Unterwegs mit Susann Sitzler

Warum macht Reisen glücklich, Frau Sitzler ?

Unterwegssein ist für Autorin Susann Sitzler der beste Lehrer der Welt. Ein Gastbeitrag - und kein Text für reine Touristen.

Von 
Susan Sitzler
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© Pauli

Vor mir glitzert das Wasser. Neben mir stakst eine Möwe von der Größe eines jungen Königspudels am Hafenbecken entlang. Wenige Meter entfernt bietet die Frau des Fischers den Fang des Morgens feil und die Möwe scheint zu ahnen, dass, wenn der letzte Fisch verkauft ist, auch für sie etwas abfällt. Doch jetzt erscheint eine Gruppe Jugendlicher. Wahrscheinlich sind sie mit einem der Kreuzfahrtschiffe gekommen, die hier, am Hafen von Helsinki, regelmäßig Zwischenhalt machen. Die Jugendlichen haben sich eine Pappschale mit Frittiertem geholt. Sie finden es eine brillante Idee, der riesigen Möwe ein Stückchen davon direkt vor den Schnabel zu werfen.

Die pickt es gierig auf und fängt an, grell zu kreischen. Offenbar informiert sie ihre ungefähr 480 nächsten Verwandten darüber, dass hier mit Köstlichkeiten zu rechnen ist. Denn wie im Horrorfilm von Hitchcock senkt sich nun eine ganze Wolke kreischender und mit den Schnäbel hackender, schneeweißer Kreaturen über uns nieder. Mir wird ein wenig bang. Doch zum Glück habe ich, wie die vielen Asiatinnen, die hier ebenfalls zu Besuch sind, gegen die Sonne einen Knirps aufgespannt. Darunter ducke ich mich nun und blicke dem Spektakel aus nächster Nähe zu. Die enormen Möwen scheinen in der Luft zu stehen, getragen vom finnischen Wind. Sie sind so dicht vor mir, dass ich sie am Bauch kraulen könnte.

Nichts an dieser Situation ist wirklich exotisch. Möwen gibt es auch bei uns, und auch den einen oder anderen Ostseehafen. Doch näher an Zuhause würde ich mir dieses spontane Schauspiel wohl nicht gönnen. Dort hätte ich Pläne und Wege vor mir und nicht genügend Zeit. Doch hier ist es anders. Heute früh bin ich angekommen und drei ganze Tage liegen frei vor mir.

Ich bin auf Reisen. Darum bleibe ich einfach sitzen und gucke, was als nächstes geschieht.

Reisen ist spannend, weil man neue Dinge sieht. Vor allem aber, weil man Dinge neu sieht. Als bei meiner ersten Reise nach Amerika das Flugzeug im Landeanflug sich dem Boden näherte und ich die Flagge der Staaten im Wind wehen sah, kam es mir vor, als landete ich auf dem Mond. Kaum hatten wir aufgesetzt, begannen die einheimischen Touristen an Bord zu telefonieren. Und sie hörten sich tatsächlich an wie in den amerikanischen Filmen! So ging es weiter. Alles in diesem Land kam mir gleichzeitig bekannt und fremd vor. Die Kaffeetassen, die Verkehrsschilder, das hatte ich alles schon auf so vielen Bildern gesehen. Und doch war es jetzt völlig anders. Denn die vertrauten Anblicke wurden von einer neuen, meiner eigenen Erlebnisdimension überlagert und alles, was ich zu kennen glaubte, verwandelte sich in etwas Neues. Anderes war von Anfang an fremd. Auf den Cook Islands kam ich in den Dörfern ständig an gefliesten Grabstellen vorbei, die mitten am Weg lagen. Niemand verstand meine Beklemmung. Da ruhen doch die Vorfahren, da muss man sich doch nicht schaudern! Vor den freundlichen Kokospalmen hingegen wurde ich gewarnt: "Geh' nicht darunter, sonst fallen dir die Nüsse auf den Kopf!" Immer wieder gerate ich auf Reisen in Situationen, wo ich keine Ahnung habe, was üblich ist und sich gehört, wo eventuell ein Fettnapf lauert oder sogar eine Gefahr. Wenn ich mich traue, frage ich Einheimische. Fast immer begegnen sie mir freundlich und erklären gelassen, warum das, was mir fremd erscheint, für sie ganz normal und auch logisch ist. Und manchmal, wenn ich großes Glück habe, bieten sie mir eine kurze Rast an und offerieren mir ihre Gastfreundschaft.

Reisen ist anstrengend, weil man kaum auf Gewohnheiten zurückgreifen kann. Ständig muss man sich auf neue Gegebenheiten einrichten. Das fremde Essen. Das Bett, in dem man fast nie so gut schläft wie zuhause. Unbekannte Sitten. Sogar die Haare verhalten sich nach dem Waschen mit fremdem Wasser oft nicht, wie man es von zuhause kennt. Die ständig neuen Umstände haben besonders viel Gewicht, wenn man mit Kindern reist. Je kleiner sie sind, desto mehr benötigen sie unterwegs Räume und immer wieder Zeit, um zu verdauen, was sie gerade erleben. Von dieser Verlangsamung profitieren auch Erwachsene. Hilfreich ist es für beide, wenn man sich kleine Routinen schafft. Meine Freundin und ihr Mann, leidenschaftliche Reisende, haben die Gewohnheit, sich überall auf der Welt etwa um 17 Uhr herum hinzusetzen, möglichst draußen, und sich ein Getränk zu genehmigen. Für ungefähr eine Stunde halten sie inne und tun nichts anderes, als einen Tee oder einen Aperitif zu trinken und das, was gerade um sie herum geschieht, auf sich wirken zu lassen.

