"MM"-Debatte

Warum müssen wir uns endlich mäßigen, Herr Vogel?

Die exzessive Lebensweise des Menschen überfordert den Planeten Erde – und macht den Einzelnen auch selbst unglücklich. Es ist Zeit, sich auf eine alte Tugend zu besinnen, sagt Thomas Vogel. Ein Gastbeitrag.

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Thomas Vogel
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In diesem Sommer haben wir bereits einen Vorgeschmack auf den Klimawandel bekommen, der uns in seinem ganzen Ausmaß noch bevorstehen soll. Forscher vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg haben in einer Simulation mögliche Klimaentwicklungen im 21. Jahrhundert vorausberechnet. Eine der drei Modellberechnungen ging davon aus, dass die Politik untätig bleibt und die Wirtschaft weiter wie bisher wächst. Die Temperaturen würden dann ohne Unterbrechung steigen und wir würden im Jahr 2030 in Deutschland bereits das Zwei-Grad-Ziel erreichen. Zum Ende des 21. Jahrhunderts hätten wir in etwa eine Aufheizung von fünf Grad zu erwarten. Im Sommer würden bis zur Hälfte der sonst üblichen Niederschläge ausbleiben und die Arktis wäre bereits seit einigen Jahrzehnten im Sommer eisfrei. Diese Prognose charakterisierte eine deutsche Tageszeitung mit den Worten, sie kenne keine Mäßigung. Mäßigung? Kennen wir in den Industriegesellschaften im Grunde genommen alle nicht mehr.

„Mäßigung“, ursprünglich von Platon neben Weisheit, Mut und Gerechtigkeit als eine Kardinaltugend gepriesen, klingt in einer Überfluss- und Spaßgesellschaft, die nach permanentem Wachstum strebt und keine Grenzen anerkennen will, eher verstaubt. Viele Menschen assoziieren mit diesem Begriff Einschränkung und Zügelung der Lust. Dies ist aber eine stark verkürzte und dadurch verfälschte Wiedergabe dessen, was die Philosophie seit der Antike mit der Tugend der Mäßigung verfolgte. Im Zentrum der Überlegungen standen nicht die Beschränkung der Freiheit des Individuums und die Zügelung seiner Lust, sondern ganz im Gegenteil die Entwicklung und Förderung von Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung, die Freiheit des Menschen im Sinne seiner Unabhängigkeit von den unmittelbaren Verhältnissen sowie die Förderung der wahren Lust.

Der eigentlichen Bedeutung von Mäßigung kann man sich sinnvoll über den griechischen Ausdruck „sophrosyne“ nähern, welcher ursprünglich eine besonnene Gelassenheit und zugleich eine ordnende Verständigkeit bezeichnete. Das Wort stand in der Antike ebenfalls für eine besondere Klugheit und die Fähigkeit zur (Selbst-)Beschränkung auf das Gute und Wesentliche. Platon bezeichnete damit eine bedeutsame Verhaltensdisposition für ein gelingendes Leben. Gleichzeitig wurde ein enger Zusammenhang zwischen Mäßigung und Weisheit gesehen. Wer wahrer Freund der Weisheit sein wolle, so hieß es, der benötige die besonnene Mäßigung bei gleichzeitiger Abwesenheit aller Gewinnsucht; denn ein Mensch, der nach der Wahrhaftigkeit suche, dürfe sich nicht vom Drang nach mehr Geld und Gut ablenken lassen. Aristoteles, ein Schüler von Platon, stellte fest, dass zu große und heftige Begierden die Überlegung verdrängten. Dort, wo der Mensch zur Maßlosigkeit neige, würden seine animalischen, triebgesteuerten Züge sichtbar. Die vernünftige Einsicht, so war Aristoteles überzeugt, strebe immer nach der rechten Mitte. Dementsprechend erscheint unsere heutige, von Maßlosigkeit angetriebene Überflusskultur sehr unvernünftig.

Seit langem wissen wir, dass sich besonders die Menschen auf der nördlichen Erdhalbkugel zukünftig mäßigen müssen. Schon 1972 hatte der Club of Rome, ein weltweiter Zusammenschluss renommierter Experten verschiedenster Disziplinen, in einer Studie der Weltöffentlichkeit die Grenzen des Wachstums aufgezeigt. Zehn Jahre früher, 1962, warnte die Amerikanerin Rachel Carson in einem Bestseller vor einem stummen Frühling, über den wir heute wieder hochaktuell diskutieren: Einem Frühling, in dem keine Vögel mehr singen, weil wir sie mit unserem Gift ausgerottet haben. Und schon vor 200 Jahren, als noch kein Mensch eine ökologische Krise kannte, hat der Philosoph Friedrich Wilhelm Schelling die Gefahren eines Anthropozäns vorhergesehen. Er warnte davor, dass die Menschheit aus Übermut, alles sein zu wollen, ins Nichtsein fallen werde.

