Die „Qual der Wahl“ könnte man als Luxusproblem unserer Zeit bezeichnen. Bei Netflix können wir uns nicht entscheiden, welchen Film wir als Nächstes sehen wollen. Bei der Ausbildungs- oder Berufswahl fällt uns die Entscheidung schwer, im Café können wir zwischen unzähligen Kaffeesorten und Milchsorten wählen – und auch in unserem Arbeitsalltag zeigt sich diese Entscheidungsvielfalt und -komplexität.
Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit konnten wir an so vielen Stellen Entscheidungen treffen. Und dafür sind wir Menschen von Natur aus nicht gemacht. In komplexen Situationen entscheiden wir entweder intuitiv mithilfe von Heuristiken, also gelernten Daumenregeln, oder wir versuchen, stark zu simplifizieren und es berechenbar zu machen. Der berühmte Psychologe Daniel Kahneman beschreibt diese beiden Wege auch als „schnelles Denken, langsames Denken”. Beide Strategien führen in der hohen Unsicherheit, Dynamik und Komplexität heutiger Business-Herausforderungen aber immer seltener zum Erfolg.
Entscheidungen werden im Unternehmensalltag jede Sekunde getroffen. Meist ist uns nicht bewusst, wie oft wir Entscheidungen treffen, da sie unter Begriffe wie Operations oder Planning fallen – und „keine Anpassung” auch immer eine Entscheidung ist. Schlechte oder suboptimale strategische und operative Entscheidungen können im Extremfall viele Millionen Euro kosten, Arbeitsplätze gefährden oder das Unternehmen in Existenznöte stürzen. Und das in einer Zeit, in der Manager:innen für ihre Entscheidungen immer mehr Faktoren berücksichtigen müssen. Nur wer mit dieser Komplexität umzugehen weiß, kann am Markt erfolgreich sein.
Da ist es nur nachvollziehbar, dass selbst im Top-Management oft Sätze fallen wie: „Wir müssen die Komplexität reduzieren!“ – vor allem dann, wenn Entscheidungen unter Zeitdruck getroffen werden müssen. Diese Glaubenssätze sind die verständliche Reaktion auf eine komplexere Welt. Es fällt bedeutend leichter, sich zwischen A und B zu entscheiden als zwischen zehn Alternativen, die sich nur graduell voneinander unterscheiden und hohe Unsicherheiten oder Wechselwirkungen aufzeigen.
Doch dieser Impuls, Komplexität zu simplifizieren, ist oft ausgesprochen kontraproduktiv. Denn „Komplexitätsreduktion“ bedeutet hier nicht, dass das Problem selbst weniger komplex wird – sondern, dass die entscheidende Person wesentliche Aspekte der Situation ausblendet, um die Zahl der Entscheidungsalternativen zu reduzieren. Ein komplexer Sachverhalt wird also gedanklich künstlich einfacher gemacht, als er tatsächlich ist. Der Lösungsraum wird kleiner, die Entscheidung erscheint einfacher. Und genau das führt oft zu suboptimalen Entscheidungen und damit zu suboptimalen Ergebnissen.
Ein Beispiel, wie dieses Vorgehen in der Praxis schiefgehen und eine optimale Lösung verhindern kann – aus dem Alltag der Logistikabteilung eines großen Mittelständlers in Deutschland: Das Management will unbedingt CO2 einsparen. Es wird aber berechnet, dass bei der gewünschten CO2-Einsparung die Servicequalität um 30 Prozent sinkt. Deshalb wird immer wieder entschieden, das Einsparziel gar nicht erst anzugehen.
Dabei könnte man durch kontinuierliche operative Anpassungen 80 Prozent der gewünschten CO2-Einsparung bei nur 4 Prozent Verlust an Servicequalität erreichen: Zum Beispiel, indem die Zusteller einige wenige Postleitzahlengebiete, die viele Emissionen verursachen, nur alle zwei bis drei Tage anfahren. Aber: Um solche optimalen Lösungen überhaupt als Option zu kennen, muss sich der Entscheidungsprozess ändern. Dazu ist es unabdingbar, täglich die optimalen Entscheidungspunkte zu kennen, die alle Zielgrößen, alle aktuellen Informationen und die Gesamtstrategie berücksichtigen. Nur dies ermöglicht am Ende klare Empfehlungen auch auf operativer Ebene.
