Das Wichtigste in Kürze
- Peter Kurz warnt vor einer fehlenden Strategie im Umgang mit der AfD in Deutschland.
- Die Demokraten haben keine einheitliche Strategie gegen Rechtspopulismus. Diese Uneinigkeit schwächt die Demokratie und stärkt die AfD.
- Eine klare Haltung könnte die demokratische Mitte vereinen.
Mannheim. Seit Langem war es absehbar, die Abstimmungen im Deutschen Bundestag am 29. und 31. Januar machten es nur noch offensichtlicher: Es gibt keine gemeinsame inhaltliche Strategie der demokratischen Parteien im Umgang mit der AfD, und selbst die vereinbarte formale Abgrenzungsstrategie verliert an Bindungskraft. Daran etwas zu ändern, wird eine der zentralen Aufgaben der neuen Regierung sein.
Sie könnte und muss ein Beispiel geben, das Agieren der Parteien mit ihren vorrangigen Logiken der „Eigensicherung“ und des kleinen Geländegewinns im Wettbewerb gegeneinander zu beenden, weil es auch ein Verlustspiel der Demokraten zugunsten der AfD ist. Und sie müsste anerkennen, dass die Uneinigkeit der Demokraten nicht nur eine Folge unterschiedlicher Einschätzungen zur Eindämmung der AfD oder kurzfristiger wahltaktischer Überlegungen ist. Die mangelnde Einigkeit wird eben auch getrieben von rechts-konservativen Strategen, die eine Verschiebung des politischen Diskurses nach rechts begrüßen – selbst wenn das bedeutet, Positionen mit verfassungsfeindlicher Dimension zu normalisieren. Ihre eigene Position rückt so in die Nähe einer neu definierten „Mitte“. Und umgekehrt sehen andere ein durchgehendes Kontinuum von jeder Position rechts der Mitte zu rechtsextremen Positionen, sodass rechts der Mitte nur Gegner und keine Bündnispartner zur Verteidigung der Demokratie erwartet werden.
Eine zweite Bruchlinie in der Gesellschaft
Diese Entwicklung spiegelt nicht nur parteipolitische Differenzen wider, sondern auch eine tiefergehende Spaltung innerhalb der Wählerschaft demokratischer Parteien. Eine Untersuchung aus Baden-Württemberg zeigt: Während knapp die Hälfte der Wahlberechtigten eine punktuelle Zusammenarbeit mit der AfD befürwortet, lehnt eine ebenso große Gruppe diese strikt ab.
Es gibt also nicht nur die offensichtliche Bruchlinie zwischen jenen, die die AfD für wählbar halten, und jenen, die sie als unwählbar betrachten. Hinzu kommt eine zweite, ebenso relevante Trennlinie: zwischen denen, die die AfD als manifeste Bedrohung empfinden, und denen, die das nicht tun.
Der Gastautor
Peter Kurz, geboren 1962, ist promovierter Jurist.
Er war 16 Jahre lang Oberbürgermeister der Stadt Mannheim , über acht Jahre Bürgermeister für Kultur, Bildung und Sport und zuvor Verwaltungsrichter.
2023 kandidierte er nicht mehr als Oberbürgermeister.
Im August 2024 erscheint sein Buch „Gute Politik – was wir dafür brauchen“ im S. Fischer-Verlag.
Diese zweite Bruchlinie birgt das Potenzial tiefgreifender Verwerfungen auch zwischen den Anhängern demokratischer Parteien, da der unterschiedliche Umgang mit (empfundener) Bedrohung emotional aufgeladen ist.
