Gastbeitrag des Medienwissenschaftlers Jochen Hörisch

Verhindern sprachliche Tabus einen echten Islam-Diskurs, Herr Hörisch?

Es gibt in Deutschland Tabus. Bestimmen Sprechverbote tatsächlich die öffentliche Auseinadersetzung über Islamismus und den Islam? Ja, schreibt der Medienwissenschaftler Jochen Hörisch - und das spiele der AfD, Pegida und der NPD in die Karten. Ein Ga

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Jochen Hörisch
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"Ungefähr sagt das der Pfarrer auch, nur mit ein bisschen andern Worten." Gretchens Reaktion auf Fausts erst karge, dann ausschweifende Antwort auf die berühmte Gretchenfrage hat es in sich. Denn sie hätte auch im sprachwissenschaftlichen Hauptseminar Anspruch darauf, Gehör zu finden. Macht sie doch darauf aufmerksam, dass Worte nicht Schall und Rauch sind, sondern vielmehr massiv unsere Affekte, Assoziationen und Wertungen beeinflussen und prägen.

Die gegenwärtige Diskussion um die zahlreichen Flüchtlinge in unserem Land macht das sofort deutlich. Haben wir es mit Migranten, Asylanten, Asylsuchenden, Schutzbefohlenen, Heimatvertriebenen, Verfolgten, Auswanderern, Wirtschaftsflüchtlingen zu tun? Haben Fluchthelfer, Schlepper oder Schleuser ihnen beigestanden oder sie ausgenommen? Handelt es sich um eine Flüchtlingswelle, -flut, -schwemme, um einen Flüchtlings-Tsunami oder gar um eine Völkerwanderung?

Worte prägen Wahrnehmung

Je nach Wortgebrauch rauschen gänzlich unterschiedliche Assoziationen und Affekte durch unsere Köpfe. Völkerwanderung: Verstehen sich Deutsche als Nachfahren der Goten, die dem dekadenten Rom den verdienten Rest gegeben haben, oder sind wir heute vielmehr den hochkulturellen Römern vergleichbar, die von Barbaren ins finstere Mittelalter getrieben werden? Heimatvertriebene: Wie unendlich viel größer war nach dem Ende des von den Nazis angezettelten Zweiten Weltkrieges die Zahl der Flüchtlinge, der "displaced persons", wie großartig ist in Zeiten zerbombter Städte und allgemeinen Elends ihre Integration gelungen - und Vergleichbares sollten wir bei sensationell besseren Rahmenbedingungen heute nicht schaffen?

All diese Bezeichnungen beziehen sich auf dieselben Sachverhalte und sorgen doch dafür, dass diese ganz unterschiedlich wahrgenommen, bewertet und eben auch behandelt werden. Es gehört zu den schwer zu bestreitenden Erfolgen der "Political-Correctness-Bewegung", dass sie unsere Sprachsensibilität und mit ihr unsere Empathiebereitschaft enorm gesteigert hat. Zu den problematischen Implikationen dieses Erfolgs gehört es hingegen, dass mit ihm kommunikative und analytische Tabuisierungen einhergehen.

Um zu pointieren: Aus ein und demselben Mund kann eine geharnischte Kritik erklingen, weil in einem Text weibliche Wortformen nicht erwähnt werden, und es kann der erboste Hinweis kommen, man sei islamophob, weil man die Steinigung von Frauen anspräche und missbillige.

Wer sich (wie ich es nun nicht ohne Bedenken tue) Tabus und Blockaden in Diskursen über den islamistischen Terrorismus zuwendet, wird schnell auf zahlreiche Paradoxien stoßen. Wer zum Beispiel den Satz "Der Islam hat nichts mit Gewalt zu tun" unterschreibt, wird möglicherweise empört reagieren, wenn er Sätze hört wie "Das Christentum hat nichts mit Kreuzzügen zu tun" oder "Die Nazis haben nichts mit Deutschland zu tun".

Man ahnt, was mit solchen Sätzen gemeint ist: Gute Christen, die nicht nur ihre Nächsten, sondern sogar ihre Feinde lieben sollen, hätten gegen die Kreuzzüge sein müssen, allzu viele aber waren dafür. Man muss, viele wollen aber nicht konsterniert zur Kenntnis nehmen, dass viele Schaulustige "Allahu akbar" rufen, wenn ein mutiger Islamkritiker in Saudi-Arabien Peitschenhiebe erhält. Der Richter war kein Zen-Buddhist, die sadistische Masse versteht sich als fromm muslimisch. "Allahu akbar" riefen auch zahlreiche Massenmörder, bevor sie Türme zum Einsturz brachten, Caféhausbesucher massakrierten und Geiseln enthaupteten.