Die Komplexitätsreduktion taugt oft also nicht als sinnvolle Entscheidungshilfe. Der erste Schritt ist, zu erkennen, dass wir nur dann eine optimale Entscheidung treffen können, wenn wir jederzeit das gesamte Spektrum unserer Handlungsoptionen im Blick haben. Die große Frage ist: Wie geht das?
Um sie zu beantworten, lohnt sich ein Blick auf die Werkzeuge, die wir aktuell zur Entscheidungsfindung nutzen. In vielen Unternehmen heißt das wichtigste Tool heute beispielsweise immer noch: Excel. Und zur Lösung überschaubarer Probleme ist Excel ohne Frage hilfreich. Und doch ist es nicht besonders gut dazu geeignet, Komplexität abzubilden, Transparenz über das zugrundeliegende Problem zu behalten, Iterationen zuzulassen und daraus zu lernen.
Wir sollten daher im Management und im Unternehmensalltag unseren Werkzeugkoffer erweitern und für die täglichen Planungs- und Entscheidungsprozesse auch andere Technologien nutzen, die uns mittlerweile zur Verfügung stehen. Die vielen verschiedenen Ausprägungen von Künstlicher Intelligenz und Machine Learning sind keine Allheilmittel, können aber – richtig eingesetzt – Muster auch in großen Datenmengen finden, dort schnell Veränderungen und Abweichungen feststellen und bessere Vorhersagen auch unter hoher Unsicherheit bieten. Die Kunst liegt darin, die richtigen – also passenden – Technologien für die jeweilige Business-Herausforderung zu finden und dann im passenden Schritt des Entscheidungsprozesses einzubinden.
Wie sehr dabei die Technologie selbst in Entscheidungen eingreift, unterscheidet sich gravierend: Manche Technologien unterstützen eine Entscheidung „nur“, etwa über dynamische Forecasts. Andere ergänzen Entscheidungen, empfehlen also zum Beispiel Bestellungen, die dann aber wiederum vom Menschen ausgelöst werden. Und wieder andere bedeuten eine komplette Automatisierung des Entscheidungsprozesses. Welche dieser Form der Entscheidungsfindung jeweils die passende ist, kommt sehr auf die Tragweite und Frequenz der Entscheidung an: Je größer die Auswirkung der Entscheidung, umso mehr wird man auf eine bloße Entscheidungsunterstützung durch Technologie setzen. Und je höher die Frequenz, umso mehr wird man die Entscheidung ganz automatisieren wollen.
Menschliche Expertise und gelernte Intuition sind extrem wertvoll. Aber um auch in Zukunft entscheidungsfit zu sein, müssen wir uns intensiv damit auseinandersetzen, wie wir mithilfe von Künstlicher Intelligenz und anderen Schlüsseltechnologien bessere Entscheidungen treffen können. Wir brauchen einen differenzierten Blick darauf, welche Werkzeuge aus dem Managementkoffer sich für welche Entscheidungssituationen am besten eignen, und müssen diese im Unternehmen entsprechend orchestrieren.
Und Arbeitnehmer:innen, die sich mit diesen neuen Technologien vertraut machen, verschaffen sich vor allem in Märkten mit hoher Unsicherheit und Dynamik einen Wettbewerbsvorteil. Mehr denn je wird es in Zukunft darauf ankommen, vom Schwarz-weiß-Denken wegzukommen, stattdessen auch die Grauschattierungen zu beachten und iterativ durch die Unsicherheiten zu navigieren. Denn die Richtung ist klar: In einer unübersichtlichen Welt müssen wir mehr Komplexität wagen – nicht weniger.
Der Gastautor
Thorsten Heilig ist Co-Founder und CEO von paretos, einer KI-basierten Decision-Intelligence-Plattform für datengetriebene Entscheidungsprozesse.
Im Dezember 2023 erschien sein Buch „Decision Intelligence – Entscheidungsfindung in Teams und Organisationen als strategischer Wettbewerbsvorteil“ im Wiley-Verlag.
Heilig ist fasziniert davon, wie Technologie zur Lösung komplexer Herausforderungen und zur Skalierung von Unternehmen beitragen kann – von der Beschleunigung des Unternehmenswachstums über die Bewältigung agiler Transformationen bis hin zum Change Management.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/meinung/debatte_artikel,-debatte-warum-sollten-wir-uns-vor-komplexen-entscheidungen-nicht-fuerchten-herr-heilig-_arid,2176079.html