Der Wechsel von Tag und Nacht ist einer der wichtigsten Taktgeber im Leben. Die immer wiederkehrende Abfolge von hell und dunkel steuert unseren chronobiologischen Rhythmus (die Balance zwischen Aktivität und Ruhe) und ist eine wichtige Konstante für Tiere und Pflanzen. Was aber, wenn die Nächte nicht mehr wirklich dunkel sind? Diese Frage hat sich bis vor wenigen Jahren kaum jemand gestellt. Jetzt wird sie immer aktueller. Der Begriff der Lichtverschmutzung (englisch: "light pollution") etabliert sich, auch wenn die meisten Zeitgenossen noch wenig damit anzufangen wissen. Kann denn Licht etwas "verschmutzen", uns also schaden? Ist das, was bisher als Symbol des Fortschritts wahrgenommen wurde, inzwischen auch ein Umweltproblem?
Nach Angaben der International Dark-Sky Association (etwa: Verband des dunklen Himmels) leben die meisten Einwohner Europas und der USA unter einem lichtverschmutzten Himmel. Aus dem Weltall betrachtet, überzieht ein immer dichter werdender Schleier von nächtlichem Lichtsmog die entwickelten Länder. Vor allem in dicht besiedelten Gebieten trifft das von unzähligen Quellen erzeugte Licht auf Staubteilchen und verursacht so Lichtglocken, die mehr als hundert Kilometer weit zu sehen sind. So wird die Nacht künstlich aufgehellt, Jahr für Jahr mehr.
Wer unter einer solchen Lichtglocke lebt, kann selbst in klaren Neumondnächten mit bloßem Auge nur noch die hellsten Sterne am Himmel erkennen. Das erschien zunächst lediglich als ein kultureller Verlust. Doch fehlende natürliche Dunkelheit kann uns auch körperlich beeinträchtigen und Beschwerden auslösen. Dann verringert fehlende natürliche Dunkelheit die Lebensqualität und kann zum Gesundheitsrisiko werden.
Schlaf ist lebenswichtig. Doch wirklich ausgeruht fühlt sich nur, wer tief und fest geschlafen hat. Denn nachts laufen entscheidende körperliche Prozesse ab. Der Blutdruck sinkt, um unser Herz-Kreislauf-System zu entlasten. Gleichzeitig fährt unser Immunsystem hoch. Ein großer Teil der Infektionsabwehr geschieht im Ruhezustand, und im Schlaf verarbeiten wir die Informationen des Tages. Gesunder Schlaf fördert Lernprozesse und die Gedächtnisleistung. Er ist Voraussetzung für Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden und somit für die Funktion von Körper und Seele von überragender Bedeutung.
Aber erst die Abschottung von Licht lässt uns wirklich zur Ruhe kommen. In vielen Schlafzimmern ist es jedoch nicht richtig dunkel. Es fällt Licht von außen ein: durch Straßenlaternen, Leuchtreklamen oder die eigene Außenbeleuchtung am Haus, als Reflexion von angestrahlten Gebäuden oder als Licht aus anderen Räumen, das ins Schlafzimmer dringt.
Licht stört den Schlaf
Im Schlaflabor vorgenommene Hirnstrommessungen zeigten einen deutlichen Unterschied zwischen Probanden, die im Dunkeln schliefen und Vergleichsgruppen in beleuchteten Schlafzimmern. Wer also keine effektive Verdunklungsmöglichkeit hat, kann langfristig negative Auswirkungen nicht ausschließen.
Hinter der Nasenwurzel liegende Photozellen (Ganglien) nehmen das Licht wahr und steuern je nach dessen Lichtstärke und Farbtemperatur den menschlichen Hormonhaushalt. Künstliches Licht in der falschen Lichtfarbe, besonders kaltweißes (LED)-Licht, beeinträchtigt die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin.
Fehlendes Melatonin erschwert das Einschlafen und verzögert das Aufwachen. Der Ruhe-Rhythmus kommt durcheinander, die Qualität des Schlafes sinkt. Es entsteht ein Regenerationsdefizit und die Schutzmechanismen des Körpers werden geschwächt, was offenbar auch der Tumorbildung Vorschub leistet.
Je nach Dosis des nächtlichen Lichteinfalls sind die negativen Auswirkungen schleichend. Stark dosiert kann man mit grellem Kunstlicht bekanntlich foltern. In vielen Gefängnissen raubt man Gefangenen mit gleißenden Scheinwerfern die Nachtruhe und nimmt dabei epileptische Anfälle, Kreislaufversagen oder einen Hirnschlag in Kauf.
Seit einigen Jahren beschäftigen sich die Wissenschaftler verstärkt mit den gesundheitlichen Risiken der "Desynchronisierung" durch Licht, das beim Schlafen stört. Bereits 2007 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Zusammenhang zwischen hormonell bedingten Krebsarten (Prostata und Brust) und künstlichem Licht hergestellt. Epidemiologische Studien, also solche, die sich mit zeittypischen Massenerkrankungen beschäftigen, zeigen: Je heller Gebiete nachts beleuchtet sind, umso mehr Brustkrebs gibt es bei Frauen und umso mehr Prostatakrebs bei Männern.
