"MM"-Debatte

Steht der Westen vor dem Ende, Herr von Marschall ?

Die Deutschen sehen sich selbst gerne als Mustereuropäer. Doch sie müssen für die liberale Ordnung, von der sie profitieren, auch einstehen, sagt Christoph von Marschall. Ein Gastbeitrag.

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Christoph von Marschall
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© Getty Images/iStockphoto

US-Präsident Donald Trump kann einen Doppelerfolg feiern. Er hat seinen umstrittenen Kandidaten für das Oberste Gericht, Brett Kavanaugh, durch den Kongress gebracht. Und er hat Korrekturen des nordamerikanischen Freihandelsabkommens mit Kanada und Mexiko erreicht; sie kommen der Auto- und Stahlindustrie sowie den Farmern in den USA zugute. Diese Ziele gehörten zu seinen zentralen Wahlversprechen. Für viele Deutsche kommt dieser Ausgang überraschend. Hatten die US-Demokraten nicht den Eindruck erweckt, Trump werde mit den Anliegen voraussichtlich scheitern? War das nicht auch der Tenor in deutschen Medien: Trump sei im Abstieg?

Nun aber kommt es noch härter. Trumps Triumph verändert die Dynamik dreieinhalb Wochen vor der US-Kongresswahl. Bisher waren die Anhänger der Demokraten hoch motiviert, zur Wahl zu gehen; die der Republikaner weniger. Der erbitterte Streit um Richter Kavanaugh hat die Konservativen mobilisiert. Plötzlich ist es gar nicht mehr so sicher, dass die Demokraten die Mehrheit im Repräsentantenhaus erobern. Der Machtwechsel im Senat ist in weite Ferne gerückt.

Im Rückblick auf die zwei Jahre seit Trumps Wahl begehen die Demokraten in den USA und die Trump-Kritiker in Deutschland ganz ähnliche Fehler. Sie unterschätzen ihn und seinen Rückhalt in der Wählerschaft. Sie lassen sich in ihren Reaktionen von ihren ablehnenden Gefühlen leiten, statt die Lage nüchtern zu analysieren. Sie schüren falsche Erwartungen und lassen sich auf Kämpfe ein, die sie nicht gewinnen können. So machen sie Trump ungewollt starker.

Natürlich sind Trump, seine Politik und sein Umgangsstil ein Problem für die Demokratie und für die internationalen Beziehungen. Aber dieses Problem Trump hat eine Kehrseite: die Unfähigkeit des Gegenlagers, eine Strategie für den Umgang mit ihm zu entwickeln.

Was also sind die deutschen Interessen im Umgang mit Trumps Amerika? Deutschlands Erfolg beruht auf seiner Einbindung in den Westen. Die liberale Weltordnung ist die Grundlage seines Aufstiegs zum einflussreichsten Staat der EU und zur viertstärksten Wirtschaftsmacht der Erde. Sie ist auch dies Basis seines internationalen Ansehens. Dieses Deutschland wählen andere Staaten gerne in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.

Die liberale Ordnung ist nach einem verbrecherischen Krieg, den die Deutschen zu verantworten hatten, unter amerikanischer Führung entstanden. Zu ihr gehören die Vereinten Nationen mit ihren Unterorganisationen und der Charta der Menschenrechte, das Weltwährungssystem mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank als Entwicklungsagentur, die Welthandelsorganisation WTO, die den freien Handel zum Ziel hat und Regeln vorgibt, was ökonomisch erlaubt ist und was nicht; die Nato als Sicherheitsallianz und inzwischen vermehrt auch die EU; sie will sicherstellen, dass Europa vereinten Einfluss ausübt in einer Welt, in der das Gewicht einzelner Nationalstaaten dazu nicht mehr ausreicht.

Im Schutz dieses Systems konnten Demokratie und Rechtsstaat in der Bundesrepublik wachsen. Deutschland wurde Exportweltmeister, was es wiederum erlaubte, den Sozialstaat auszubauen und den sozialen Frieden zu sichern. Sind sich die Deutschen bewusst, wie sehr sie Nutznießer dieser Ordnung sind?

Wenn die Erhaltung der liberalen Ordnung so zentrale Bedeutung für die deutschen Interessen hat, müssten die nächsten Fragen lauten: Was kann Deutschland dafür tun? Mit wem muss es sich verbünden? Und wer sind die Gegner der liberalen Ordnung?

