Lautsprecherdurchsage im Flugzeug: „Im unwahrscheinlichen Fall eines Druckverlustes fallen Sauerstoffmasken aus der Kabinendecke. Ziehen sie diese zunächst selbst über Mund und Nase und helfen sie erst dann mitreisenden Kindern.“ Offenbar scheint der Hinweis auf die Reihenfolge notwendig: Welcher Vater oder Mutter würde nicht zuerst sein Kind schützen wollen! Wenn wir jedoch einen Moment nachdenken, ist die Sache klar: Wenn Vater und Mutter erstickt sind, hilft das dem Kind auch nicht.
Die Lautsprecherdurchsage steht im auffälligen Kontrast zum Handeln vieler Eltern. Ihre Sorge gilt nahezu ausschließlich dem Kind. Das Kind ist das neue Heiligtum. Wir können geradezu von einer Sakralisierung des Kindes sprechen. Eltern sorgen sich bisweilen so sehr um ihr Kind, dass sie vor lauter Sorge fast krank werden. Der Umgang mit dem Kind ist dann nicht getragen von Gegenwart, Leichtigkeit und Humor, sondern von Zukunftsschwere. Dies umso mehr, als ein Kind heute „wertvoller“ ist als früher: Die Zahl der Kinder pro Haushalt sinkt beständig. Zudem bekommen Menschen in unseren Breitengraden immer später ein Kind. Und ältere Eltern sind ängstlicher. Deshalb wird alles problematisiert, nichts bleibt unhinterfragt, und die Experten von Papa/Mama-Google haben zu allem eine Meinung, die auf Optimierung zielt. Das Kind ist nicht mehr nur „Nachwuchs“, es ist zum Projekt geworden.
Die Familie mutiert entsprechend zum Trainingslager für kindlichen Steigerungsstress. Freizeit wird immer mehr zur Förderzeit. Keine Begabung soll brachliegen, kein Potenzial ungehoben bleiben. Vor allem Mittelschicht-Eltern beschleicht sofort ein Gefühl des Defizits, wenn das Kind nicht täglich mindestens ein Förderangebot wahrnimmt. Das Ergebnis sind förderungsverbeulte Kinder – kleine Prinzen und Prinzessinnen, die nicht selten ein Anspruchsdenken entwickeln, das despotische Züge trägt.
Übertreibungen der Erziehungsratgeberliteratur verleiten Eltern aber nicht nur dazu, überzogen optimistische Erwartungen gegenüber dem Kind zu hegen. Sie zielen auch auf die Eltern selbst. Dadurch entsteht ein enormer Erwartungsdruck: Väter und Mütter sollen möglichst „perfekte“ Eltern, beste Freunde ihrer Kinder und beruflich erfolgreiche Familienmanager sein. Dauernd vergleichen sie sich mit anderen Eltern, streben offen oder heimlich fremdgesetzten Idealen nach. Dadurch verwandeln sich die Elternjahre in eine Zeit des Ungenügens. Von Genießen keine Spur.
Und es funktioniert nicht: Ein solch familiäres Anstrengungsprogramm erstrebt Ziele, die nicht erreichbar sind. Es geht von Voraussetzungen aus, die illusionär sind. Es wählt Methoden, die kontraproduktiv sind. Und es hat Spät- und Nebenwirkungen, die wir als Eltern unmöglich wollen können. Wie das? Weil die Selbst-Sorge der Eltern unter den Tisch fällt. Vor lauter Kindeswohl wird vergessen, dass es auch ein Elternwohl gibt. Die Erwachsenen sind oft Nur-noch-Eltern, verlieren sich sowohl als Paar wie als Einzelpersonen. Nicht selten bis zur Selbstaufgabe.
Die Hausherren sind gleichsam von den Gästen verdrängt; die Eltern dürfen sich glücklich schätzen, wenn ihnen ein kleiner Winkel zum Rückzug bleibt. Dabei sind Kinder nur ein durchlaufender Posten: Kinder kommen, Kinder gehen, Eltern bleiben.
Deshalb sind wir gut beraten, das Elternwohl wieder in den Blick zu nehmen und die Sorge zu entsorgen. Wir machen als Eltern nämlich nur dann viel falsch, wenn wir zu viel richtig machen wollen. Eine Erziehung ist vorzuziehen, die sich auf wenige Aufgaben beschränkt und dabei vor allem das Schädliche vermeidet. Sie will nicht „Gutes“ erreichen, sondern nimmt Abstand von der heute vorherrschenden Steigerungsmentalität. Weil ein Kind später umso erfolgreicher wird, je nebensächlicher es aufwächst. Und weil so die Chance besteht, dass Eltern die Elternjahre auch als Paar überstehen.
Alle Erfahrung zeigt: Elternpaaren geht es am besten, wenn die Liebesbeziehung für sie vorrangig ist. Denn die Liebesbeziehung ist eine Energiequelle für harte Wegstrecken. Die Sorge der Eltern um sich selbst und um ihre Liebe füreinander ist aber auch das Beste, was man für das Kind tun kann. Denn nur Mütter und Väter, die ihre eigenen Bedürfnisse anerkennen, können auch gut und lange für ihr Kind sorgen. Das Kind lernt zudem, dass Lieben nicht heißt, sich aufzuopfern.
Aus dieser Perspektive resultieren zehn goldene Regeln für die Elternjahre:
Es ist unsere Pflicht, in den Elternjahren unserem Kind das Rüstzeug für schwierige Zeiten mitzugeben. Noch wichtiger aber scheint mir, dass Erziehung nur gelingt, wenn die Partnerschaft stimmt. Das Motto muss lauten: Jedes Kind hat ein Recht auf glückliche Eltern!
Der Gastautor
Dr. Reinhard K. Sprenger wurde 1953 in Essen geboren. Er lebt in Winterthur in der Schweiz und in Santa Fe in New Mexico, USA.
Sprenger studierte Philosophie, Psychologie, Geschichte, Sport und Betriebswirtschaft.
Nach dem Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien wird Sprenger wissenschaftlicher Referent beim Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen.
Bei einem Technologiekonzern in Deutschland wird er Leiter der Personalentwicklung. Seit 1990 ist er als selbstständiger Unternehmensberater tätig und gilt als Experte für Managemententwicklung.
Sprenger schrieb – neben vielen Büchern über Motivation und Management – auch das Buch „Elternjahre“ (2022). Er selbst ist Vater von vier Kindern.
Nebenbei ist er Rockmusiker und hat drei eigene Alben veröffentlicht. Mehr unter:
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