Als in den Nachkriegsjahren die Vorläufer der heutigen europäischen Union - beispielsweise der Wirtschaftsverband Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), ja selbst die Gründung der NATO zählt dazu - Form und Gestalt annahmen, verfolgten die Siegermächte und unsere europäischen Nachbarn ein doppeltes Ziel: der Bundesrepublik bei ihrem Wiederaufbau und ihrer Rückkehr in die internationale Staatengemeinschaft zu helfen. Und zugleich den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Wiederaufstieg Deutschlands in seinen Bahnen zu kontrollieren.
Die deutsche Teilung, die parallele Entwicklung der DDR unter russischem Einfluss und der Mauerbau gehörten zu einer historischen Entwicklung, die unsere europäischen Nachbarn als durchaus normal empfanden. Und selbst unter der (west)deutschen Bevölkerung und in den Köpfen unserer Politiker (auch wenn sie im Nachhinein das Gegenteil behaupten mögen), gehörten Mauerfall und Wiedervereinigung für einen langen Zeitraum gar nicht zum Bereich des Möglichen.
So war die deutsche Wiedervereinigung zu keinem Zeitpunkt ein wesentliches Wahlkampfthema. Und hätte man damals eine Volksbefragung durchgeführt: ob es eine deutsche Wiedervereinigung geben solle, jedoch zum Preis einer für mehrere Generationen zu akzeptierenden Bringschuld Deutschlands gegenüber den Möglichmachern eines solchen historischen Wunders - eine Akzeptanz durch mehr als 90 Prozent der Bevölkerung wäre sicher gewesen. Davon bin ich überzeugt.
Nach dem Mauerfall wurde die historische Chance der Wiedervereinigung von Helmut Kohl klar erkannt und konsequent genutzt. François Mitterrand machte unter anderem die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung zur Bedingung dafür. Das Ziel einer "Kontrolle" des nunmehr unabwendbaren Wiederaufstiegs eines gestärkten und potentiell Europa dominierenden Gesamtdeutschlands erschien in einer neuen Verpackung: ein europäisches Deutschland statt einem deutschen Europa. Anders gesagt: das weitestmögliche Aufgehen deutscher Stärken und vielleicht sogar eines Teils des deutschen "Wesens" in europäischen Institutionen und Verbindungen. Hätten unsere europäischen Nachbarn zu diesem Zeitpunkt die deutsche Wiedervereinigung an einzelne Auflagen, Bedingungen und sogar Gegenleistungen geknüpft, auch hier hätte die deutsche Bevölkerung und die deutsche Politik sicherlich in überwältigender Mehrheit zugestimmt.
Es erscheint mir - historisch betrachtet - notwendig, dies alles zu einem Zeitpunkt in Erinnerung zu bringen, wo der Brexit und die Wahl Donald Trumps die Union der verbliebenen 27 Mitgliedsländer erschüttert, spaltet und deren politische Führungen zwingt, Europa neu zu erfinden.
Wir sollten die Verbindung zu den mehrheitlich europaskeptischen Bürgern Europas neu suchen und letztere mit einem wirklich neuen Projekt begeistern. Stattdessen laufen wir Gefahr, uns bei der Neugründung Europas auf einige rein wirtschaftliche, von den politischen Eliten konzipierte und die Eurogruppe ausbauende und die bestehende Union aushöhlende Instrumente und Institutionen zu beschränken.
Wie im Brexit-Wahlkampf klar geworden ist, scheinen wir auch weiterhin unfähig, den Bürgern Europas überzeugend zu vermitteln, was ihnen Europa, auch ganz persönlich, in der Vergangenheit gebracht hat und vor allem in der Zukunft bringen kann.
Wir produzieren nur europäische Normen und Regeln am Fließband. Statt in striktem Respekt des Subsidiaritätsprinzips (das europäische Kompetenzen auf jene Bereiche beschränkt, in denen die Union wesentlich effektiver als die einzelnen Nationalstaaten agieren kann) Unionskompetenzen auf wenige, aber wesentliche und von den Bürgern wirklich gewollte Bereiche zu konzentrieren.
Die Diskussionen über Institutionen, Positionen, Mechanismen und Funktionsweisen dominieren - statt dass wir einige europaweite Projekte mit einer neuen Dimension sofort umsetzen, etwa in den Bereichen Sicherheit, Immigration, Jugendarbeitslosigkeit und Umwelt.