Trump ist beides: ein Verbündeter und in Einzelbereichen ein Gefährder. Das macht den Umgang mit ihm so schwierig. Er hat den Freihandel und die Nato in Frage gestellt. Er tritt aus dem Klimaabkommen und aus UN-Organisationen aus. Doch trotz seiner Drohungen hat er Polen, den Baltischen Staaten und anderen Nato-Staaten in Russlands Nachbarschaft eine Sicherheitsgarantie gegeben. Er sucht Wege, Nordkorea und dem Iran entgegen zu treten. Und er legt sich als Einziger mit China an, wenn die Mächtigen in Peking die Vorteile der liberalen Ordnung für ihre Interessen nutzen, ohne in gleicher Weise den chinesischen Markt und die chinesische Wirtschaft für westliche Firmen zu öffnen. In Frankreich wird Trump dafür gelobt, in Deutschland eher nicht.

Zudem: Was sind denn die Alternativen zum Bündnis mit den USA? Deutschland kann keine große neutrale Schweiz sein. Und: China und Russland werden die liberale Ordnung gewiss nicht verteidigen.

Das ist das Drama: Deutschland hat nicht gelernt, die Grundlagen seines Erfolgs aus eigener Kraft zu verteidigen. Die freien Handelswege und die Sicherheit garantieren andere. Die Deutschen tragen wenig dazu bei. Sie haben auch kein Rezept, wie Europa internationale Regelbrecher zwingt, die Ordnung zu respektieren. Unter Verbündeten gelten die Deutschen als Trittbrettfahrer. Die EU bietet wenig Hoffnung. Sie befindet sich in einer mindestens ebenso tiefen Krise wie die USA. Großbritannien möchte austreten. Polen und Ungarn wecken ernste Zweifel am Bestand von Demokratie und Rechtsstaat. Vielerorts gewinnen populistische Kräfte an Zulauf. Europa bewegt sich von einer Krise zur nächsten, ohne die vorherige nachhaltig zu lösen: Eurokrise, Migrationskrise, Krieg in der Ukraine …

Relativ früh in Trumps Amtszeit hat Bundeskanzlerin Merkel in einem Bierzelt in Bayern gesagt: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.“ Was hat sie dafür getan? Deutschland leistet sich die riskante Illusion, es könne weitermachen wie bisher. Denn, so argumentieren die Beharrungskräfte, es sei doch alles in allem erfolgreich und stabil. Die Risse in der gewohnten Ordnung zeigen sich anderswo. Folglich sollten sich die Anderen am deutschen Modell orientieren. Das ist noch immer die liebste Lebenslüge der Deutschen. Am Ende werden alle wie wir: demokratisch, freiheitsliebend, sozialstaatlich, pazifistisch, klimafreundlich.

Die Welt bewegt sich jedoch in eine andere Richtung. In Peking erhält Präsident Xi umfassende Vollmachten; er ist ein neuer Kaiser von China. In Russland baut Wladimir Putin den autoritären Staat aus; Andersdenkende werden ermordet und Nachbarn, die sich nicht unterordnen, mit Krieg überzogen. Die Türkei, die angeblich eben noch auf dem Weg zur Demokratie war, wird zur Autokratie.

Der amerikanische Kolumnist Robert Kagan beschreibt die Lage mit einem Bild aus der Natur: „The Jungle Grows Back“. Wenn niemand die liberale Ordnung wie ein Gärtner pflegt, kehren die Dschungelgesetze zurück: das Recht des Stärkeren, der Kampf ums Überleben.

Deutschland und Europa wären die Verlierer. Sie können sich weit weniger als die USA, China oder Russland in einer Dschungel-Welt behaupten. Die Lehre müsste lauten: Je weniger wir uns darauf verlassen können, dass andere die liberale Ordnung verteidigen, desto mehr müssen wir selbst tun. Entweder besinnen sich Deutschland und Europa darauf, dass die westlichen Demokratien in prinzipiellen Fragen zusammenstehen müssen und dass Amerika auch unter Trump mit all seinen Problemen und Konflikten weit mehr ein Verbündeter als ein Gegner ist – oder sie werden an Einfluss in der Welt verlieren. Und in der Folge auch ihren Wohlstand.

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Christoph von Marschall

Christoph von Marschall ist promovierter Historiker und Diplomatischer Korrespondent der Chefredaktion des „Tagesspiegel“. Von 2005 bis 2013 war er USA-Korrespondent der Zeitung.

2017/18 lebte er als erster Helmut-Schmidt-Fellow der Zeit-Stiftung und des German Marshall Fund in Washington, hatte Zugang zum Weißen Haus und sprach auch mit den Regierenden in Paris, Warschau und Brüssel. Darauf basiert sein neues Buch: „Wir verstehen die Welt nicht mehr. Deutschlands Entfremdung von seinen Freunden“, Herder Verlag 2018.

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"Die liberale Ordnung ist nach einem verbrecherischen Krieg unter amerikanischer Führung entstanden."

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