Schichtarbeiter unterliegen einem besonders hohen Risiko. Ihr natürlicher Tag-Nacht-Rhythmus wird massiv gestört. Viele Nachtarbeiter zahlen den Preis dafür, dass in der Arbeitswelt oft die Nacht zum Tage gemacht wird, ohne Rücksicht auf die menschliche Biologie. In einem von "Spiegel online" veröffentlichten Interview sagte der Chronobiologe Thomas Kantermann: "Untersuchungen haben gezeigt, dass Schichtarbeiter bei allen Zivilisationskrankheiten wie Herz-Kreislauf Problemen, Diabetes, Depression, Schlaflosigkeit und sogar Krebserkrankungen auffällig häufig betroffen sind."
In der Natur ist die Nacht nicht nur der dunkle Gegenpart zum lichten Tag, sie strotzt auch vor Vitalität. Etwa 30 Prozent aller Wirbeltiere und mehr als 60 Prozent aller Wirbellosen sind nachtaktiv. Zählt man die Dämmerungsaktiven hinzu, erhöht sich die Zahl noch einmal. Für diese Lebewesen gehört die Dunkelheit zu ihrem natürlichen Lebensraum (Habitat) und alle ihre Sinnesorgane sind darauf eingestellt. Sie fressen, jagen, interagieren und vermehren sich im Schutz der Dunkelheit. Am Tage aber sieht man sie kaum. Tagaktive Tiere hingegen brauchen wie wir Menschen die Nacht, um Ruhe zu schöpfen. Die Aufteilung in tag- und nachtaktive Arten macht es möglich, dass zwei unterschiedliche Artengemeinschaften sich denselben Lebensraum im Schichtbetrieb teilen.
Verwirrte Vögel
Wissenschaftliche Studien zeigen, dass künstliches Licht viele nachtaktive Lebewesen massiv beeinträchtigt: Jahr für Jahr sterben Hunderttausende irritierter (Zug-)Vögel nach Kollisionen mit beleuchteten Hindernissen. Die entsprechenden Berichte der Experten sind erschreckend. Im hellen Schein von Straßenlaternen, Schaufenster-Beleuchtungen und Schweinwerfern beginnen beispielsweise Stadtamseln, Blaumeisen und Rotkehlchen deutlich zeitiger zu singen - teilweise schon in der Nacht. Ihr Tag-Nacht-Rhythmus kommt aus dem Takt. Helle Lichtquellen im Dunkeln locken Milliarden Insekten an und ein großer Teil von ihnen übersteht das nicht. Der durch diesen Staubsaugereffekt ausgelöste Verlust hat einen hohen Preis: Die Insekten fehlen sowohl als Bestäuber als auch als wichtige Glieder der Nahrungskette. Selbst Wasser-Lebewesen - allen voran die Fische - reagieren negativ, wenn ihr nächtlicher Lebensraum beleuchtet wird.
Die Erfindung des künstlichen Lichts war zweifellos ein großer zivilisatorischer Fortschritt. Licht aktiviert unser Leben, hebt die Stimmung und kann sogar heilen. Inzwischen erkennt man aber auch die Schattenseiten. Damit rückt die Nacht "ins Licht" und man erkennt ihren Wert - auch den ideellen. In allen Kulturen zog die Mystik der Nacht Menschen in ihren Bann, hat sie geängstigt, verzaubert, inspiriert - und ist damit zu einem prägenden Motiv der Kulturgeschichte geworden.
So gibt es gute Gründe, künstliches Licht umsichtiger einzusetzen, zum Wohle der Menschen und der Natur. Die technischen Alternativen und das Fachwissen der heimischen Energieversorger und -dienstleister sind vorhanden. Selten geht es um ein Ja oder Nein, sondern vor allem um das Wie. Es gibt für alle Beleuchtungsanlässe die passende technische Lösung, zumeist eine Kombination aus der richtigen Hardware (Abschirmung, Lichtfarbe, Intensität) und bedarfsgerechter Taktung. Nicht jede Leuchte muss die ganze Nacht über angeschaltet sein. Intelligente Steuerung ist gefragt.
Der Schutz der Nacht ist eine Frage der Vernunft und eine Herausforderung, die wir meistern können. Wir haben ja bereits Erfahrung mit dem Umgang mit Emissionen - man denke an die Verringerung der Luftverschmutzung und die Verbesserung der Qualität vieler Gewässer. Da haben sich Politik und Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten lernfähig gezeigt, und mit den Sternenparks der International Dark-Sky Association sind ja auch erste Schutzgebiete entstanden. In einer Welt, in der wir allenthalben Nachhaltigkeit propagieren, ist es eine logische und legitime Forderung, Außenbeleuchtung umweltgerecht zu gestalten. Denn wir brauchen die Nacht.
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