Reisen ist etwas anderes als Tourist sein. Reisende verzichten möglichst auf Erwartungen. Das unterscheidet sie von Touristen. Touristen wollen einen messbaren Gegenwert für die Zeit, das Geld, die Anstrengung, die sie aufbieten, um von Zuhause weg zu sein: gutes Wetter, köstliches Essen, tolle Fotos. Perfekte Erinnerungen. Erfahrene Reisende nehmen die Dinge so, wie sie sind. Und die besonders intensiven Momente als Geschenk. Es gelingt nicht immer. Aber man kann es üben. Die rosafarbene Morgenstille in Marfa/Texas, dazu der Geschmack des dünnen amerikanischen Kaffees in den ruhige Minuten, bevor die Reise weiterging. Das Knacken des Holzes in der Sauna am Polarkreis, als ich nach stundenlangem Paddeln mit brennenden Muskeln die Hitzekammer betrat und der Schmerz augenblicklich nachließ. Das staubige Licht am Budapester Westbahnhof am Ende eines sonnigen Tages. Diese Eindrücke sind tief verankert und blitzen noch Jahre später auf. Sie sind mir kostbarer als die fotografischen Trophäen, die ich manchmal von irgendwelchen Sehenswürdigkeiten mitbringe. Je öfter ich unterwegs bin, desto eher lerne ich, auf diese Weise zu reisen.

Reisen erfordert Mut. Denn man bewegt sich damit immer auch ein Stück weg von sich selbst und dem Bild, das man sich von seinem Dasein macht. Man begegnet sich selbst in einem anderen Rahmen und sieht darin manchmal ganz anders aus als zuhause.

Und zwar nicht erst dann, wenn man auch in optischer Hinsicht als Fremde auffällt. In Deutschland bin ich eine ziemlich freie, leidlich glückliche Frau, die ihren Lebensunterhalt mit Schreiben verdient. In Afrika wäre ich damit, berufstätig und kein Mitglied einer großen Familie, eine einsame, bemitleidenswerte Kreatur. In der Südsee würde mein Glück daran gemessen, ob meine Eltern noch leben. In Frankreich hat meine Kleidergröße einen großen Einfluss auf den Erfolg, den man mir zumisst. In China die Helligkeit meiner Haut. Von anderen so anders wahrgenommen als ich mich selbst definiere, fühlt sich oft unbehaglich an. Doch darin liegt auch ein Gewinn. Wenn man sich ohnehin schon unbehaglich fühlt, kann man auch mutig sein. Dann landet man, auf der Suche nach einer Toilette, vielleicht plötzlich in einem Einheimischenlokal und wird freundlich begrüßt. Kommt man im Bus plötzlich mit einer Geschlechtsgenossin ins Gespräch, erkennt man plötzlich, wie ähnlich sich die Menschen doch sind, egal, ob sie zwischen staubigen Hütten oder in glänzenden Wolkenkratzern leben, und dass man fast immer eine Möglichkeit findet, sich miteinander zu verständigen.

Reisen macht glücklich, weil man die unterschiedlichsten Ecken der Welt als etwas Zusammenhängendes zu erkennen beginnt. Und gleichzeitig als Orte, wo fast überall andere Prioritäten gelten als die, die man selbst ins Zentrum stellt.

Ich habe das Reisen erst spät entdeckt, mit über dreißig verließ ich zum ersten Mal Europa. Seither gehört es zu meinem Leben. Ich lerne dabei die wichtigsten Dinge, ganz egal, ob allein oder in Begleitung von Liebsten, von Kollegen, oder wie in den letzten Jahren mehrfach, mit meiner alten Mutter. Dabei zählen nicht nur die großen Fahrten. Man kann immer wieder und überall hin und wieder Reisender sein. Es bedeutet, dass man bereit ist, einfach aus Neugier, und sei es in einer Nachbarstadt, die man noch nicht kennt, in eine Straße einzubiegen um zu sehen, was hinter der nächsten Ecke liegt.

Wenn man Reisen als eine Haltung sieht, als eine Gangart, zeigt sich bald, warum es nicht nur im Urlaub glücklich macht: Weil man, wenn es gelingt, am Abend immer als reicherer Mensch zurückkehrt, als man am Morgen aufgebrochen ist.

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Susann Sitzler

Die Autorin Susann Sitzler wurde 1970 in Basel geboren und lebt seit 1996 in Berlin.

Sie sagt über sich selbst, dass sie reisen möchte, sobald sie am Schreibtisch sitzt, und schreiben, sobald sie reist.

Darum tut sie als Journalistin und Buchautorin beides. Jedenfalls, seitdem sie 2005 endlich ihre Existenz als Stubenhockerin aufgab und zum ersten Mal Europa verließ - um in die USA zu fliegen.

Was damals einer persönlichen Mondlandung gleichkam, ist heute selbstverständliche Leidenschaft: Je weiter weg die Reise führt, desto besser. Ihr Interesse gilt dabei vor allem dem Alltag fremder Orte.

Sie liebt ausländische Supermärkte, besucht gerne bizarre Kaschemmen in verrufenen Gegenden - und ist nirgendwo so glücklich wie in der Wüste.

Das letzte Jahr hat sie allerdings fast vollständig am Schreibtisch verbracht: Um ihr Buch "Freundinnen. Was Frauen einander bedeuten" zu schreiben, das am 9. September 2017 bei Klett-Cotta erscheint.

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