprung und die Konsequenz seines Begehrens zu verstehen. Alles muss sich dem großen Gefühl beugen. Und bei dieser Gefühlsintegration sind Migranten und Nicht-Migranten einträchtig. Wie die Reaktion auf das antisemitische Mobbing eines Schülers in einer Berliner Schule mit gefühltem 130-prozentigen muslimischen Migrationsanteil zeigte, ist die Öffentlichkeit inzwischen darauf getrimmt, mit Kulturreflexen zu reagieren, sobald das Ressentiment zuschlägt. Dass es politisch rechte Eltern geben kann, die ihren Kindern rechte Feindbilder vermitteln, oder dass rechtschaffene Bürger auch rechtsradikal sein können: All das scheint für Migranten nicht zu gelten. Sie werden als exotische Problemträger aus dem Rechts-Links-Schema verbannt und so zur "Parallelgesellschaft" verklärt (als ob Künstler, Bankiers oder Bischöfe nicht ebenfalls in Parallelgesellschaften lebten). Die rechten Migranten wollen es ja auch so. Denn sie wollen, dass Kultur real ist, so wie König Ubu will, dass sein "Bullshit"-Königreich (Bullshit: Englisch für Blödsinn) für immer besteht.
Was die narzisstischen Idiotypen und ihre Kollektive angeht, da gibt es weltweit keinerlei Integrationsprobleme. Mörder und Ermordete werden im trunkenen Blick zu Verbündeten, oder man spricht von "1,3 Milliarden Muslimen" und tut so, als ob Ölscheichs und Flüchtlinge Teil einer gemeinsamen Sache sind.
Ich verstehe die Integrationsdebatte als Anlass, die identitäre Bequemlichkeit aller Seiten herausfordern. Nietzsche nannte das nach 1871 "Entdeutschung", Jarry nach 1896 "Enthirnung", aber "Durchlüften" trifft es heute besser. Mit einigen Mitstreitern organisiere ich autobiografische Leseperformances, die mit literarischen Mitteln auf die Absurditäten des bewegten Lebens im unbewegten hinweisen. Was auch immer man tut: Für mich stellt sich zuletzt nicht die Frage, wie sich ein Land anfühlen soll, sondern was es für jeden Einzelnen heißt, real zu leben. Zukunft braucht nicht Herkunft, wie Odo Marquard meinte, sondern wird von letzterer allzu oft in die Flucht geschlagen.
Zoran Terzic
Zoran Terzic, geboren 1969 in Banja Luka, Bosnien und Herzegowina, ist Autor, Philosoph und Jazzpianist. Er lebt in Berlin. Er studierte Bildende Kunst in New York, später Kulturtheorie in Wuppertal, 2006 folgte die Promotion.
Er hat zahlreiche Publikationen veröffentlicht, darunter die politische Monografie "Kunst des Nationalismus" sowie autobiografische Prosa im Rahmen des Autorenkollektivs "Daughters and Sons of Gastarbeiters" oder auch satirische Projekte wie das "Angela Merkel Malbuch". Zur Zeit schreibt er an einem Buch über politische Idiotie.
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