Älterwerden scheint heute zwei völlig verschiedene Gesichter zu haben. Auf der einen Seite gibt es eine zahlenmäßig keinesfalls geringe Gruppe von älteren Menschen, die hilfe- oder pflegebedürftig, einsam und in ihren geistigen Leistungen schwerwiegend eingeschränkt sind. Auf der anderen Seite kommt uns heute in vielen Schattierungen ein weitgehend gesundes "neues" Alter entgegen.
Existieren zwei Klassen von älteren Menschen? Jene, die relativ funktionstüchtig und oft in vielen Bereichen engagiert altern, und jene, die ihrer Fähigkeiten beraubt sind und ein eher stark belastetes und krankes Altern durchleben müssen?
Nein, sage ich, denn Altern ist heute in seinem Kern beides - eine historisch völlig neue, reichhaltig sprudelnde Quelle persönlicher Weiterentwicklung und gleichzeitig eine ebenso neue Grenzerfahrung von hoher menschlicher Verletzlichkeit. Und das bedeutet, dass sich Hoffnung und Freude sowie Trauer und Last wie in keinem anderen Lebensabschnitt die Hand reichen und miteinander versöhnt werden müssen, wenn altern gelingen soll.
Denn Älterwerden bedeutet heute, dass ein- und dieselben Menschen zwei Lebensphasen durchlaufen müssen: Auf eine durchaus sehr lange Phase der weitgehenden Beschwerdefreiheit und vieler neuer Möglichkeitsräume folgt eine alles andere als kurze Phase der Einschränkungen und deutlichen Verluste. Vor allem die stetige Verbesserung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit - die heute 70-Jährigen sind körperlich und geistig etwa so fit wie die 60-Jährigen vor 20 Jahren - spät im Leben führt dazu, dass beide Phasen sich bei immer mehr älteren Menschen immer deutlicher voneinander abheben. Also: Unsere Entwicklung spät im Leben ist ganzheitlich zu sehen, nicht zweigeteilt - beides, viel Schönes und die intensive Erfahrung der Grenzen des Lebens müssen jeweils relativ lange Zeit durchlebt und miteinander versöhnt werden.
Nehmen wir die geistig-kognitive Leistungsfähigkeit (also Informationsverarbeitung im Gerhirn). Ja, es stimmt, dass vor allem geschwindigkeitsbezogene Fähigkeiten, zum Beispiel schnelles Erkennen und Bewerten von Ereignissen und schneller und fehlerfreier Abruf von Ereignissen und Namen, mit dem Älterwerden deutlich nachlassen.
Andere Leistungen bleiben hingegen auch im Alter lange Zeit sehr stabil. Hier geht es vor allem um Erfahrungswissen, Expertisen - etwa Skat oder Schach spielen - und verbal-sprachliche Fähigkeiten. Ältere Menschen verstehen es zudem sehr gut, ihr Leben so einzurichten, dass die verbliebenen kognitiven Fähigkeiten völlig ausreichen, um den Alltag gut zu bewältigen.
Erst sehr spät im Leben kommt es zu deutlichen kognitiven Verlusten "auf allen Kanälen", bei einem kleineren Teil der Älteren kann es zu Demenzerkrankungen kommen. Also: Kognitives Funktionieren ist heute spät im Leben alles andere als eine reine Verlustgeschichte. Aber Haben und Nicht-mehr-Haben müssen im Zuge des langen Alterns vor allem im kognitiven Bereich miteinander versöhnt werden.
Nehmen wir Wohlbefinden. Hier zeigen viele Befunde der Alternspsychologie, dass es den meisten älteren Menschen sehr lange Zeit sehr gut gelingt, ihr Wohlbefinden auf einem hohen Niveau zu halten. Und das gilt selbst dann, wenn Widrigkeiten wie chronische Krankheiten und Funktionsverluste in Teilen das Zepter übernehmen. Ältere Menschen sind gewissermaßen Weltmeister im Umgang mit Wohlbefinden und im Vermeiden von negativen Gefühlen. Vielfach wurde ein sogenannter "Positivitätseffekt" gefunden: Ältere sehen im Gegensatz zu jüngeren Menschen in allem eher das Gute.
Diese sehr gute Nachricht wird allerdings durch neue Befunde von Studien, die ältere Menschen bis zu ihrem Tod begleitet haben, auch wieder relativiert: Je näher ältere Menschen an ihr Lebensende heranrücken, desto mehr kommt ihr Wohlbefinden unter Druck und verliert an Stabilität. Also: Lange Zeit sehr gute Gefühle, aber in den allerletzten Jahren des Lebens auch viel Trauer und oftmals ein Belastungserleben - eine weitere Spielart dessen, was ich das Versöhnen mit sich selbst spät im Leben nenne.
Nehmen wir soziale Beziehungen. Ältere Menschen sind sehr gut darin, die ihnen wichtigen sozialen Beziehungen zu erhalten, mit dem Partner, den Kindern, den Enkeln, mit guten Freunden. Unwichtige und nebensächliche lassen sie eher fahren. Der selektive Erhalt sozialer Beziehungen und auch die Fähigkeit (ganz im Unterschied zu jüngeren Menschen), größere Konflikte in diesen möglichst zu vermeiden, sind eine große Ressource des Älterwerdens.
Zudem ist es die Gruppe der Älteren, die in den letzten 20 Jahren den stärksten Anstieg von allen Altersgruppen im Freiwilligenengagement gezeigt hat. Doch vor allem im hohen Alter werden die Grenzen dieser Erfolgsgeschichte deutlich: der Ehepartner, bei sehr alten Menschen bisweilen auch ein Kind, andere Menschen der eigenen Generation sind bereits verstorben. Also: Die vielen sozialen Gewinne, aber auch soziale Verluste müssen in dem heute sehr langen Alternsprozess miteinander versöhnt werden.
Alles (k)ein Problem? Was wir aus der psychologischen Alternsforschung wissen, ist, dass ältere Menschen sehr gut und effizient darin sind, nicht mehr erreichbare Lebensziele flexibel zu verändern - "Ich muss nicht mehr durch die Weltgeschichte reisen". Sie sind auch sehr gut darin, sich an die Widrigkeiten des Älterwerdens durch Akzeptieren und Annehmen des Nicht-mehr-Veränderbaren anzupassen.
Die häufig lange Zeit (viele Jahre), die wir haben, uns an Verluste wie beginnende Seh-, Hör- und Gehverluste und Verluste im geistigen Bereich zu gewöhnen, ist eine große Ressource des Älterwerdens. Man könnte sagen: Die Zeit heilt (fast) alle Alterswunden.
Zudem beschreiben sich sehr alte Menschen zu einem großen Teil subjektiv als gesund, auch wenn sie oft vier bis fünf Diagnosen in ihrer "Kranken"-Akte stehen haben. Und es ist vor allem die subjektive, ganz persönliche Sicht der eigenen Gesundheit, die Wohlbefinden vorhersagt. Viel hängt zudem von den Bewertungen des eigenen Altwerdens ab.
Wir haben in einer zusammenführenden Auswertung von 19 Langzeitstudien gefunden, dass ältere Menschen, die ihr Altern negativ bewerten, einige Jahre später weniger gesund sind, weniger in körperliche Aktivität investieren und sogar kürzer leben als jene, die ihrem Altern positiv gegenüberstehen.
Aus solchen Forschungsergebnissen entnehme ich: Ältere Menschen sind heute gar nicht so schlecht gerüstet, das Versöhnen mit sich selbst nach einem so langen Altern wie historisch nie zuvor gut hinzubekommen. Aber dies ist kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Was wir noch brauchen:
Mehr Anregungen, bereits früher im Leben das lange Altern zu lernen. Eigentlich ist das bereits eine Schulaufgabe. Wo sind die sehr gut gemachten Schulbücher, die bereits jungen Menschen viel Lust machen, das lange Altern - ihre Zukunft - zu erkunden?
Eine hochwertige Versorgung auch im psychischen Bereich, wenn das lange Altern nicht gelingt. Auf die Dauer kann es zum Beispiel nicht angehen, dass Ältere in unserer Gesellschaft die geringste Chance haben, eine psychotherapeutische Behandlung zu erhalten.
In noch viel stärkerem Maße positive Altersbilder vermitteln - das betrifft uns alle, nicht zuletzt auch die Medien und Professionelle. Aussagen wie "In Ihrem Alter sollte man nicht mehr..." oder "Das ist halt das Alter, dass bei Ihnen..." sollte es nicht mehr geben.
Wir brauchen eine noch stärker positive und "erwartungsfrohe" Alterskultur in unserem Land - ohne die Grenzen dieses heute sehr langen Lebensabschnitts unter den Teppich zu kehren.
Vielleicht ist Sisyphos, der den Fels viele Male ziemlich "erfolgreich" nach oben rollt, dieser dann jedoch auch wieder zurollt, gar kein so schlechtes Bild für das heute so lang gewordene Altern?
Hans-Werner Wahl
Prof. Dr. Hans-Werner Wahl leitet die Abteilung für psychologische Altersforschung an der Universität Heidelberg. Er ist einer der Direktoren des Netzwerks Alternsforschung der Universität Heidelberg sowie Mitbegründer und Co-Herausgeber der Fachzeitschrift "European Journal of Ageing".
Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Untersuchung von Wechselwirkungen zwischen Altern und Umwelt, Adaptationsprozesse im späten Leben, die Rolle subjektiven Alternserlebens sowie den Umgang mit Sensorik- und Mobilitätseinbußen.
Als bisher einziger deutscher Alternsforscher wurde Wahl 2009 mit dem M. Powell Lawton Award der Amerikanischen Gerontologischen Gesellschaft ausgezeichnet.
Ende April erscheint sein Buch "Die neue Psychologie des Alterns - Überraschende Erkenntnisse über unsere längste Lebensphase" im Kösel Verlag. ble
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