Von Dienstag bis Donnerstag kommender Woche treffen sich Hunderte Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler zur 54. Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache im Mannheimer Rosengarten. Das Rahmenthema lautet diesmal „Neues vom heutigen Deutsch“. Unter diesem Dach vereint sind 14 Vorträge zu verschiedenen Aspekten der deutschen Gegenwartssprache. Darin geht es um Grammatik, Aussprache, Wörterbücher und vieles andere, über Rechtschreibung wird nicht vorgetragen.
Das verwundert mich einerseits, sind doch unsere Zeitungen voll von Schlagzeilen wie „Grundschüler können nicht mehr schreiben“. Andererseits verwundert es mich nicht, gibt es doch nach meiner Wahrnehmung auch nur wenige Forschungsprojekte an deutschen Universitäten oder Instituten, die sich mit Fragen der Orthografie befassen. Es scheint so, als würden Fragen des Schreibens nicht nur in der Ausbildung junger Menschen von der Grundschule bis zur Berufsschule oder Universität vernachlässigt, sondern auch im linguistischen Kontext.
Dabei ist (richtiges) Schreiben wichtig und jenseits der Vermittlung von Schreibfähigkeiten – wie lehren wir Rechtschreibung in der Schule mit dem größtmöglichen Erfolg? – gibt es auch in der Forschung viele unbeantwortete Fragen: Wie verändert sich die Rechtschreibung unter dem Einfluss der sozialen Medien? Entstehen und verfestigen sich dort neue Regeln? Spielt die gewachsene Fremdsprachenkompetenz der Deutsch Sprechenden eine Rolle in der deutschen Rechtschreibung? …
Die Dudenredaktion hat nun ein kleines Buch veröffentlicht, das den Titel „Warum es nicht egal ist, wie wir schreiben“ trägt. Damit möchten wir uns in die Diskussion um den Stellenwert von richtigem Schreiben in der heutigen Zeit einmischen. Einerseits wird vermutlich so viel geschrieben wie noch nie, andererseits aber scheint dem regelkonformen Schreiben nicht mehr so viel Aufmerksamkeit entgegengebracht zu werden wie früher. Die Basis des regelgerechten Schreibens ist das Amtliche Regelwerk zur deutschen Rechtschreibung in seiner Fassung vom Dezember 2016. Umgesetzt wird es in Wörterbüchern wie dem Dudenband „Die deutsche Rechtschreibung“ (27. Auflage 2017). Liest man allerdings Texte, sei es auf Webseiten, in Newslettern und in den sozialen Medien, so beschleichen einen gelegentlich Zweifel ob der Wirksamkeit und Akzeptanz dieser Übereinkunft.
Das Wort „Übereinkunft“ habe ich bewusst gewählt, denn Rechtschreibregeln sind eine Übereinkunft. Derzeit beruhen sie auf der Verständigung von rund 40 Mitgliedern im Rat für deutsche Rechtschreibung. Dort sitzen Vertreterinnen und Vertreter Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, Luxemburgs, Liechtensteins, Belgiens und Italiens (Bozen-Südtirol). Neben der geografischen Breite ist die inhaltliche beeindruckend: Der Vertreter der Deutschen Presse-Agentur sitzt neben der Hochschulprofessorin, der Vertreter der Akademie für Sprache und Dichtung neben der Wörterbuch-Fachfrau und neben der Vertreterin des Verbands der Bildungsmedien. So soll nach den Auseinandersetzungen um die Rechtschreibreform vor 20 Jahren ein breiter gesellschaftlicher Konsens über diese Regeln gefunden werden. Dazu ist übrigens kontinuierliche Arbeit nötig, denn Sprache ist ein lebendiger Organismus, der unterschiedlichsten inneren und äußeren Einflüssen ausgesetzt ist und sich ständig verändert.
Warum aber braucht es solche Regeln und warum kann nicht einfach jeder schreiben, wie er will?
Schauen wir zunächst kurz in die Zeit vor 1902 zurück, bevor es eine verbindliche Regelung gab. Besonders nach der Reichsgründung 1871 hatte sich die fehlende einheitliche Rechtschreibung als ökonomisches Hindernis erwiesen – das Reich wuchs ökonomisch zusammen, aber nicht im Schreiben, also einer wichtigen Kommunikationsform. Das Lesen und Verarbeiten von Texten in nicht normierter Orthografie verbraucht mehr Zeit und Ressourcen als das orthografisch normierter Texte. Vereinheitlichtes Schreiben ist also aus (zeit)ökonomischen Gründen nötig.
Der bekannte Schauspieler Burkhard Klaußner sagt, Schreiben sei Zivilisation. Ja, auch so kann man das sehen. Für unser sprachliches Miteinander gibt es Regeln, und wenn wir gegen sie verstoßen, hat das Konsequenzen. Nicht zu vergessen, dass es etwas über uns aussagt, wie wir Menschen entgegentreten. Für mich persönlich ist richtiges Schreiben auch eine Frage des Respekts, den ich der anderen Person entgegenbringe.
Richtiges Schreiben ist aber auch ein Beitrag zur Chancengleichheit, wie Ulrike Holzwarth-Raether bemerkt. Damit geht sie auf den sozialen Stellenwert ein, den Rechtschreibung hat. Es mag durchgehen, wenn ein Abiturient mit guten Noten ein paar Rechtschreibfehler in einem Text hat, bei einem Hauptschüler sieht das eventuell anders aus: Dann heißt es schnell, er kann es eben nicht. Und Peter Gallmann, Linguistik-Professor in Jena, stellt den Zusammenhang von Inhalt und Form heraus: Wir trauen dem Inhalt nicht, wenn die Verpackung nicht stimmt.