Unser ständiges Streben nach Wachstum, dem „Immer-mehr“, „Immer-schneller“, „Immer-weiter“ stößt heute überall an Grenzen. Die Meere sind mittlerweile voller Plastikmüll, das Klima droht zu kippen und immer mehr Tierarten – Insekten, Vögel und andere – sterben aus; das alles, weil der Mensch sich nicht mäßigt. Man könnte hier einwenden, wenn die Menschen in der Überflussgesellschaft glücklich und zufrieden sind, dann lassen wir es einfach darauf ankommen – frei nach dem Motto: „Nobel geht die Welt zugrunde.“ Aber wir stellen gleichzeitig fest, dass immer weniger Menschen in dieser Gesellschaft glücklich und zufrieden werden. In ihrer zunehmenden Komplexität überfordert unsere Kultur den Einzelnen und macht ihn zunehmend krank. Die Zahl der Menschen, die in unserem System unter Stress, Depression, Essstörungen oder unter einem Burnout-Syndrom leiden, steigt stetig. Allein in den letzten 25 Jahren nahm die Verordnung von Antidepressiva laut Arzneimittelverordnungsreport in Deutschland von 197 auf 1467 Millionen Tagesdosen zu – das entspricht einer Steigerung von 745 Prozent. Die seelischen Ressourcen gehorchen ebenso wie die äußere Natur den Gesetzen der Ökologie: Sie regenerieren sich, wenn man sie mäßig ausbeutet. Wenn aber die Grenze zum Raubbau überschritten wird, kippt das System um.

Durch eine Kultur der Mäßigung soll der Mensch deshalb wieder zu mehr Selbstbestimmung und innerer Ruhe finden und auf diesem Weg zur Erkenntnis der wahren Lust gelangen. In seinem Konzept der Selbstsorge beschrieb der französische Philosoph Michel Foucault, dass wir uns durch ein Leben der Mäßigung in einer Ökonomie der Lüste bewegen, die durch die Herrschaft, die man über sich selbst ausübt, gewährleistet ist. Er forderte, sich nicht von den Begierden und Lüsten, die einem die Umstände versuchen aufzuzwingen, fortreißen zu lassen. Es ging Foucault, der sich in seinen Überlegungen auch auf die antike Philosophie bezog, um einen souveränen Umgang des Menschen mit den eigenen Wünschen, Begierden und Antrieben. Dadurch erlange er die „Heautokratie“, die Herrschaft über sich selbst und damit eine innere Freiheit. Die Heautokratie sollte zugleich als Quelle der Befriedigung und des Lustgewinns dienen. Das höchste Ziel in diesem Streben ist für das Individuum das Erreichen des rechten Maßes.

Bei der Frage, wie der Einzelne zur Mäßigung gelangt, gaben antike Denker Empfehlungen, die heute in unserer von Beschleunigung und dem Streben nach dem Immer-mehr wieder sehr aktuell erscheinen. Zunächst muss man aber verstehen, dass die Suche nach dem rechten Maß für jeden Menschen ein stetiger und nie abgeschlossener Prozess darstellt.

Gelassene Besonnenheit erlangt man, indem man sich in Phasen der Ruhe und des Verzichts auf sich selbst besinnt. Das könnten beispielsweise Phasen sein, in denen man auf sein Handy verzichtet oder auf einer Wanderung sein Leben entschleunigt. Die alten Philosophen empfahlen als Übung zur Enthaltsamkeit das Fasten: Körper und Seele werden hierbei zugleich gereinigt. Auch die Selbstversorgung mit Lebensmitteln kann dem Menschen Zeitläufte aufzeigen, die im unmittelbaren Kontrast zur Hektik und Rastlosigkeit unserer Kultur stehen und Räume des Innehaltens bieten. Es gibt viele Wege zur Besinnung und zum rechten Maß.

Ob wir nun abwarten, bis uns eine ökologische Krise nach der anderen zwangsweise Mäßigung abverlangen wird, oder ob wir uns im Hinblick auf die prophezeiten Katastrophen vorausschauend schon heute beschränken: Die Tugend der Mäßigung wird uns zukünftig in jedem Fall beschäftigen. Schon vor 2500 Jahren wusste der Vorsokratiker Demokrit aus Abdera, dass wenn man das richtige Maß überschreitet, „das Angenehmste zum Unangenehmsten“ wird. Dieser alten Weisheit werden wir uns stellen müssen.

Thomas Vogel

Prof. Dr. Thomas Vogel lehrt Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten Schul- und Berufspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.

Er beschäftigt sich mit philosophischen und bildungstheoretischen Fragestellungen im Kontext der gesellschaftlichen Naturkrise. Dazu hat er zahlreiche Bücher und Aufsätze publiziert und eine Theorie einer naturgemäßen Bildung entwickelt.

Sein neuestes Buch: „Mäßigung: Was wir von einer alten Tugend lernen können“, oekom Verlag, 192 Seiten, 17 Euro.

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