"MM"-Debatte

Warum glauben immer mehr Menschen an Verschwörungen, Herr Blume?

Die Bundesregierung, die Polizei und die Mainstream-Medien vertuschen, dass der Amok-Täter von München ein IS-Terrorist war - verbreitet sich so eine Falschmeldung online, ist sie kaum wieder einzufangen. Populisten aller Art haben das Potenzial der dig

Von 
Michael Blume
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Kondensstreifen über Frankfurt. Einige Verschwörungstheoretiker glauben, dass Flugzeuge Chemikalien versprühen, um die Menschen zu vergiften.

© dpa

Extremisten aller Art haben etwas gemeinsam: Ob links, rechts oder religiös, sie glauben fest daran, Opfer einer weltweiten Verschwörung zu sein. Und entsprechend rechtfertigen sie auch ihre Gewalttaten, beispielsweise Angriffe auf Flüchtlingsheime oder Terroranschläge, stets mit der Behauptung, sie "müssten sich verteidigen", sie handelten in "Notwehr"!

Auch populistische Bewegungen und Politiker profitieren derzeit davon, dass immer mehr Menschen glauben, durch riesige Verschwörungen bedroht zu werden. Ob Wladimir Putin (Russland) oder Pegida (Deutschland), ob Recep Tayyip Erdogan (Türkei) oder Marine Le Pen (Frankreich), ob Viktor Orban (Ungarn) oder die österreichische FPÖ, ob der neu gewählte Präsident Rodrigo Duterte (Philippinen) oder der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump (USA) - weltweit erringen Populisten mit einfachen Botschaften neue Macht.

Sie behaupten, dass das Volk von inneren und äußeren Verschwörern bedroht wären, dass die Regeln von Menschenrechten und Rechtsstaat nicht mehr funktionierten und dass nur sie selbst in der Lage wären, die Verschwörer und Verräter der "Altparteien" und "Lügenpresse" zu stellen und das Land wieder "zu säubern". Sie schüren Ängste und bieten sich zugleich als Schutzmächte an. Und sie haben zurzeit sehr viel Erfolg damit.

Viele werden selbst im eigenen Bekannten- und Familienkreis durchaus auch gebildete Menschen kennen, die plötzlich von Verschwörungen "der Merkel" raunen, die Terroranschläge des 11. September 2001 für einen "Insider-Job" halten oder auch glauben, dass die Mondlandungen der USA von 1969 bis 1972 nur im Filmstudio stattgefunden hätten. Wie kommt das?

Religiöses Problem

Menschen schätzen Theorien, die uns die Zusammenhänge der Welt erklären. Eine seriöse, zum Beispiel wissenschaftliche Theorie zeichnet sich dabei dadurch aus, dass sie anhand von Beobachtungen erstellt wurde und überprüfbar, also auch widerlegbar bleibt. Verschwörungen gibt es natürlich und seriöse Verschwörungstheorien können daher durchaus ihre Berechtigung haben - beispielsweise, wenn Staatsanwälte Beschuldigten die Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation vorwerfen, ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss die Hintergründe der NSU-Terrorgruppe ausleuchtet oder der "Mannheimer Morgen" über Korruptionsfälle in einer Behörde berichtet.

In diesen Fällen haben Beschuldigte aber das Recht auf Stellungnahme und Verteidigung und gelten so lange als unschuldig, bis ihnen Verfehlungen nachgewiesen sind. Theorien bleiben überprüf- und widerlegbar und der Rechtsstaat schützt uns alle.

Menschen brauchen jedoch auch Mythen, die ihnen Sinn und Gemeinschaft stiften. "Jeder Mensch hat Menschenrechte", "Mein Leben hat einen Sinn" und "Gott liebt Dich" sind mythologische Aussagen, die sich wissenschaftlich nicht überprüfen lassen, aber für Menschen dennoch wahr sein können.