Zu den Durchsetzungsstrategien des autoritären Populismus gehören Bedrohung und eine Atmosphäre latenter Bedrohung. Ist er erst an der Macht, kombiniert sich die staatliche Macht mit gezielter Einschüchterung aus der Gesellschaft heraus gegen vermeintliche oder tatsächliche Gegner – aktuell sichtbar in den USA. Dort gehörte zu den ersten Amtshandlungen Donald Trumps, politische Gewalt im Zusammenhang mit der Stürmung des Kapitols straffrei zu stellen und gleichzeitig den Polizeischutz für von ihm ausgemachte persönliche Gegner abzuschaffen. Auch die weiteren Bausteine der Einschüchterungsstrategie reichen weit über die öffentlich-politische Sphäre hinaus: Strafrechtliche Ermittlungen, Entlassungen, Zuschusskürzungen und die Einschränkung von Rechten können das Leben von Betroffenen fundamental erschüttern.
Die zentrale Frage ist: Wie lässt sich dieser Spaltungsprozess aufhalten?
Auch in Deutschland nehmen Menschen diese Entwicklung wahr. Viele antizipieren ökonomische, gesellschaftliche oder gar physische Bedrohungen für sich persönlich – und erleben diese in einzelnen Kommunen bereits. Das führt dazu, dass sich nicht nur Einzelne mit Gedanken des Umzugs oder gar der Auswanderung befassen. Für einen erheblichen Teil der Bevölkerung erscheinen dagegen solche Sorgen angesichts der Stabilität der Institutionen überzogen. Die emotionale Reaktion der potenziell Betroffenen oder sich mit ihnen Solidarisierenden über jede Form der Annäherung an die AfD erscheint ihnen befremdlich. Umgekehrt empfinden diejenigen, die sich betroffen sehen, diese distanzierte Haltung als verletzend, nicht-empathisch und unreflektiert.
Diese Wahrnehmungskluft führt dazu, dass sich die Gesellschaft genau in der Mitte, entlang persönlicher Empfindungen in zwei Hälften teilt – und das mit direkten Folgen für soziale Beziehungen. Wer sich durch politische Entwicklungen potenziell existenziell bedroht fühlt, wird mangelnde Solidarität oder gar die Unterstützung einer Partei, die als Bedrohung wahrgenommen wird, als persönlichen Angriff deuten. Freundschaften über diese Kluft hinweg werden unmöglich. Die gesellschaftliche Spaltung, die bislang als „amerikanisch“ galt, zeichnet sich ab – und vertieft sich mit jeder Debatte, die bisherige Grundkonsense infrage stellt, wie zum Beispiel aktuell über die Frage, ob Beleidigung und Lügen Teil der verfassungsrechtlich geschützten Meinungsfreiheit sind.
Die zentrale Frage ist: Wie lässt sich dieser Spaltungsprozess aufhalten? Eine Chance dafür gibt es nur, wenn dies eine kritische Masse tatsächlich will, wenn Muster der Konfrontation offengelegt und diejenigen, die unreflektiert oder absichtsvoll genau diese Spaltung in der Mitte betreiben, kritisiert werden.
Demokratische Mindeststandards als gemeinsamer Nenner
Eine wesentliche Antwort liegt damit in der bewussten Stärkung demokratischer Mindeststandards. Sie sind die Grundlage dafür, dass sich alle Bürgerinnen und Bürger auf die Regeln des politischen Systems verlassen können. Doch sie werden zunehmend missachtet. Und wenn Regelverstöße thematisiert werden, geschieht dies oft reflexhaft im Modus des „Whataboutism“ – mit dem Verweis auf Verfehlungen anderer, was sich tatsächlich als wesentlicher Treiber darstellt. So rücken derzeit wechselseitig Vorwürfe an Demokraten rechts und links der Mitte in den Fokus, sie seien das „echte Problem“ für die Demokratie.
Hier ist eine klare Haltung gefragt. Kevin Kühnerts Hinweis in seiner Abschiedsrede kann als Orientierung dienen: Demokratische Grundsätze müssen für alle gleichermaßen gelten – auch für die „eigene Seite“ oder vermeintliche Bündnispartner. Faschismus-Vorwürfe oder der Einsatz des Begriffs „Hass“ innerhalb des demokratischen Spektrums unterminieren die so dringend notwendige Geschlossenheit der Demokraten. Nur mit dieser klaren Orientierung und Festigkeit ist die Kritik an Regelverstößen glaubwürdig und kann die gesellschaftliche Mitte binden.
Dies gilt insbesondere auch für die grundlegende demokratische Ablehnung von Gewalt. Auch hier ist längst eine Beunruhigung entstanden. Wechselseitig wird eine mangelnde Distanz zur Gewalt unterstellt, die den Zusammenhalt der Demokraten untergräbt. Konservative verorten politische Gewalt auch und vor allem links – historisch von der RAF bis zur aktuellen „Klimakleber“-Debatte und sogar bei Demonstrationen auch gegen FDP und CDU.
Die Konfliktlinien innerhalb des demokratischen Spektrums dürfen niemals auf eine Stufe mit der Auseinandersetzung zwischen Demokraten und Nicht-Demokraten gestellt werden.
Progressive Kräfte hingegen sehen die Bedrohungslage strukturell unterschiedlich: Die statistischen Daten zeigten rechts die höhere Intensität und den höheren Anteil an Bedrohungen. Zudem stehen Gewalt gegen Migranten oder gesellschaftlich Engagierte – vornehmlich in Ostdeutschland – sowie die Nähe der AfD zu Gewalttätern für sie im Zentrum der Diskussion. Auch in dieser Debatte kann nur eine glaubwürdige und dokumentierte Entschiedenheit gegen jede Gewalt die Mitte zusammenführen. Zur Vergewisserung und Aktualisierung eines demokratischen Konsenses gehört auch hier die Einsicht, dass die Gewalt der „anderen“ niemals eine Relativierung eigener demokratischer Grundsätze rechtfertigen darf.
Und ein dritter Konsens muss dringend wiederhergestellt werden: Die Konfliktlinien innerhalb des demokratischen Spektrums dürfen niemals auf eine Stufe mit der Auseinandersetzung zwischen Demokraten und Nicht-Demokraten gestellt werden. Doch genau dieser Eindruck entstand zunehmend. Damit verliert die Bindung aller demokratischen Parteien an Grundwerte der Verfassung ihre zentrale Bedeutung.
Und nicht zuletzt bleibt die entscheidende Frage für eine gemeinsame Strategie der Demokraten: Können sie sich geschlossen zur Wehrhaftigkeit der Demokratie bekennen?
Karl Poppers Warnung, dass eine unbegrenzte Toleranz gegenüber Intoleranz am Ende die Demokratie zerstört, war einst Konsens. Unser Grundgesetz wie unsere politische Kultur sahen dieses Toleranz-Paradox, dass sich der demokratische Staat gegen seine Feinde wehren können muss und den Feinden nicht alle Mittel der Demokratie zur Verfügung stellen darf. Die Nationalsozialisten haben den Verzicht der Weimarer Republik auf diese Abwehr als Schwäche der Demokratie selbst klar benannt. Dieser Konsens wird – noch überwiegend von außen, aus den USA – aktuell massiv angegriffen. Aus sehr offensichtlichen strategischen Gründen: weil hier tatsächlich die Resilienz der deutschen Demokratie begründet liegt.
Politisch kann dieser Abwehr der Intoleranten durch eine klare konsequente Ablehnung, sie zu normalisieren und mit ihnen zu kooperieren, gesichert werden. Die Alternative dazu sind die rechtlichen Mittel bis hin zum Verbot. Auf beides zugleich kann jedoch nicht verzichtet werden. Das wäre die Selbstaufgabe der Demokratie. Auch hier braucht es Einigkeit in der Mitte, die eine neue Regierung bindungskräftig auch für andere formulieren könnte.
Eine gemeinsame Strategie – vorgelebt in der Politik – wäre nicht nur Ergebnis eines Zusammenhalts in der Mitte; sie würde Zusammenhalt stiften. Sie schafft die Sicherheit unter Demokraten, sich aufeinander verlassen zu können. Ihr Fehlen dagegen spaltet – nicht nur politisch.
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