Ich bin nach dem Erscheinen unseres Buches oft gefragt worden, was man tun könne, um der Rechtschreibung wieder zu mehr Beachtung zu verhelfen. Zunächst einmal muss dem Sprachunterricht in der Schule wieder ein höherer Stellenwert eingeräumt werden: Ohne die Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben, Rechnen ist es auch in der heutigen Berufswelt schwer, zu bestehen. Und das Schreiben lernen braucht Zeit und muss geübt werden, auch in höheren Schuljahren. Das gilt übrigens auch für die Vermittlung von Grammatikkenntnissen, die unabdingbar sind, wenn man Kommas richtig setzen will oder entscheiden muss, ob das oder dass richtig ist. Aber die Schule kann das nicht alleine schaffen. Es braucht das Engagement vieler, etwas zu ändern. Die Diktatwettbewerbe der Polytechnischen Gesellschaft in Frankfurt zeigen, wie es gehen kann. Es ist ein Wettbewerb, der den beteiligten Lehrern, Eltern und Schülern richtig Spaß macht, wie ich letzte Woche wieder feststellen konnte. Oder: Wir haben einen Vorlesetag, warum haben wir keinen Schreibtag? Kindern macht es Spaß, das System Sprache zu lernen, sich aus diesem Baukasten zu bedienen und kreativ zu sein. Sie haben aber kein Interesse daran, eine Privat-orthographie zu lernen, sie wollen schreiben wie die Erwachsenen.
Wichtig ist mir noch, den Aspekt des lebenslangen Lernens auch in Bezug auf Rechtschreibung zu unterstreichen. Zunächst einmal sollte Rechtschreibung und Grammatik nicht nur bis Klasse 7 oder 8, sondern auch noch später unterrichtet und damit gefestigt werden. Und auch während der Berufsausbildung müssen sie ihren Platz finden. Und – man darf sich Rechtschreibregeln eben nicht als etwas Starres vorstellen. Unter den unterschiedlichsten Einflüssen verändern sich auch unsere Schreibkonventionen, sei es durch die Schreibgewohnheiten in den sozialen Medien, die häufig andere sind als die amtlichen Regeln. Wer sehr gut Englisch kann, neigt offenbar dazu, im Deutschen Babies statt Babys zu schreiben und damit die Originalschreibung zu übernehmen. Auch diese Tendenz wird man beobachten müssen.
Das Gendern, also ein geschlechterbewusster Sprachgebrauch, hinterlässt Spuren: Wie soll die gleichzeitige Anrede von Frauen und Männern verschriftlicht werden, ohne dass der Text zu sperrig wird? Wie erfolgt die Einbindung von Emojis in einen Text? Steht das Gesicht mit dem zwinkernden Auge vor oder nach dem Satzschlusszeichen? Kann man die Kommasetzung vereinfachen? Und wenn sich die Regeln ändern, muss man auch wieder dazulernen.
Im Übrigen ist der allseits konstatierte Verfall der Rechtschreibleistungen von Schülerinnen und Schülern kein alleiniges deutsches Phänomen: Spricht man mit Deutschlehrern in Großbritannien oder Italien, hört man die gleichen Klagen. Die Einflüsse auf das System Rechtschreibung sind natürlich auch sehr ähnlich.
Ich würde mir also wünschen, dass wir uns insgesamt wieder mehr mit dem Thema richtiges und gutes Schreiben beschäftigen und Ideen entwickeln, um den Spaß am Umgang mit Sprache und Schrift zu fördern und die Leistungen zu verbessern. Das heißt nicht, dass jede WhatsApp-Nachricht fehlerfrei nach dem amtlichen Regelwerk geschrieben sein muss. Worum es geht, ist der Stellenwert, den wir dem richtigen Schreiben einräumen. Wenn Menschen reflektieren, dass sie an dieser oder jener Stelle einen Fehler gemacht haben könnten und dann nachschlagen, ist viel gewonnen. Wenn sie eine Nachricht an eine Freundin oder einen Freund in einer Art Privatorthografie schicken, so ist das Sache zwischen den beiden. Aber wenn es darauf ankommt, sollte jeder das richtige Schreiben beherrschen und anwenden können.
Kathrin Kunkel-Razum
- Kathrin Kunkel-Razum ist die Leiterin der Dudenredaktion.
- Sie wurde 1959 in Potsdam geboren, studierte in Leipzig Germanistik und Geschichte und promovierte auf dem Gebiet der Germanistischen Linguistik.
- Sie war Lektorin für Deutsch als Fremdsprache in Madrid, arbeitete als Redakteurin bei der „Zeitschrift für Germanistik“ und in der Duden-Wörterbuchredaktion – bis 2013 in Mannheim.
- Im Herbst 2017 lud Kathrin Kunkel-Razum Schauspieler Burghart Klaußner, Lehrerin Ulrike Holzwarth-Raether und Germanistik-Professor Peter Gallmann zu einer Diskussion über Rechtschreibung ein. Basierend auf diesem Gespräch entstand die Streitschrift „Warum es nicht egal ist, wie wir schreiben“, die jetzt im Dudenverlag erschienen ist.
- Info: Mehr Informationen unter www.duden.de Programm unter www.ids-mannheim.de
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