Gefährliche Scheinerklärungen

Verschwörungsmythen sind die dunklen Geschwister dieser lebensbejahenden Botschaften. "Die Ernte wurde durch Hexerei vernichtet", "Die Juden sind unser Unglück" oder "Die Regierungen werden von Illuminaten gesteuert" sind Aussagen, die sich ebenfalls nicht überprüfen lassen, aber gefährliche Schein-Erklärungen anbieten. Wer auf diese schiefe Bahn gerät, kann sich schnell in einen Verschwörungsglauben verstricken, nach dem die Welt von geheimen, bösen Mächten beherrscht würde, faire Regeln nicht funktionierten und die eigene Gruppe von weltweiten Superverschwörern bedroht werde.

Bald sind dann "die" an allem schuld - am Ärger in der Familie, in der Schule oder am Arbeitsplatz, an allem Elend der Welt. So werden in Afrika und Indonesien bis heute noch jährlich Abertausende Menschen, vor allem Frauen und Kinder, unter dem Vorwurf der "Hexerei" verstoßen und oft auch ermordet. Während ein aufgeklärter, religiöser Glauben Sinn, Trost und Gemeinschaft stiftet, führt ein Verschwörungsglauben zu einer Weltsicht voller Angst, Verzweiflung und Hass gegen "die Anderen".

Während sich die westliche Welt nach der Katastrophe des Holocaust überwiegend kritisch mit antisemitischen Vorurteilen auseinandersetzte, förderten die arabischen Ölregime antijüdische und antiwestliche Verschwörungsmythen als entlastende Ablenkung für ihre unterdrückten Völker, und "vergifteten" so die islamisch geprägte Welt. Heute werfen sich fast alle Gruppierungen dort gegenseitig "Verschwörungen" vor und bekriegen sich dementsprechend kompromisslos und hasserfüllt.

Aber auch bei uns im Lande kehren die überwunden geglaubten Geister zurück: Die baden-württembergische AfD entsandte einen Abgeordneten in den Landtag, der in seinen Schriften eine "freimaurerisch-zionistische Weltverschwörung" verkündet und die nachgewiesen gefälschten "Protokolle der Weisen von Zion" für echt erklärt. Und der Kopp-Verlag in Rottenburg am Neckar versendet inzwischen täglich Abertausende deutschsprachige Bücher voller rechtsesoterischer Verschwörungsmythen.

Doch warum breitet sich der Verschwörungsglaube derzeit wieder so massiv aus?

Die dunkle Seite neuer Medien

Die bittere Erkenntnis ist: Wann immer Menschen neue Medien schufen, nutzten sie sie nicht nur für Schönes und Gelehrtes, sondern auch zur Verbreitung "spannender" Verschwörungsmythen.

Die Erfindung des Buchdrucks brachte erst einmal furchtbare Werke wie den erstmals 1486 erschienenen "Hexenhammer" hervor, unter dessen Anleitung zehntausende Unschuldige als vermeintliche Teufelsverschwörer verfolgt und ermordet wurden - in der frühen Neuzeit, nicht im Mittelalter! Die günstigen Bücher des 19. Jahrhunderts führten nicht nur zu einem Aufblühen von Literatur und Wissenschaften, sondern auch zu den übelsten nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Werken.

Auch Kino und Fernsehen brachten weltweit erfolgreiche Verschwörungsserien wie "Akte X" (ab 1993) und "Matrix" (ab 1999) hervor, so dass heute jeder Jugendliche unzählige Verschwörungsmythen kennt und für mehr oder weniger wahrscheinlich hält.

Und zu all dem trat schließlich zur Jahrtausendwende das Internet, das wie ein riesiger "Verschwörungsglaubensverstärker" funktioniert. Ganz schnell und mit wenigen Klicks lässt sich heute nicht nur jede Art von Verschwörungsmythos finden, sondern dazu auch gleich eine Gruppe von Gleichgesinnten, die sich gegenseitig mit gefilterten Nachrichten versorgen, bestätigen und anfeuern.

So war beispielsweise der Amokläufer von München am 22. Juli 2016 noch kaum identifiziert, als schon rechtsgerichtete Kreise im Netz verkündeten, Ali David S. sei ein "Islamist". Linksgerichtete Online-Aktivisten bezeichneten ihn ebenso voreilig als "Breivik-Fan und Nazi" und auf muslimischen Seiten ließ sich das Gerücht finden, der Deutsch-Iraner sei schon lange "zum Christentum konvertiert". Und natürlich warfen all diese den jeweils anderen und "den Medien" vor, sie würden "die Wahrheit unterdrücken".

