"MM"-Debatte

Spaltet Sprache unsere Gesellschaft, Herr Stefanowitsch?

Unsere Sprache sollte den Geschlechtern gerecht werden, fordert der Linguist Anatol Stefanowitsch. Ein Gastbeitrag – und ein Plädoyer für Moral.

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Anatol Stefanowitsch
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Wer spricht, handelt auch – und diskriminiert damit womöglich andere. © istock/ Bernd Wannenmacher/FU Berlin

Dass Frauen als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft behandelt werden, ist eine mühsame Errungenschaft der jüngeren Vergangenheit. Seit 120 Jahren dürfen sie Universitäten besuchen, seit 100 Jahren wählen, seit 40 Jahren dürfen sie ohne Erlaubnis ihres Ehemanns einen Arbeitsvertrag unterschreiben und in sehr engen Grenzen über ihren schwangeren Körper entscheiden.

Mit der sprachlichen Gleichberechtigung geht es noch schleppender voran. Zu Beginn der 1980er Jahre hat Luise Pusch in ihrem wegweisenden Aufsatz „Das Deutsche als Männersprache“ erstmals detailliert dargelegt, wie die deutsche Sprache Frauen systematisch versteckt – unter anderem durch das „generische“ Maskulinum, also die Tradition, männliche Pronomen und Personenbezeichnungen wie Kunde oder Kontoinhaber auch für geschlechtlich gemischte Gruppen zu verwenden. Vor ein paar Wochen – trotz 40 Jahren feministischer Sprachkritik – entschied der Bundesgerichtshof, dass Frauen dieses Versteckspiel akzeptieren müssen und keinen Anspruch darauf haben, etwa von ihrer Sparkasse als Kundin angesprochen zu werden.

Es ist diese Art sprachlicher Diskriminierung, gegen die sich die Verfechter/innen der sogenannten „politisch korrekten“ Sprache wenden. „Politisch korrekt“ ist dabei ein konservativer Kampfbegriff, der oft einhergeht mit Vorwürfen wie „Zensur“, „Denkverbot“ und „Moralaposteltum“.

Anders als diese überhitzte Rhetorik nahelegt, ist das Ziel der „politisch korrekten“ Sprachkritik eines, das eigentlich nicht kontrovers sein dürfte: ein Sprachgebrauch, der auf gegenseitiger Rücksichtnahme und Respekt beruht. Man könnte dieses Ziel tatsächlich als ein moralisches bezeichnen, beschrieben durch den Leitsatz „Behandle andere sprachlich so, wie du an ihrer Stelle sprachlich behandelt werden wolltest.“

Auf das „generische“ Maskulinum angewendet besagt diese sprachliche Version der Goldenen Regel, dass wir es nur dann verwenden dürften, wenn wir es umgekehrt akzeptieren würden, dass Männer durch weibliche Formen mitgemeint wären.

Dass diese Umkehr in der Sprachgemeinschaft keine breite Unterstützung hätte, zeigt sich aber unter anderem daran, dass explizit weibliche Berufsbezeichnungen abgeschafft werden, sobald Männer sich für ein Berufsfeld interessieren – aus Krankenschwester wird Krankenpfleger/in, aus Hebamme Geburtshelfer/in und so weiter. Da wir als Sprachgemeinschaft Männern kein „generisches Femininum“ zumuten, dürfen wir von Frauen also nicht verlangen, das „generische Maskulinum“ zu akzeptieren.

Diese praktisch-ethische Perspektive auf das Problem geschlechtergerechter Sprache ermöglicht es uns nicht nur, ihre Notwendigkeit zu begründen, sondern auch, Gegenargumente zu bewerten. Lassen wir die Angstphantasien vor Zensur und Denkverboten außen vor und betrachten drei vernünftigere Argumente, die häufig gegen die geschlechtergerechte Sprache ins Feld geführt werden.

Erstens: Geschlechtergerechte Sprache ist überflüssig. Begründet wird dieses Gegenargument damit, dass Personenbezeichnungen wie Kunde oder Leser nicht nur generisch verwendet würden, sondern dass sie tatsächlich geschlechtsneutral seien. Hergeleitet wird diese Behauptung mal sprachhistorisch, mal mit Mitteln der strukturalistischen Sprachwissenschaft. Ob diese Herleitungen mehr sind als ein Zirkelschluss – die Form muss geschlechtsneutral sein, da sie geschlechtsneutral verwendet wird – sei zunächst dahingestellt.

Die eigentliche Frage ist nämlich keine sprachwissenschaftliche, sondern eine moralische: Zählt wissenschaftliche Wahrheit mehr als die Diskriminierungserfahrung einer Gruppe?

Es kann Fälle geben, in denen das zu bejahen wäre – nämlich dann, wenn ein Ignorieren der Wahrheit seinerseits negative Konsequenzen hätte. Aber im Falle des generischen Maskulinums entstünde selbst dann kein Schaden, wenn wir es überflüssiger Weise durch geschlechtergerechte Formen ersetzten. Wenn wir es dagegen beibehalten, schaden wir damit denjenigen, die sich dadurch diskriminiert fühlen, auch dann, wenn sie mit ihrem Gefühl wissenschaftlich falsch lägen.

Damit ist klar, dass geschlechtergerechte Formen auch dann die bessere Alternative wären, wenn das Maskulinum tatsächlich geschlechtsneutral wäre. Allerdings zeigen psycholinguistische Studien, dass das gar nicht der Fall ist – das Maskulinum wird, egal, was Sprachgeschichte und Grammatiktheorie sagen, immer zunächst männlich interpretiert.

Zweitens: Geschlechtergerechtes Formulieren erschwert es, Texte zu verfassen und zu verstehen. Begründet wird dieses Argument mit einem Bauchgefühl, das aus sprachwissenschaftlicher Sicht in Teilen bezweifelt werden muss: Stand der Forschung ist, dass das Textverständnis durch verschiedene Formen des „Genderns“ nicht negativ beeinflusst wird. Aber auch hier geht es nicht um eine wissenschaftliche, sondern um eine moralische Frage: Dürfen wir von der Sprachgemeinschaft insgesamt einen zusätzlichen Aufwand verlangen, um die Diskriminierung einer bestimmten Gruppe innerhalb der Gemeinschaft zu vermeiden?

So formuliert beantwortet sich die Frage von selbst: Gerechtigkeit ist wichtiger als Bequemlichkeit. Wir sind uns heute einig, dass Frauen das gleiche Recht auf Bildung und politische Teilhabe haben wie Männer. Wir würden deshalb niemanden ernst nehmen, der Frauen mit dem Hinweis auf den zusätzlichen Aufwand bei der Korrektur von Klausuren oder der Auszählung von Stimmzetteln vom Universitätsstudium ausschließen oder ihnen das Wahlrecht entziehen wollte. Wenn wir glauben, dass Frauen dasselbe Recht auf sprachliche Sichtbarkeit haben wie Männer – und ich sehe nicht, auf welcher Grundlage das anzuweifeln wäre – können wir auch hier den zusätzlichen sprachlichen Aufwand nicht als Gegenargument gelten lassen.

Drittens: Geschlechtergerechte Sprache ist ihrerseits diskriminierend, da sie Menschen ausschließt, die nicht in der Lage sind, sie zu verwenden. Dieses Gegenargument nimmt oft Bezug auf Menschen mit geringer Bildung oder mit kognitiven Einschränkungen. Das Argument ist ernst zu nehmen, da es uns vor die Frage stellt, welche Diskriminierung schwerer wöge – die sprachliche Unsichtbarkeit von Frauen oder der Ausschluss ungebildeter oder kognitiv eingeschränkter Menschen. Die Rechte dieser Gruppen direkt gegeneinander abzuwägen ist wenig aussichtsreich. Stattdessen wäre zu prüfen, inwieweit sich ihre Interessen in Einklang bringen lassen.

Bei der ersten Gruppe ist die Lösung offensichtlich: Wir müssen allen Menschen eine ausreichend hohe Bildung vermitteln, um geschlechtergerechte Sprache zu verwenden. Glücklicherweise ist das kein allzu hehres Ziel: Schrägstrich- und Doppelformen sowie die ethischen Argumente für ihre Verwendung sind deutlich weniger kompliziert als die Kommaregeln des Deutschen, eine mittlere Schulbildung müsste also ausreichen. Bei der zweiten Gruppe ist der Interessenausgleich schwieriger: Sollte es tatsächlich Menschen geben, die durch geschlechtergerechte Formen grundsätzlich überfordert sind, ist es wohl das geringere Übel, in Texten für diese Gruppe ausnahmsweise das gegnerische Maskulinum zu verwenden.

Gerade, um Grenzen „politisch korrekter“ Sprache sinnvoll diskutieren zu können, ist es also hilfreich, sie als moralisches Problem zu verstehen – ohne Aposteltum, nicht in Form von Regelwerken, sondern als Denkanstoß.

Die Goldene Regel zeigt auch, wie bescheiden die Forderung ist, als Kundin oder Kontoinhaberin bezeichnet zu werden. Denn die Nachsilbe „-in“ leitet die weibliche Form ja aus der männlichen ab und stellt den Mann symbolisch als Normalfall dar.

Es ist kaum vorstellbar, dass Männer sich das umgekehrt gefallen lassen würden. Es wäre ja auch möglich, um einen Vorschlag von Luise Pusch aufzugreifen, männliche Personenbezeichnungen mit der Nachsilbe „-erich“ aus weiblichen abzuleiten (zum Beispiel Krankenschwesterich oder Hebammerich).

Dass das höchstens in humoristischer Absicht geschieht, lädt zur Frage ein, ob wir nicht zu viel radikaleren Lösungen greifen müssten – etwa den geschlechtsneutralen x-Formen von Lann Hornscheidt (Kundx, Kontoinhabx) oder einer symmetrischen Ableitung von männlichen und weiblichen Formen aus dem Wortstamm, indem wir zum Beispiel die indo-europäischen Nachsilben -o (männlich) und -a (weiblich) aus dem Spanischen entlehnen und vom Kundo und der Kunda sprechen (im Althochdeutschen gab es diese Endungen schließlich auch noch).

Im Vergleich zu solchen radikalen, aber letztlich nur konsequenten Vorschlägen ist die Verwendung von Doppelformen, Schrägstrichen oder geschlechtsneutralen Partizipien (Kontoinhabende) eine wenig aufwendige Sprachgewohnheit, die genau so selbstverständlich sein sollte wie das allgemeine Wahlrecht.

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Anatol Stefanowitsch

Prof. Dr. Anatol Stefanowitsch, 1970 in Berlin geboren, ist Sprachwissenschaftler an der Freien Universität Berlin. Zudem schreibt er als Wissenschaftsblogger über Sprachpolitik und sprachliche Diskriminierung.

Seine Streitschrift „Eine Frage der Moral. Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist vor kurzem im Dudenverlag erschienen.

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