Demonstrationen gehören auch im Internetzeitalter zu unserer politischen Kultur und zu unserem Alltag, sagt der Historiker.

Warum gehen Menschen aus Protest auf die Straße, Herr Gassert?

Auch im Internetzeitalter entscheiden sich Menschen dafür, in aller Öffentlichkeit Probleme anzuprangern: Demonstrationen gehören zu unserer politischen Kultur und zu unserem Alltag, sagt Historiker Philipp Gassert. Ein Gastbeitrag.

Von 
Philipp Gassert
Lesedauer: 
Demonstranten protestieren in Berlin gegen eine Kundgebung der AfD. Proteste sind für die gesellschaftliche Konfliktbewältigung von zentraler Bedeutung – bis heute. © Universität Mannheim/dpa

Joseph Stalin scherzte Anfang der 1930er Jahre, dass die Deutschen mehr Ordnungs- als Freiheitsliebe besäßen und selbst revolutionäre Arbeiter im Zweifel zwei Stunden auf den Schaffner warteten, bevor sie den Bahnsteig ohne Fahrkartenkontrolle für eine Kundgebung verließen. Der sowjetische Diktator würde sich wundern, mit welcher Hingabe die heutigen Deutschen protestieren. Im Mai brachten die Berliner Aufmärsche der AfD zahlreiche Gegendemonstranten auf die Straßen. Auch gegen „Stuttgart 21“ wird weiter demonstriert. In Dresden hört Pegida nicht auf zu marschieren. Die Tumulte rund um den Hamburger G20-Gipfel sind uns deutlich präsent.

Viele der jüngsten Protestbewegungen bringen ein Unbehagen an der liberalen Demokratie zum Ausdruck. Zwar tagen Parlamente und Gremien, doch die „wirklichen“ Beschlüsse würden von einer abgehobenen Elite gefasst, wie es uns linke und rechte Populisten und Protestler einreden wollen. Die einen werfen Fragen der Verteilung und der Gerechtigkeit in einer globalen Wirtschaft auf, während die anderen eine bestimmte Antwort auf die Frage erzwingen wollen, wie wir mit Flucht und Einwanderung umgehen.

Trotz des nachvollziehbaren Unbehagens an der Demokratie in einer sich entgrenzenden Welt ist es erstaunlich, dass Straßenprotest weiter blüht und gedeiht. Denn weder die Stuttgart-21-Proteste noch Occupy 2011 führten zu durchschlagenden Resultaten. Auch Pegida wird nicht verhindern, dass Deutschland wie eh und je Einwanderungsland bleibt. Trotz immer wieder neuer Enttäuschungen seitens der Protestierenden, scheint nichts über eine zünftige Straßendemonstration zu gehen, wenn ein bewegendes Thema gut sichtbar und hörbar platziert werden soll.

Warum bedarf es auch im digitalen Zeitalter weiter der physischen, durch menschliche Körper als Teil einer „Masse“ ermöglichten Sichtbarmachung eines Anliegens auf öffentlichen Straßen und Plätzen? Warum geht, wer sich 2018 öffentlich wahrnehmbar empören will, nicht allein „online“, sondern „auf die Straße“? Rein mediale Kommunikationsformen wie Petitionen, Bittschriften, lange Listen von Unterschriften reichen offensichtlich nicht aus, um Dissens nachdrücklich anzumelden.

Die Frage ist keineswegs trivial: Wir leben heute in einem völlig anderen sozialen, medialen und politischen Umfeld als die Revolutionäre von 1848/49, die für eine freiheitliche Verfassung und nationale Einheit demonstrierten; oder die Arbeiter, die in der Zeit der Industrialisierung die soziale Frage thematisierten; oder die Studenten von 1968, die das Versprechen der Selbstverwirklichung in einer Konsumgesellschaft einforderten, als das Fernsehen erstmals eine neue Unmittelbarkeit der Übermittlung von Protestereignissen ermöglichte.

Obwohl sich unser mediales System dramatisch gewandelt hat, bleibt die Straße Bühne zur Aushandlung politischer und gesellschaftlicher Konflikte. Sichtbarer Protest – und damit dessen vordergründiger Erfolg – wird weiterhin daran gemessen, wie viele Menschen sich massenhaft physisch „im Licht der Öffentlichkeit“ versammeln und dafür mancherlei Unbill, Anstrengung und Risiken in Kauf nehmen. Dabei hätten sie doch Facebook, Instagram und Twitter!

Protest ist historisch: Die erste Antwort lautet schlicht, dass die Geschichte normierend wirkt. Intuitiv erkennen wir Straßenprotest als Protest und nicht als eine Art Freizeitbeschäftigung (obwohl er das für manche auch ist), weil er als Form der antagonistischen politischen Kommunikation historisch überliefert ist. Er ereignet sich immer wieder neu, weil er sich in der Vergangenheit ereignet hat. Wird heute irgendwo demonstriert, dauert es meist nicht lang, bis historisch verglichen wird, man auf „1968“ oder den Mauerfall verweist.

Protest stiftet Sinn: Es geht immer auch um das Selbstverständnis der Demonstrierenden. Straßenprotest blüht und gedeiht, weil die Erfahrung physischer Interaktion ein menschliches Grundbedürfnis ist. Gemeinschaft wird nicht nur symbolisch abstrakt oder medial vermittelt erfahren. Demonstrierende überwinden temporär Grunderfahrungen der Entfremdung in der Moderne. Gemeinsam „auf die Straße zu gehen“ führt zu einem höheren emotionalen Aggregatzustand. Das schafft Zugehörigkeit und stiftet Identität.