Es war nie leichter, sich die Welt nach den eigenen Vorurteilen zu konstruieren und in voneinander abgeschottete Verschwörungsblasen abzutauchen.

Populisten befeuern Ängste

Populisten aller Art haben das Potenzial der digitalen Medien längst erkannt und bieten immer mehr und professionellere "Nachrichten"-Angebote für Verschwörungsgläubige an. Ob Sie sich vor Impfungen fürchten oder vermuten, die Regierung wolle Sie durch Sprühflugzeuge mit sogenannten Chemtrails vergiften - Sie werden fündig.

Auch ein Verschwörungsverkünder wie der ehemalige BBC-Sportreporter David Icke vermag heute mit stundenlangen Vorträgen über die Superverschwörung "reptiloider Außerirdischer, die die Gestalt von Politikern annehmen", große Hallen in Großbritannien und den USA zu füllen. Und die Verschwörungsgläubigen zahlen dafür nicht nur Eintritt, sondern kaufen und verbreiten auch seine Bücher und Filme.

Autoritäre Regime wie Russland, China und die Türkei haben schnell gelernt, das Internet im Inland streng und autoritär zu kontrollieren. Gleichzeitig fördern sie sowohl echte Enthüllungen wie jene des NSA-Whistleblowers Edward Snowden, als auch Falschmeldungen - etwa die zur erfundenen Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens durch Flüchtlinge in Berlin.

So erschüttern sie das Vertrauen der westlichen Bevölkerungen in ihre gewachsenen Medien und in ihre demokratisch gewählten Regierungen.

Donald Trump hat sich nicht zufällig schon positiv sowohl zu Wladimir Putin wie auch zu Recep Tayyip Erdogan geäußert: Das 21. Jahrhundert könnte durchaus von Neo-Nationalisten geprägt werden, die ihre eigenen Völker je autoritär regieren, Oppositionelle als "Verschwörer" verfolgen und die liberalen Ideen von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit als "Gutmenschengeschwafel" verwerfen.

Doch Verschwörungsmythen haben ihre Schwächen: Sie führen die Gläubigen nach einer Phase von Erregung, vermeintlichem Sinn und Gemeinschaft zunehmend in eine negative Weltsicht aus Angst, Verzweiflung und auch Gewalt. Zudem zerstören sie das gesellschaftliche Vertrauen, ohne das Kulturen, Wissenschaften und auch Wirtschaftsunternehmen einfach nicht gedeihen können.

Hoher Preis

Wo keine Rechtssicherheit mehr besteht, fliehen kluge Köpfe und breiten sich Inkompetenz und Korruption aus. Schon ziehen Investoren ihre Gelder aus Russland und der Türkei ab, bleiben Touristen weg, bereuen manche Briten den Brexit und eine Wahl von Trump - der bereits die Kündigung von Handelsverträgen angekündigt hat - könnte sogar eine Wirtschaftskrise auslösen. Völker zahlen für Verschwörungsglauben einen vielfachen Preis.

Ich weiß nicht, wie viel Schaden der digital befeuerte Glauben an Verschwörungen im 21. Jahrhundert noch anrichten wird. Und doch bin ich davon überzeugt, dass wir Menschen den Glauben an das Gute schließlich auch wiederentdecken werden.

Dr. Michael Blume wurde 1976 in Filderstadt geboren. Er ist ...

  • Dr. Michael Blume wurde 1976 in Filderstadt geboren.
  • Er ist Religionswissenschaftler, Blogger und Buchautor.
  • Seine Doktorarbeit schrieb er über Religion und Hirnforschung.
  • Zuletzt erschien von ihm "Verschwörungsglauben. Der Reiz dunkler Mythen für Psyche und Medien" (sciebooks 2016).
  • Für das Land Baden-Württemberg leitete Blume 2015 das Sonderkontingent für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak, mit dem 1100 jesidische und christliche Opfer des IS aufgenommen wurden.
  • Blume ist evangelischer Christ und mit einer deutsch-türkischen Muslimin verheiratet, die beiden haben drei Kinder.

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