Währenddessen ziehen manche Stimmen sogar ernsthaft Untergruppierungen zwischen einem Nord- und einem Südeuro, zwischen "demokratieerfahrenen" und "demokratieerlernenden" Unionsländern in Erwägung.
Doch eine deutsche, "historische" mittelfristige Vision für ein neues Europa existiert bislang nicht - und noch weniger der Versuch, eine klare Führungsrolle bei dessen Neugründung zu übernehmen.
In der Flüchtlingsfrage hat die Bundeskanzlerin ohne wahlpolitische Hintergedanken und in Europa bislang isolierter als sie es selbst vorhergesehen hatte, einen deutschen Alleingang mit historischer Dimension übernommen. So ist es jetzt an der Zeit, sich nach den Wahlen und im Falle eines Sieges großzügig an Deutschlands Bringschuld gegenüber einem nicht lediglich auf die Gründungsländer oder die Eurogruppe beschränkten Gesamteuropa zu erinnern - idealerweise im Konzert mit Frankreich und als offensiver, mobilisierender Partner von Emmanuel Macron und dessen eher defensiver Vision eines Europas, das beschützt.
Die deutschen Politiker aller Parteien und sogar die deutsche Öffentlichkeit sollten umdenken: beginnend mit einem Votum für den, selbst an Bedingungen geknüpften Erlass eines Teils der Griechenlandschulden. Ganz so wie Altbundeskanzler Helmut Schmidt, unter langanhaltendem Applaus, es einmal bemerkte: "Wer hätte sich zu Kriegsende nur einmal die Frage gestellt, ob man Deutschland selbst im wohlverstandenen Selbstinteresse großzügig helfen sollte."
Sodann die Ausdehnung deutscher Anlern- und Arbeitsbeschaffungsprogramme - vielleicht als Teil eines vervielfachten Erasmus oder sogar eines Einwanderungsprogrammes - auf arbeitslose Jugendliche ohne jede Ausbildung aus anderen europäischen Ländern. Parallel dazu die Initiierung und Finanzierung zukunftsweisender europäischer Infrastrukturinvestitionen, auch in Anerkennung der hohen, vielfach kritisierten deutschen Exportüberschüsse. Und selbst die Akzeptanz der nach dem deutschen Grundgesetz etwas schwierigen Europäisierung nationaler Nachbarschulden sowie eines europäischen Länderfinanzausgleichs zwischen starken und schwachen, sich immer mehr voneinander wegbewegenden Wirtschaftsräumen.
Courage! Mehr Mut! Statt in der europäischen und sogar der amerikanischen Öffentlichkeit der Kritik eines weit überzogenen, Europa aufgezwungenen deutschen Spardiktats ausgesetzt zu sein. Statt sich, wie in der Griechenlandkrise, mit Karikaturen aus Deutschlands jüngster Vergangenheit auseinandersetzen zu müssen. Statt sich in der Rolle eines Lehrmeisters und nicht der eines großzügigen Partners wiederzufinden.
Das deutsche Ansehen in Europa und in der Welt würde von einer historisch mehr als gerechtfertigten Großzügigkeit und positiven Führungsrolle Deutschlands bei der dringend erforderlichen Konstruktion eines neuen "Europas der Solidarität" weitestgehend profitieren.
Axel Rückert
Axel Rückert wurde am 23. August 1946 in Berlin geboren.
Nach dem Studium der Politikwissenschaft in Berlin und Köln schrieb er seine Abschlussarbeit in Volkswirtschaft.
Er übernahm Führungspositionen bei Philips und Getronics, war Berater und Partner bei McKinsey in Paris sowie Vorstandsvorsitzender des Mobilfunkunternehmens "debitel".
Heute agiert er als Unternehmensengel in mehreren Start-ups, ist Mitglied in Think Tanks und Autor. Seit 1974 lebt Rückert in Paris.
In seinem Buch "L'allemand qui parie sur la France" (2015) versucht er aufzuzeigen, wie Frankreich geführt werden müsste, um Erfolg zu haben.
Sein Buch "Courage. Ich wünsch' mir ein Europa, das begeistert" mit einem Vorwort von Jean-Claude Trichet und einem Beitrag von Joschka Fischer ist gerade im Dietz Verlag erschienen.
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