Zu den Paradoxien, in die sich viele verwickeln, die dergleichen Monstrositäten verstehen wollen, gehört es, dass sie in arroganter europäischer Durchblicker-Arroganz die Massenmörder besser verstehen wollen, als diese sich selbst verstehen: Die handeln doch nur so, weil sie in trost- und perspektivlosen Milieus leben, nicht weil sie Muslime sind und genau dies unüberhörbar bekennen. Solche Islamisten-Versteher sind die problematischsten und entschiedensten Eurozentriker. Sie verkennen, dass auch ein Multimillionär wie Osama bin Laden muslimisch-wahabitisch inspirierter Massenmörder sein kann - und dass er Wert darauf legt, als streng religiöser Muslim wahrgenommen zu werden. So stellt sich die Frage, wie man in öffentlichen Diskussionen mit der ersichtlichen Pathologieanfälligkeit des gegenwärtigen Islams umgehen soll, auf den sich massenmörderische Islamisten ausdrücklich berufen.

Öffentliche Debatte

Man kann sie mit zutreffenden, aber eben die Dimension grotesk verkennenden Hinweisen wie dem neutralisieren, auch ein Norweger und Islamhasser wie Breivik, ein japanischer Sektenführer, ein deutsches RAF-Mitglied oder ein amerikanischer Waffennarr könne Massenmörder werden. Solche Beschwichtigungen des unverkennbar islamistischen Impulses "Allahu akbar" rufender Massenmörder treiben viele Zeitgenossen in die Arme rechtsradikaler Rattenfänger von der AfD über Pegida bis hin zur NPD. Geboten ist statt einer solchen Tabuisierung offenbarer Pathologien in der islamischen Sphäre eine andere, eine verdrängungsfreie Art der öffentlichen Rede über das islamistische Dschihad-Problem. Eine solche öffentliche Auseinandersetzung sollte mindestens fünf Aspekte berücksichtigen.

1. Der Islam hat in Europa traditionell (gerade auch in Deutschland!) ein hohes Prestige. Saladin ist in Lessings Nathan dem christlichen Tempelherrn in jeder Hinsicht überlegen. Goethe, Humboldt, Rückert, Rilke, Annemarie Schimmel (um nur sie zu nennen) waren Bewunderer der islamischen Kultur. Der Islam galt als erhabene, glänzende, friedliche, lebensfreundliche, enthusiastisch-gelassene und heitere Religion. Wenn der Islam heute einen trostlosen Prestigeverlust erlitten hat, so haben das nicht Islamophobe, sondern Islamisten zu verantworten: Sie schänden den Islam, sie lästern Gott, sie beleidigen Muslime. Sie präsentieren den Islam als perverse, todessüchtige, satanische Religion für gekränkte und mordbereite Verlierer.

Überlagertes Kräfteverhältnis

2. Über Jahrhunderte hinweg war der islamische Kulturkreis dem christlichen deutlich überlegen. Dieses Kräfteverhältnis hat sich in der Neuzeit fraglos verlagert, was viele Muslime als große Demütigung erfahren. Nun verdankt sich die spezifisch neuzeitlich-westliche Dynamik nicht zuletzt der Kunst der Selbstkritik. Häretiker in allen Branchen (von Luther und Giordano Bruno über Voltaire und Darwin bis hin zu Einstein und Freud) genießen in der westlichen Neuzeit einen Bonus - die Vermutung, sie könnten recht haben.

Selbstkritik ist ein Zeichen der Stärke, nicht der Schwäche; Opposition stärkt in aller Regel das System, das sie kritisiert. Aus welchen Gründen auch immer aber gilt Selbstkritik bei vielen Muslimen als Zeichen der Schwäche. Der bekennende Muslim Navid Kermani hat kürzlich in seiner Paulskirchenrede deutlich gemacht, wie überzeugend, produktiv und ehrenhaft eine solche Kritik an Fehlentwicklungen der eigenen Kultur sein kann.