Protest verbindet Menschen: Diese emotionalen Wirkungen des persönlich Erlebten in einer Gemeinschaft, in Kombination mit dem Anspruch, etwas in einer Sache bewirken zu wollen, machte die Anziehungskraft von Protestbewegungen auch auf bisher Nichtbeteiligte oder Beobachterinnen aus. Dies ähnelt der Begeisterung bei Sportereignissen. Demonstrieren ist ein persönliches Erleben, aufgrund der gemeinsamen Anreise im Bus oder des Ausharrens auf „Aufmarschplätzen“. Die erzeugten Stimmungen, durch Musik und andere Faktoren emotionaler Vergemeinschaftung, machen Protest zu einem „starken Erlebnis“.

Protest macht ein Anliegen sichtbar: Menschenmassen ziehen Kameras magisch an. Protest zielt auf öffentliche Wirkung. Er ist zuallererst eine Form politischer Kommunikation. Straßenprotest steht in einer symbiotischen Beziehung zu den Medien, hat sich als äußerst anpassungsfähig erwiesen. Er lässt sich auf Papier und auf dem Bildschirm eines Smartphones weiterverbreiten, er lässt sich in der Zeitung, im Fernsehen, im Internet betrachten. Die typischen Formen wandeln sich mit dem dominanten Medium. Plakate und Banner mit politischen Parolen ersetzten Fahnen, als Zeitungen vermehrt Fotos abdruckten. Die „direkten Aktionen“ der 68er waren wie fürs Fernsehen gemacht.

Protest ist Indikator gesellschaftlicher Krisen: Beispiele gescheiterter Proteste gibt es zu Hauf. Selten hat eine Protestbewegung direkt reüssiert, meistens nie. Doch Protest auf die instrumentelle Dimension der konkreten Durchsetzung eines bestimmten Ziels wie etwa die Verhinderung der atomaren Bewaffnung in den 1980er Jahren zu reduzieren, griffe zu kurz. Er „indiziert“ gesellschaftliche Krisen und Kommunikationsdefizite, er macht sozialen Wandel sichtbar, er legt latente Konflikte offen. Protest als Medium gesellschaftlichen Streits ist daher zentral für die Verständigung darüber, was uns wichtig ist, wofür wir einstehen, was wir ablehnen, was uns zusammenhält.

Das Establishment spielt mit: Die Wirkungen von Protest lassen sich erst abschätzen, wenn wir die „Gegenseite“ einbeziehen. Ein gutes Beispiel sind die studentischen Proteste um 1968. Diese wären ohne die Empörung und medial verbreitete Aufregung „etablierter Kräfte“ vermutlich verpufft, auch wenn beiderseits viel Theater mit im Spiel war. Die Haltung systemkonformer Akteure entscheidet über den Erfolg revoltierender, das „System hinterfragender“ Aktivisten mit. Das zeigt auch die Anti-AKW-Bewegung oder der jüngste, migrationsfeindliche Protest.

Proteste und Protestbewegungen verweisen auf Prozesse des Wandels. Sie werfen mit Wandel einhergehende Probleme auf, wie die Frage des Überlebens im atomaren Zeitalter; oder wie 1968 die autoritären Verhaltensformen der Älteren kritisierten und mehr Partizipation forderten; Globalisierungskritiker suchen Orientierung in einer entgrenzten Situation ökonomischer Unsicherheit; migrationsfeindliche Bewegungen thematisieren die Frage der Zugehörigkeit in einer Einwanderungsgesellschaft.

Protest ist daher Indikator, nicht Motor des Wandels: Eher skeptisch zu beurteilen ist, ob Protestbewegungen nicht nur Ausdruck – Indikator – sozialer Krisen sind, oder selbst Wandel bewirken können.

Sie benennen gesellschaftliche Defizite, das Versagen politischer Steuerungs- und Kontrollmechanismen. Doch selbst Lösungen produktiv erarbeiten und anbieten können sie selten, auch weil ihnen hierfür institutionelle Ressourcen fehlen.

Historisch gesehen scheitern fast alle erfolgreichen Protestbewegungen in ihren primären Zielen. Sie zeichnen Fehlentwicklungen in schrillen Farben, doch für konstruktive Wege aus der Krise fehlt ihnen die Kraft. Sie sind Verstärker und Sprachrohr des Wandels, der sich einstellt, wenn Etablierte auf Proteste reagieren. Proteste zwingen uns eine Verständigung darüber auf, was uns wichtig ist. Daher werden auch künftig weiter Menschen protestierend auf die Straße gehen.

Philipp Gassert

  • Prof. Dr. Philipp Gassert ist seit Februar 2014 Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim.
  • Er hat zuvor am Deutschen Historischen Institut in Washington, an der Universität Heidelberg, der LMU München, der University of Pennsylvania und der Universität Augsburg geforscht und gelehrt.
  • Spezialgebiete sind neben der transatlantischen Geschichte und der US-Außenpolitik die Geschichte des Protests im Kalten Krieg.
  • Dieses Jahr ist bei Kohlhammer die Monographie „Bewegte Gesellschaft: Deutsche Protestgeschichte seit 1945“ erschienen, die erste umfassende Darstellung von Protestbewegungen in beiden deutschen Staaten seit 1945.

Ihre Meinung zählt!

Schreiben Sie uns!

Liebe Leserinnen und Leser dieser Zeitung, was halten Sie von diesem Beitrag? Schreiben Sie uns Ihre Meinung!

„Mannheimer Morgen“ Debatte Postfach 102164 68021 Mannheim

E-Mail: leserbriefe@mamo.de

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen