„Warum gibt es gerade beim Thema Entlastung so viele Hürden?“, fragt Claudia aus Baden-Württemberg. Wie jeden Tag steht sie früh am Morgen bereits in der Küche, um das Frühstück für ihre Mutter vorzubereiten. Ihre Mutter leidet seit drei Jahren an Demenz und beide hatten eine unruhige Nacht. Müdigkeit und die stetige Verschlechterung der Erkrankung ihrer Mutter machen Claudia zu schaffen. Die Nächte sind oft schwierig und sie ist erschöpft, aber sie weiß, dass sie keine Wahl hat – der Tag beginnt, und ihre Mutter braucht ihre Hilfe.
Während sie den Kaffee aufgießt, schaut ihre Mutter teilnahmslos aus dem Fenster. Seit einem Jahr kann sie nicht mehr allein leben und wohnt jetzt bei ihrer Tochter. Sie ist auf die Hilfe anderer angewiesen. Diese Lebenssituation ist sowohl für Claudia als auch für ihre Mutter schwierig. Claudia hat vor Kurzem ihre Wochenarbeitszeit reduziert und arbeitet von zu Hause aus. Einerseits ist es ein großer Vorteil, von zu Hause aus arbeiten zu können, andererseits wünscht sie sich oft, dem Pflegealltag zu entfliehen und von zu Hause wegzukommen. Ein paar Stunden in der Woche würden ihr helfen, aber sie findet niemanden, der sie entlasten könnte. Ihre Nachbarn hat sie schon mehrmals um Hilfe gebeten. Aber sie traut sich nicht, regelmäßig darum zu bitten. Viel einfacher wäre es für sie, wenn sie die Nachbarn dafür entschädigen könnte. Das gäbe ihr ein besseres Gefühl und wäre ein Zeichen der Wertschätzung.
Wie viele andere Pflegende bräuchte Claudia dringend Entlastung. Da das Geld bei ihr knapp ist, würde sie gerne den 125-Euro-Entlastungsbetrag nutzen, um eine Betreuung ihrer Mutter für ein paar Stunden bezahlen zu können. „Ich habe es wirklich versucht, aber es ist so schwer, jemanden zu finden, der die Voraussetzungen erfüllt, um den Entlastungsbetrag einsetzen zu können. Ich frage mich: Wo ist hier die spürbare Entlastung? Ist diese überhaupt gewollt, wenn einem der Weg dahin so erschwert wird?“
Bereits 2019 war im Pflegereport der Barmer Krankenkasse zu lesen, dass zwei Drittel der befragten pflegenden Angehörigen nicht einmal die Möglichkeit haben, sich stundenweise vertreten zu lassen. Kein Wunder, wenn es weiter heißt, dass mehr als die Hälfte von ihnen psychisch erkrankt ist. Eine vereinfachte Nutzung wäre für die meisten Betroffenen eine große Hilfe. Würden die Zertifizierungsvoraussetzungen bundesweit vereinheitlicht werden, könnten die Angebote auch tatsächlich ankommen.
Auch Claudia hat es durch ihren Wohnort in Sachen Entlastungsbetrag nicht leicht. Sie wohnt im schönen Baden-Württemberg. Dort gelten, wie in jedem Bundesland, eigene Rahmenbedingungen. Wenn zum Beispiel ein Nachbar in Baden-Württemberg über den Entlastungsbetrag beim Einkaufen oder im Haushalt helfen will, muss er vorher 30 Stunden geschult werden. „Das kann ich den Leuten doch nicht zumuten. Ich wäre schon froh, wenn ich jemanden im Bekanntenkreis hätte, der mir ein paar Stunden helfen könnte. Und wozu braucht man überhaupt diese Schulung? Und vor allem, warum 30 Stunden?“, ärgert sich Claudia.
Dabei war der Gedanke des monatlichen Entlastungsbetrags, der mit der Einführung der Pflegereform im Jahr 2017 erweitert und überarbeitet wurde, grundsätzlich ein guter Gedanke. Diese Pflegeleistung ab Pflegegrad 1 soll pflegende Angehörige entlasten und Pflegebedürftige in ihrer Selbstständigkeit fördern. Er kann unter anderem für Haushaltshilfe, Unterstützung beim Einkaufen, die Begleitung zu Terminen oder auch eine stundenweise Betreuung verwendet werden. So weit, so gut. Doch der Sozialverband VdK hat bereits 2022 in einer Studie veröffentlicht, dass viele Pflegeleistungen nicht in Anspruch genommen werden. Warum?
Immer wieder erreichen mich Hilferufe von Lesern, die das Durcheinander nicht verstanden haben und zum Teil sehr frustriert sind. Pflege.de hat nun eine Umfrage durchgeführt und gefragt, vor welchen Herausforderungen Versicherte bei der Nutzung des Entlastungsbetrags stehen.
Und auch in dieser Studie wurde sehr schnell deutlich, dass die meisten Berechtigten diesen Betrag tatsächlich nicht nutzen. Ein wesentlicher Grund dafür ist die sehr komplizierte Bürokratie. Jedes Bundesland hat eigene Regelungen, wer Unterstützung anbieten oder abrechnen darf, was den Überblick erschwert und oft dazu führt, dass Hilfsangebote nicht in Anspruch genommen werden. So wie auch in Claudias Fall.
Hinzu kommen fehlende Angebote und Kapazitäten. 47 Prozent der Befragten geben an, dass es bei den Anbietern keine freien Kapazitäten gibt, und 23 Prozent finden überhaupt keinen Anbieter in ihrer Nähe. Oder sie sind mit den Angeboten unzufrieden. Laut AWO in Hamburg ist die Nachfrage nach Leistungen im Rahmen des Entlastungsgesetzes groß, insbesondere im hauswirtschaftlichen Bereich. Allerdings seien die Erwartungen im hauswirtschaftlichen Bereich oft schwer zu erfüllen. Denn die erwartete Hilfe und Unterstützung im Haushalt ist mit dem zur Verfügung stehenden Zeit- und Leistungsrahmen kaum zu erfüllen.
Die Studie von pflege.de zeigt auch, dass die meisten pflegenden Angehörigen sich eine vereinfachte und schnellere Abwicklung wünschen. „Es muss einfacher werden, diese Unterstützung zu bekommen“, fordert eine der Befragten und spricht damit eigentlich für alle. Denn gerade im Alltag mit Pflegebedürftigen bleibt wenig Zeit und Nerv für komplizierte Anträge und Formalitäten. Aber nicht nur Betroffene, auch die Dienstleister kämpfen mit der Bürokratie: In einem Interview mit einem Anbieter ist zu hören, dass auch die Registrierung für Anbieter viel zu kompliziert ist. Eine direkte Anmeldung bei der Krankenkasse würde vieles erleichtern, so die Meinung.
Eine weitere Schwachstelle, welche die Studie aufzeigt, ist das Informationsdefizit. Viele Angehörige sind nicht gut über ihre gesetzlichen Ansprüche und die Einsatzmöglichkeiten des Entlastungsbetrags informiert. Konkret fühlen sich hierzu 37 Prozent der Befragten schlecht informiert und 54 Prozent wissen nicht, wo sie Angebote finden können.
Für Claudia wäre der Entlastungsbetrag nicht nur eine finanzielle Hilfe, sondern auch eine Form der Anerkennung für die Arbeit derer, die ihr helfen. Sie würde den Betrag gerne nutzen, um ihre Mutter stundenweise betreuen zu lassen oder gelegentlich eine Haushaltshilfe zu engagieren, die sie im Haushalt unterstützt. Diese Unterstützung würde ihr Zeit verschaffen, sich um ihre eigenen Bedürfnisse zu kümmern und neue Kraft zu schöpfen. Oder anders gesagt: Für spürbare Entlastung in ihrem Pflegealltag sorgen.
Lars Kilchert, Gründer und Geschäftsführer von pflege.de, betont die Notwendigkeit besserer Information und Unterstützung: „Pflegende Angehörige leisten einen unschätzbaren Beitrag für unsere Gesellschaft. Es wäre wünschenswert, wenn sie leichter Zugang zum Entlastungsbetrag bekämen.“ Kilchert wünscht sich daher von der Politik, die Hürden auf Landesebene zur Nutzung abzubauen und dafür zu sorgen, dass alle Betroffenen ihre Rechte kennen und diese auch problemlos nutzen können.
Um dies zu erreichen, sind gemeinsame Anstrengungen von Politik, Gesellschaft und Initiativen notwendig. Nur so kann sichergestellt werden, dass der Entlastungsbetrag dort ankommt, wo er am dringendsten benötigt wird, und dass pflegende Angehörige die Wertschätzung und Unterstützung erhalten, die sie verdienen.
Claudia hofft, dass sich die Situation bald verbessert und sie und ihre Mutter die Unterstützung bekommen, die sie benötigen. Bis dahin bleibt der Entlastungsbetrag für sie und viele andere eine unerreichbare Leistung in ihrem oft anstrengenden und herausfordernden Alltag.
Die Gastautorin
Martina Rosenberg ist Autorin, Journalistin und arbeitet als Chefredakteurin bei dem Ratgeberportal pflege.de. Sie lebt mit ihrer Familie südlich von München und hat rund neun Jahre ihre Eltern gepflegt.
Mit ihrem Buch „Mutter, wann stirbst du endlich“ hat sie laut eigenen Angaben große mediale und gesellschaftliche Aufmerksamkeit erzeugt. Ihr Anliegen ist es seit über 10 Jahren, auf die Probleme und oft unbeobachteten Sorgen und Nöte der pflegenden Angehörigen aufmerksam zu machen.
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