3. Zahlreiche westliche Köpfe haben die Lektion der Selbstkritik gelernt, gerade auch, was den Umgang mit muslimischen Regionen angeht. Vom europäischen Imperialismus über die willkürlichen Grenzziehungen im vorderen Orient bis hin zum Irakkrieg ist diese Selbstkritik (fast) Common Sense - völlig zu Recht. Sie hat aber eine selten bedachte Implikation - nämlich muslimische Selbstkritik zu blockieren.

Viele muslimische Länder mit schwer zu ertragenden Lebensbedingungen haben geradezu rituell "den Westen", "die USA" und immer wieder "Israel" als Schuldige an allem eigenen Elend vorgeführt. Wer die heimischen Despoten, Diktatoren und Theokraten nicht kritisieren darf, ohne Folter zu riskieren, kann, ja soll all seine Frustration und seinen Hass auf die üblichen Verdächtigungen projizieren - und sich damit selbst blockieren.

4. Wer Köpfe und Herzen anderer erreichen will, wird sich auf deren Emotionen, Denkschemata, Weltbilder und Erklärungsmodelle einlassen müssen. Wer islamistischen Mördern Habermas-Lektüre empfiehlt, um sie vom zwanglosen Zwang des besseren Arguments zu überzeugen, mag das tun, riskiert aber, wenig zu erreichen und belächelt zu werden.

Nein: Zu fragen sind militante Islamisten, warum der Segen Allahs, des Allmächtigen, ersichtlich über westlichen Regionen und Lebenswelten (inklusive Israel) waltet und warum er ausgerechnet den arabisch-islamischen Bereich so straft.

Alle Versuche, diesem Raum Dynamik, Perspektiven, Wachstum zu verleihen und von seinem Minderwertigkeitskomplex zu befreien, sind signifikant gescheitert. Panarabismus, Theokratie, Fundamentalismus, arabischer Sozialismus, Klientelsystem, Derwisch-Despotie, auch die Arabellion - all diese und viele andere Ansätze mehr endeten in Desastern. In Desastern, an denen stets andere (prototypisch "der Westen") schuld ist.

5. In guter bis bewundernswerter Verfassung war der islamische Raum, als er (gerade auch in religiöser Hinsicht) liberaler, hedonistischer, lebensfreundlicher war als etwa das sogenannte christliche Abendland (man denke nur an die Geschichten aus 1001 Nacht und die Gedichte von Hafis).

Man muss kein großer Psychologe sein, um zu verstehen, wie viel Aggressionen sich in jungen Leuten aufstauen können, wenn sie mit ansehen müssen, wie sich Gleichaltrige händchenhaltend, küssend, tanzend, Wein trinkend vergnügen - und sich all diese Freuden im Namen des Islam (bzw. eines fundamentalistisch missverstandenen Islams) verbieten und versagen zu müssen glauben.

Gott ist nicht offenbar

Militant Gläubige aller, wohlgemerkt aller Religionen sind satanismusanfällig. Denn sie akzeptieren nicht, dass Gott trotz oder wegen seiner Allmacht in seiner Güte darauf verzichtet hat, sich für alle Menschen in derselben Weise verbindlich zu offenbaren.

Man kann schockiert, aber eben auch heiter zur Kenntnis nehmen, dass es Tausende von Religionen gibt. Es ist offenbar, dass Gott nicht offenbar ist. Wer anderes behauptet, ist Gotteslästerer. An der Wiederkehr militanter, dschihadistischer Religiosität hat der Teufel seine helle Freude.

Jochen Hörisch

  • Jochen Hörisch wurde 1951 in Bad Oldesloe (Schleswig-Holstein) geboren.
  • Er studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte in Düsseldorf, Paris und Heidelberg.
  • Er ist seit 1988 Professor für Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim.
  • Er veröffentlichte unter anderem die Bücher Gott, Geld und Medien (2004), Man muss dran glauben - Die Theologie der Märkte (2013) und jüngst Weibes Wonne und Wert - Richard Wagners Theorie-Theater.
  • Im Januar 2015 hielt er bei einer Anti-Pegida-Kundgebung auf dem Heidelberger Universitätsplatz eine Rede.
  • Er ist Mitglied der europäischen Akademie für Wissenschaften und Künste in Salzburg, der Freien Akademie der Künste in Mannheim und der Freien Akademie der Künste in Hamburg.
  • Hörisch ist seit 1975 verheiratet und hat drei Kinder. ls

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