Frauen sind modesüchtig, Männer besessen von Autos. Frauen können alles tragen, alles sein: von hyperfeminin über androgyn bis maskulin. Ihnen gehört die Mode.
Und Männer? Die Armen – dachte ich als Kind –, sie können sich nie schön anziehen, sie müssen immer nur langweilige Hosen, Hemden, Jacken tragen. Was für ein Leben ...
Das ist lange her, und längst ist mir klar, dass hinter diesem Unterschied der Kleidung viel mehr steckt. Die unendlichen Möglichkeiten von Frauen sind beschränkt auf die Mode. Die limitierten Möglichkeiten der Männer sind Zeichen dafür, dass ihnen vielleicht nicht die Mode, dafür aber die Welt gehört.
Zugegeben, das ist polemisch zugespitzt. Aber falsch ist es deshalb nicht. Tatsächlich gilt Mode seit einigen Jahrhunderten als Frauensache, obgleich ein kurzer Blick zurück in die europäische Modegeschichte zeigt: Frauen und Männer kleiden sich schon sehr lange unterschiedlich. Aber anders als heute waren in Renaissance und Barock keineswegs die Frauen die „fashion victims“ (deutsch: „Modeopfer“) – vielmehr waren das die Männer.
Ihre Mode war experimentierfreudiger und freizügiger als die der Frauen. So zeigten Männer in der Renaissance viel Bein, oft mit Strümpfen in unterschiedlichen Farben bekleidet; Frauen hingegen hatten keine Beine, sondern bodenlange Röcke. Im 17. Jahrhundert waren die Kleider der Frauen prächtig, aber deutlich steifer als die immer ausladenderen und bewegteren und mit allerlei Zierrat geschmückten Moden der Herren. Und doch sind es damals wie heute meist die Frauen, deren „Modesucht“ belächelt, herb kritisiert, angegriffen wird. Warum lieben Frauen die Versprechungen, die Mode ihnen macht, und warum sind Männer dafür oft (anscheinend) gar nicht empfänglich?
Vor dem 18. Jahrhundert waren nur die Adligen und die aufsteigenden Bürgerinnen und Bürger imstande, sich modisch zu kleiden – ja sie mussten es tun, weil es zu ihrem Stand gehörte, der die Verpflichtung zu andauernder Repräsentation mit sich brachte. Heute haben wir (angeblich zumindest) die Wahl – und mehr Menschen denn je können sich die Freude leisten, sich mit Hilfe schöner Kleidung zu verändern, sich besser zu fühlen, zu dem oder der zu machen, der oder die man gern sein möchte. Mode verspricht immer wieder aufs Neue, dass man ganz originell, ganz man selbst, ganz der oder die sein könne, der oder die man sein möchte oder zu sein meint, wenn man nur dies oder das trägt.
Frauen können (fast) alles anziehen. Hosen für Frauen sind schon lange selbstverständlich und werden nicht mehr als männlich wahrgenommen. Aber Männer (von wenigen Ausnahmen abgesehen) tragen noch immer keine Kleider, Röcke und High Heels. Zur Boy-Friend-Jacke für Frauen gibt kein männliches Gegenstück.
Tatsächlich sind Männer nicht nur weniger modemutig, sondern sie konsumieren auch deutlich weniger Mode als Frauen. Die Umsatzzahlen sprechen eine deutliche Sprache: Im Jahr 2017 betrug der Umsatz im Herrenbekleidungs-Segment in Europa etwa 85 606 Millionen Euro; im Vergleich dazu beträgt der Gesamtumsatz von Damenbekleidung in Europa etwa 129 262 Millionen Euro. In Deutschland beträgt der Pro-Kopf-Umsatz 247,52 Euro bei den Männern und bei den Frauen 320,03 Euro.
Die Textil- und Bekleidungsindustrie gehört weltweit zu den wichtigsten Konsumgüterindustrien. Das hat aber immer noch nicht dazu geführt, dass Mode als kultureller Faktor ernst genommen würde. Mode gilt als oberflächlich, als nebensächlich, als Zeitvertreib – für Frauen. Männer haben seit jeher und immer noch Wichtigeres zu tun als sich um ihr Äußeres zu kümmern, denn das ist ja sowieso qua Geschlecht immer super. Frauen aber sind nicht von allein schön, sondern müssen sich pflegen, sich zurechtmachen, sich schmücken, um so schön zu sein, wie nach wie vor von ihnen erwartet wird (und sie selbst von sich erwarten). Denn sie werden ja beurteilt und müssen sich dem Urteil aussetzen.
Der kürzlich verstorbene britische Maler und Romancier John Berger hat das in seinem längst klassischen Essay „Sehen: Das Bild der Welt in der Bilderwelt“ auf den Punkt gebracht: Frauen werden von frühester Kindheit an dazu erzogen, sich ständig selbst zu beobachten und zu kontrollieren, ganz gleich, was in ihrem Leben gerade los ist. Männer nehmen für sich ganz selbstverständlich das Recht in Anspruch, über Frauen zu urteilen. Sie haben die Definitionsmacht, und viel zu viele Frauen finden das normal.
Es liegt nahe, das alles mit der Jahrhunderte alten Misogynie in Verbindung zu bringen, die nicht zuletzt religiösen Ursprungs ist. Eva, als sekundäres Geschöpf aus der Rippe Adams entstanden, verführt Adam zur Sünde. Das kann man auch ganz anders deuten. Aber die männliche Angst vor der verschlingenden Verführung hat die seltsamsten Wege eingeschlagen, um sich reinzuwaschen von aller Schuld. Der einfachste ist, Frauen zum schwachen Geschlecht zu ernennen, das weder aktiv noch kreativ sein kann und immer beschützt und moralisch geleitet werden muss. Die Mode bietet da ein perfektes Spielfeld.
Denn Mode – ein durch und durch neuzeitliches Phänomen – entsteht nur dann, wenn Menschen die Art und Weise nachahmen, wie andere Menschen sich kleiden und schmücken. Was eine allein tut, ist noch keine Mode. Was eine tut, müssen viele nachahmen, damit Kleider zur Mode werden.
In allen Modetheorien wird das diskutiert. Menschen, so schreibt bereits Ende des 18. Jahrhunderts der Philosoph Christian Garve in der ersten Modetheorie der Geschichte, ahmen gern nach, wen sie als sozial überlegen ansehen. Mode, so schreibt die Soziologin Elena Espositio mehr als 200 Jahre später, entsteht, wenn Menschen, um sich originell zu fühlen, diejenigen nachahmen, die sie für originell halten. Um einzigartig zu sein, machen sie, was alle tun – ein unauflösbares Paradox.
In der Zwischenzeit erklärt Georg Simmel Anfang des 20. Jahrhunderts, „die Mode [sei] gleichsam als Ventil anzusehn, auf dem das Bedürfnis der Frauen nach irgendeinem Maß von Auszeichnung und individueller Hervorgehobenheit ausbricht, wenn ihnen dessen Befriedigung auf anderen Gebieten versagter ist.“ Anders als die Männer, die „vielfältigeren Wesen“, seien Frauen nämlich einheitlicher gestrickt und benötigten deshalb etwas Abwechslung, die ihnen die Mode böte.
Eine weitere abenteuerliche Geschlechtertheorie bietet der britische Psychologe John Carl Flugel im Jahr 1930. Er erklärt, die Männer hätten nach der Französischen Revolution im Interesse des Gemeinwohls und der Demokratie pflichtbewusst den großen Verzicht auf Mode, also auf das Sich-Schmücken, geleistet und kleideten sich seither einheitlich-uniform in den Anzug. Sogar jemand, der offenbar die Freude am Sich-Schmücken versteht, stilisiert den angeblichen Verzicht darauf zu einer staatsbürgerlichen Leistung. Und ganz nebenbei werden – wieder einmal – die Frauen als ein Geschlecht gebrandmarkt, das leichtfertiger und egoistischer ist als die Männer.
Heute argumentiert kaum mehr jemand direkt so, aber bei derart viel rhetorischem Aufwand durch die Jahrhunderte hindurch muss man sich nicht wundern, wenn bestimmte Bilder von Frauen und Männern sich in den Köpfen verfestigen und auch im 21. Jahrhundert noch nicht gänzlich verschwunden sind – also zum Beispiel, vereinfacht gesagt, die Auffassung, dass Mode Frauensache wäre.
Mode wird als Oberflächenphänomen und Nachahmung bewertet. Hier dürfen Frauen aktiv werden. Und schon ist die Gleichsetzung von Frauen mit Oberflächlichkeit und geringerer Kreativität wieder gelungen.
Modisches Handeln ist natürlich mehr als einfache Nachahmung: Es kann auch ein Spiel mit ästhetischen Möglichkeiten sein, das die Welt ein wenig schöner machen kann. Mode bietet Möglichkeiten kreativer Selbstgestaltung.
Aber Vereinfachungen funktionieren deshalb so gut, weil sie die Welt so einfach und durchschaubar präsentieren. Allerdings bleiben am Ende die Definitionsmacht, die Kreativität, der Intellekt und anderes mehr da, wo die Männer sie haben wollen: bei sich.
Gertrud Lehnert
Gertrud Lehnert, geboren 1956, ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam, Institut für Künste und Medien, und Herausgeberin der Reihe Fashion Studies.
Sie ist Autorin und Herausgeberin zahlreicher Bücher, darunter: „Ist Mode queer? Neue Perspektiven der Modeforschung“ (zusammen mit Maria Weilandt). Ihr Aufsatz „Weibliche Modelust und männlicher Modefrust“ ist in „Kursbuch 192: Frauen II“ im Murmann Verlag erschienen.
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